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Anita – Tänze des Lasters

 

 

„Diese Zitrone hat noch viel Saft”

 

„Die ganze Welt ist nur ein Arsch

und wir sind seine Fürze

ein jeder stinkt auf seine Art,

das gibt dem Leben Würze

und da das nun einmal so ist,

pass auf, dass dir keiner in die Suppe pisst

und fall nicht in die Pfütze,

Mut ist die größte Stütze,

und fall nicht in die Pfütze,

Mut ist die größte Stütze.“

(Lotti Huber)

 

Was wäre wenn … ? Da stolpert eine Frau, anscheinend sich gegen Anfeindungen wehrend, durch Berlin und protestiert: „Ich bin eine Künstlerin und keine Nutte.” Mitten im Einkaufsrummel erregt sie Aufsehen, tanzt, schwingt über den Ku’damm und entblößt ihren Hintern. Frau Kutowski, gespielt von der unvergesslichen, vielen aber gar nicht bekannten Lotti Huber (1912-1998), ist mehr als rundlich. Ihre krausen, langen Haare trägt sie entweder zusammen geschnürt zu einem „Turban” oder sie wallen über ihre Schultern. Frau Kutowski ist gar nicht Frau Kutowski. Sie ist Anita Berber, die bekannte, begehrte Tänzerin der 20er Jahre (im Film als junge Frau schön dekadent gespielt von Ina Blum), DIE Tänzerin im Berlin der Lebenslust, des Lasters und der Sinnenfreuden – das behauptet die Kutowski wenigstens.

 

Die Passanten allerdings sind entsetzt, empört, wie das bei Passanten oft der Fall ist, wenn in ihren Alltag und ihre „Normalität” etwas einbricht, was sie nicht verstehen. Schnell ist die Polizei da und noch schneller findet sich Frau Kutowski alias Anita Berber in der Klapse wieder. Wer kennt dort schon Anita Berber? Und selbst wenn: Anita Berber war am 28. November 1928 in Berlin gestorben – am Laster, an der Ausschweifung, am Alkohol und am Kokain, sagen die Leute. 29 Jahre alt war sie gerade mal geworden. Also kann Frau Kutowski nicht Anita Berber sein.

 

Doch für Rosa von Praunheim, den Skandalumwobenen, der mit „Die Bettwurst” und „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt” 1970 eine kleinbürgerliche Welt in ihren Grundfesten und in ihrem Glauben an „das Normale” erschütterte, ist Frau Kutowski Frau Berber. Und ein bisschen ist auch Lotti Huber Anita Berber.

 

„Anita – Tänze des Lasters” spielt mit dieser Verwechslung, Identifizierung und der Distanzierung der grauen – folgerichtig auch in Schwarz-Weiß, vor allem Grau gefilmten – Gegenwart gegen die bunte, lasterhafte Vergangenheit. Neben einer, die sich für Rosa Luxemburg hält (Eva-Maria Kurz), einem religiös-fanatischen Patienten (Friedrich Steinhauer) und etlichen anderen gibt Frau Kutowski/Berber jedoch nicht etwa auf. Nein, sie reimt, schreit, lacht, und dreht den Ärzten und Psychologen, Schwestern und Pflegern das Wort im Mund herum, damit es passt – zu ihrer Situation. Und uns passt das auch vorzüglich.

 

Letztlich ist es völlig gleichgültig, ob sie nun die Kutowski ist oder die Berber – oder die Huber. Sie lebt als Anita. Und Rosa von Praunheim wechselt zwischen dem eintönigen Grau der psychiatrischen Gegenwart und dem farbenprallen erinnerten Vergangenen der 20er Jahre. „Anita – Tänze des Lasters” ist auch die Lebensgeschichte der Anita Berber, die 1916, mitten im ersten Weltkrieg, ihre kurze Karriere als femme fatale und Tänzerin begann. Berühmt wurde die Berber vor allem durch ihre Nackttänze in den großen Vergnügungspalästen Berlins, durch einige Rollen in Filmen, wie Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler” oder auch in dem Stummfilm „Der Graf von Cagliostro” von Richard Oswald. Sie feierte den Ausdruckstanz, der nur noch wenig mit dem klassischen Tanz zu tun hatte, und wurde groß in der Inflation, im Berlin der Schieber und Prostituierten, das Stefan Zweig „das Babel der Welt” nannte.

 

Die Leute gingen hin – und gleichzeitig geiferte, tobte oder frohlockte die Presse (je nach Gusto) von Anita Berber als personifiziertem Ausdruck des Lasters, denn sie verband Ausdruckstanz, Pornographie, Kunst und Striptease zu einer künstlerisch neuen Form der Darbietung. Gemeinsam mit Sebastian Droste (im Film Mikael Honesseau, der auch einen Arzt in der Psychiatrie spielt), ihrem zweiten Ehemann, entstanden Choreographien wie „Die Tänze des Grauens, des Lasters und der Ekstase” und „Cocain” (1).

 

Von Praunheim zeigt dieses Leben in erinnerten Rückblicken der Kutowski in Art eines Stummfilms mit Zwischentexten und einer exzellenten, aufwühlenden und äußerst sympathischen Musik von Konrad Elfers. Wie in den Bildern von Otto Dix, der die Berber in eng anliegendem roten Kleid malte, zeigt er in dem Betrachter mal hautnahen, mal in verzerrt wirkenden, knallbunten Bildern die Atmosphäre des Varietés, zwischen Transvestiten, Nackttänzerinnen, Gaunern, Prostituierten und Lebemännern, die Frivolität und Dekadenz, aber auch die Doppelmoral des Milieus, den Zynismus der Berber und den Zerfall dieser außergewöhnlichen Frau. All diese erinnerten Rückblicke sind selbst in Form eines Varietés inszeniert, was der biografischen Erzählung eine besondere Note gibt. Von Praunheim benötigt kaum Dialoge (lediglich ab und an Zwischentexte), die Bilder, der Tanz, die Gesichter, die Bewegungen, das Halbdunkel des Milieus sagen alles.

