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Amorosa

 

Ein Unikum, der neue Film von Mai Zetterling. Gedreht für das schwedische Fernsehen, stelzt er als aufgetakeltes Fernsehspiel daher, im Stil der bekannten Familiensaga, bunt, aufwendig, pompös und bald schon wieder komisch. Aber dann, wenn man sich zum wiederholten Mal die Augen gerieben hat, weils doch nicht wahr sein darf: Mai Zetterling, die schon legendäre Größe des schwedischen Films, 1944 ihre erste, unvergessene Rolle in Sjöbergs HETS; 1968, mit der Regie für FLICKORNA, etablierte sie das Genre des feministischen Films; 1963 hatte sie in Venedig mit WAR GAMES, einem Dokumentarspielfilm, den Preis für den besten Kurzfilm gewonnen – Also: gerade dann, wenn man der Zetterling die AMOROSA nicht mehr glauben mag, dann passiert es: böse Einbrüche in die heile Familien- und Fernsehwelt. Unvermittelt und reichlich unverfroren schafft sich eine andere Geschichte Platz, die Kamera wird zügellos, subjektiv und sucht sich den Blick durch die Zerrlinse. Ist der Schub vorüber, ist alles wie gehabt, brav und TV-like. Und jetzt reibt man sich wieder die Augen: war das wahr, was man da eben gesehen hat?

 

Wahr ist die Geschichte der Agnes von Krusenstjerna, der großen, skandalurnwitterten Schriftstellerin aus dem schwedischen Växjö. Der Film beginnt mit dem Jahr 1913. Agnes ist 19 Jahre alt und noch versöhnt mit dem feudalen Leben von Adel und Großbürgertum. Auch ihre Sexualität ist noch nicht entdeckt. Drum dampft im Film Elvdalen, das Museumsschiff, mit einer prächtigen Bilderbuchrauchfahne durch den Mittsommersee. Auf Deck arrangiert sich die Familie zu bildgerechten Fotoposen; in der Krebstafel wird geschmaust, die Requisite hat nichts fehlen lassen; Ziehharmonikafolklore; der Dudelsack wird gequetscht und dazu Trompete geblasen. Das kann nicht gutgehen. Im Kaltwassersee fragt ein Mädchen das andere: „Küßt du mich wie ein Mann?" Und Adolf und Gerhard, die Liebhaber, tun sich einen großen Ring ins Ohr und schließen sich zusammen ein. Aus ist es da mit dem Kitsch und dem Kunstgewerbe, der Hand, die ins Wasser taucht, den Seerosen, die keines Menschen Hand berührt. Jäh kommt ins Bild ein verschnürter Körper, an den Füßen aufgehängt im nächsten Baum.

 

Ein Bauch klappt auf, und Gedärme stürzen ins Bild – oder war es ein Embryo? War es wirklich nur das Faltblatt aus dem Gesundheitslexikon? Als wenn nichts gewesen wäre, brennen die Kerzen wieder am festlich geschmückten Weihnachtsbaum. Ein geradezu penetrantes Kitschbild, lästig und perfid-prüde. Die Normalo-TV-Familien-Idylle scheint jetzt nur noch den Zweck zu haben, den Einblick in die real existierenden Verhältnisse abzuschirmen. „Ihr Normalen weigert euch zu verstehen!", klagt Agnes von Krusenstjerna dazu im Filmdialog an.

 

Mai Zetterling legt, ihrer Protagonistin folgend, die Normalität bloß: die Normalität des Familienserien-Bildes. Agnes von Krusenstjerna durchbrach das Pathos der Familiensaga, indem sie für ihre (und eventuell noch unsere) Zeit schockierend über Homosexualität, Inzestphantasien, perverse Spiele und Geisteskrankheit in ihrer Gesellschaftsschicht schrieb. Mai Zetterling bringt unvermittelt Spiel, verdrehtes Spiel, in den glatten Ablauf des Familienplots. Wie wahnsinnig fährt die Kamera durch ein Pornokabinett: Frauen, ein Glatzkopf, eine Vergewaltigung auf dem Tisch und am exotischsten: eine Hausfrau am Bügelbrett.

 

Freilich hat die Regie sich abgesichert. Denn der Dialog hat eingeführt, was auch die historische Wahrheit ist, daß die schwedische Dichterin von ihrem Mann, dem 14 Jahre Älteren, mit Morphium versorgt wurde. Und daß er nicht nur ihr Manager, ihr Pfleger, sondern auch bekannter Pornografiesammler und Erotikaübersetzer war. „Die Perversitäten hat mein Mann in meine Manuskripte reingeschrieben, damit sie sich besser verkaufen!" Das sagt allerdings im Film Agnes von Krusenstjerna während eines schizophrenen oder doch deutlichen psychotischen Schubs, so daß wir nun gar nicht mehr wissen, was wir davon halten sollen.

 

Ziemlich ambivalent zieht sich der Film vom brüchigen Boden der schwedischen Upper Class zurück und sucht sein Heil in Venedig, nämlich in delirierenden Bildern vom Karneval. Das ist zwar auch wieder die reine Wahrheit, weil Agnes von Krusenstjerna dort 1935 endgültig ausflippte, aber doch zu guter Letzt wieder arg TV-mäßig und pathetisches Finale. So und nicht viel anders enden Bestseller. Und eben solche hat Agnes von Krusenstjerna zeitlebens (1894-1940) geschrieben.

 

Dietrich Kuhlbrodt

 

Dieser Film ist zuerst erschienen in: epd Film 11/87

 

Amorosa

AMOROSA

Schweden 1986. R und B: Mai Zetterling. K: Rune Ericson, Mischa Gavrgusov. Sch: Darek Hodor, Mai Zetterling. M: Roger Wallis. T: Folke Beck-Remnes, Asa Lindgren. A: Jan Oqvist. Ko: Gerti Lindgren, Kerstin Lokrantz. Pg: Sandrew-Film. Gl: Brita Werkmäster. V: FiFiGe. L: 117 Min. St: 22.10.1987. D: Stina Ekblad (Agnes von Krusenstjerna), Erland Josephson (David Sprengel), Philip Zanden (Adolf von Krusenstjerna), Peter Schildt (Gerhard Odencrantz), Olof Thunberg (Ernst von Krusenstjerna), Catherine de Seynes (Eva von Krusenstjerna), Lauritz Falk (Hugo Hamilton).

 

 

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