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All
out
Thomas
Koerfer, einst angetreten, mit dem Schausteller-Film das Theater Brechts fortzusetzen
(DER GEHÜLFE, 1976), setzt jetzt mit dem Illusions-Film ALL OUT auf alles,
was im Kino derzeit Mode ist. Sein letztes Werk ist ein routiniert inszeniertes
Konglomerat von Road Movie, Thriller, Action-, Gangsterund Liebesfilm, aber
es fehlen auch nicht Anklänge an den Wirtschaftskrimi (DIE DOLLARFALLE
hatte Koerfer 1987 gedreht), an den Problemfilm (ethnische Minderheiten, soziale
Abhängigkeit) und vor allem an das, was die Fernsehanstalten heute als
Schicksalsfilm verkaufen. Zum Ende wird der Film grandios-poetisch und Meister-Kitsch
aller erster Klasse.
Je
üppiger das Mahl wird, das Koerfer mit ALL OUT angerichtet hat, destoweniger
läßt es sich genießen. Im Laufe des Films verliert man sogar
das Interesse an den ersten Szenen, in denen die kraftvolle, präzise Beschreibung
von Personen und Situationen imponierte. In der Zürcher Bahnhofsstraße
nimmt Junggangster Angelo (der intensive Dexter Fletcher) die Bankpräsidententochter
Julia (die bläßliche Fabienne Babe) als Geisel. Auf der Flucht nach
Genua lernen sie sich lieben, was die Darstellung sexueller Praktiken wie des
Urintrinkens erfordert. Schnell emanzipiert sich Julia, legt die doppelt passive
Rolle von Frau und Opfer ab, fesselt den Geliebten ans Bett und foltert ihn
mit einem spitzen Messer. Unversehens erleidet sie, die schon ein Kind unter
dem Herzen trägt, eine Blutung. Gefügig wischt ihr Angelo das Blut
vom Bauch, und beide stehen vor der Frage: abtreiben oder nicht? Doch sind noch
mehr Probleme zu lösen. Was wird mit dem Rauschgifttransport? Wie andersartig
ist die Kultur farbiger
Asylanten?
Und was ist eigentlich aus der Rolle des Paul geworden, dieses miesen Kumpels
(Uwe Ochsenknecht)? – So viele ungelöste Fragen schreien nach einer befreienden
Tat. Endlich hat Julia Angelos Wahrheit begriffen (ā€˛Meine einzige Chance zu
töten"), und sie richtet die Faustfeuerwaffe auf den Bankpräsidenten,
den eigenen Vater, der eigens zum Shodown herbeigeeilt ist …
Die
wüste Kolportage ist auf das Edelste zugerichtet. Die Szenen sind hochdifferenziert
und gepflegt ausgeleuchtet. Große Sorgfalt ist auf den Handlungsfaktor
Geräusch gelegt. Erzählt wird durch die Montage des Films, die Dialoge
sind wenig explizit. Momente der Stille, der anhaltenden Totalen, sind nicht
vergessen. Die Schauspieler sind vorzüglich geführt. Die Ausstattung
ist liebevoll; sie trägt zur unerhörten Präsenz des Films vor
allem im ersten Teil bei. Auch die Locations (gern leerstehende, sanierungsbedürftige
Miet- und Gutshäuser) sind kongenial ausgesucht. Die Fotografie ist eindeutig
schön, und ALL OUT ist ein ebenso eindeutig filmischer Film. Aber kann
man darüber das gnadenlos überfressene Drehbuch (ebenfalls: Thomas
Koerfer) vergessen?
Sollte
Koerfer der Illusion verfallen sein, daß die unbestreitbare Virtuosität
seiner FilmKunst bereits die Message sei, hätten wir den Verlust eines
Freundes zu beklagen, der etwas zu sagen hatte. Der Alexander-Kluge-Schüler
Koerfer hatte seine Karriere mit einer Kritik am faschistoiden Forstschrittglauben
und an der illusionären Freiheit der Bühne begonnen (DER TOD DES FLOHZIRKUSDIREKTORS
ODER OTTOCARO WEISS REFORMIERT SEINE FIRMA, 1972/73). Im GEHÜLFEN zeichnete
er das Porträt eines der Arbeiterklasse entfremdeten Angestellten, der
zwischen Subordination und Machtteilnahme schwankt (1976). Im Essayfilm ALZIRE
ODER DER NEUE KONTINENT (1977/78) führte er den damals aktuellen politischen
Kurs auf die Aufklärer Voltaire und Rousseau zurück. Noch in GLUT
(1983) kritisierte er die Anpassungsbereitschaft der Schweizer Großbourgeoisie
an den faschistischen Zeitgeist. Wie sich mit der DOLLARFALLE (1987) schon abzeichnete,
hat Koerfer inzwischen die eigene Wahl zwischen Kritik und Anpassung getroffen.
Mit der kritischen Zeit ist es aus – in ALL OUT.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: epd film
7/91
ALL
OUT
Schweiz/BRD/Frankreich
1990. R,B,P: Thomas Koerfer. K: Lukas Strebel. Sch: Nicole Lubtschansky. M:
Jean-Claude Petit. T:
Jürg von Allmen. A:
Hans Gloor. Ko:
Monica Schmid. Pg:
Thomas Kcerfer Film/StellaFilm/Crocodile Productions. V:
Delta. L: 105 Min. St: 11.7.1991. D: Dexter Fletcher (Angelo), Fabienne Babe
(Julia), Uwe Ochsenknecht (Paul), Paolo de Giorgio (Ciccio), Michel Voita (Robert
Brunner), Peter Fitz (Schnyder), Anna Recchimuzzi (Wirtin).
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