 

Wechsel in die Psychiatrie: Lotti Huber alias Frau Kutowski alias Anita wird zur Psychiaterin (Hannelene Limpach, die das Drehbuch mit verfasste) gebracht und wundert sich über die gähnende Leere des Raums, die Trostlosigkeit, die hier herrscht. Die Psychiaterin hat keine Chance bei Frau Kutowski. Irgendwann sitzt letztere auf dem Schoß der Ärztin und sagt: „Fummel doch nicht immer an meiner Seele herum. Fummel doch mal an was anderem rum.” Lotti Hubers Frau Kutowski füllt jeden Raum in dieser Psychiatrie mit Leben, mit Anzüglichem, ja mit Erotischem, mit Zynischem und Enthüllendem, mit Lebensfreude, etwa wenn sie ihre Mit-Patienten zum Tanz auffordert und sie ihr folgen. Frau Kutowski nimmt Raum, und als die Ärzte am Schluss denken, sie sei gestorben, ist dies auch nur ein Treppenwitz. Sie fällt in Ohnmacht, als die Schwester (ebenfalls gespielt von Ina Blum) sie fragt, warum sie ausgerechnet Anita Berber sein wolle – und nicht Inge Meysel. Und dann steht diese Frau, Anita-Lotti-Kutowski wieder auf und geht hinaus aus der Anstalt.

 

Keine von ihnen wird jemals aussterben, auch wenn sie gestorben sind.

 

 

• D V D •

 

DVD 9, PAL (codefree)

Bildformat: 1: 1,66

 

Bei absolut MEDIEN, die auch schon von Praunheims „Die Bettwurst” auf DVD herausbrachte, ist vor kurzem der Film auf DVD erschienen (Preis derzeit: € 24,90). Und nicht nur der Film hat es in sich. Mit Bild und Ton kann man vollauf zufrieden sein. Besonders in den Varietészenen, in den Szenen aus den 20er Jahren, überzeugt die DVD, weil trotz Dunkel und Halbdunkel nichts verborgen bleibt. Die Szenen aus der Psychiatrie sind offenbar absichtlich durch von Praunheim in einem fast schon grobkörnigem Grau gehalten, das sehr an Filme aus den 60er Jahren erinnert.

 

Das Bonmot der DVD-Extras (neben einem Infotext: Rosa über Lotti) ist die 71 Minuten lange Filmbiografie „Ein wenig über … Lotti Huber” mit Ausschnitten aus ihrer Revue „Schlagsahme der Illusion” (Aufführungen vom 1. und 2.3.1985) und aus den Filmen von Praunheims „Affengeil”, „Unsere Leichen leben noch” und „Horror Vacui”, in denen Lotti Huber spielte. In dieser exzellenter Biografie wurde auch unterveröffentlichtes Material aus Rosa von Praunheims Archiv verwendet. In Interviews äußern sich u.a. der Regisseur, Lotti Hubers Managerin Monika Tavaris, ein Mitglied aus Lotti Hubers Tanzgruppe sowie ihr späterer Mitarbeiter und Todbegleiter Thomas Novotny.

 

Von Praunheim hatte Lotti Huber 1980 kennen gelernt. Beide verband eine enge Freundschaft, ja Liebe, Auseinandersetzung, Film und Kunst. Der Film blickt zurück auf ein bewegtes Leben der Lotti Huber, ihre Ehen, ihre Kunst, ihren Tanz, ihre kabarettistische und frivole Leidenschaft, aber auch ihr Leiden (sie hatte das Glück, aus einem KZ freigekauft zu werden) – und sie zeigt vor allem die Lotti Huber der 80er und 90er Jahre. Durch diese Reminiszenz an eine großartige Frau erhält die DVD sozusagen „doppelten Wert”.

 

Wertung Film und DVD: 10 von 10 Punkten.

 

Ulrich Behrens

 

Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:  Ulrich Behrens bei ciao.de

 

(1) Zu Anita Berber vgl. u.a.:

http://www.lespress.de/072003/texte072003/zeitreise.html   

http://www.anita-berber.de/index.html    

 

Informationen unter: http://www.absolutmedien.de   

 

Das Zitat in der Überschrift stammt von Lotti Huber und bezieht sich auf sie selbst.

 

Anita – Tänze des Lasters

Deutschland 1987, 89 Minuten

Regie: Rosa von Praunheim

Drehbuch: Marianne Enzensberger, Lotti Huber, Hannelene Limpach, Rosa von Praunheim

Musik: Konrad Elfers

Director of Photography: Elfi Mikesch

Montage: Mike Shephard, Rosa von Praunheim

Produktionsdesign: Inge Stiborski

Darsteller: Lotti Huber (Frau Kutowski / Anita Berber), Ina Blum (Krankenschwester / Anita Berber), Mikael Honesseau (Arzt / Sebastian Droste), Hannelene Limpach (Psychiaterin), Eva-Maria Kurz (Patientin / Rosa Luxemburg), Friedrich Steinhauer (religiös-fanatischer Patient)

Internet Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0092568    

 

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