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Alle
Kinder dieser Welt
Kein Gefühl
von Welt
Das unerreichte Vorbild ist der italienische Neorealismus:
Im Omnibusfilm "Alle Kinder dieser Welt", zu dem namhafte Regisseure
wie Spike Lee, Emir Kusturica und Ridley Scott Episoden beigesteuert haben,
geht es um Kinderarmut und -elend
Es gibt Ideen, die sind einfach zu gut. Zum Beispiel
die, namhafte Regisseure dieser Welt dazu zu bringen, bei einem Filmprojekt
mitzumachen, das die Not der Kinder dieser Welt anklagt. Der englische Originaltitel
"All the Invisible Children" drückt aus, worum es geht: Die "unsichtbaren"
Kinder sollen in den Blick der Öffentlichkeit gerückt werden, auf
dass diese etwas tut zur Verbesserung der Lage, mindestens aber Geld spendet
an Unicef und weitere Institutionen, an die der Wohlstandsbürger die Verbesserung
der Welt delegiert. Was die Initianten nicht berücksichtigt haben – sie
sind wohl einfach zu gutherzig für solche Doppeldeutigkeiten -, ist die
Tatsache, dass eben dieser Wohlstandsbürger ein zwiespältiges Verhältnis
zu den "unsichtbaren" Kindern unterhält. Meist ist er von klein
auf mit ihrem Beispiel zu Wohlverhalten ermahnt worden, hat aufgegessen, weil
sie hungern, sich demonstrativ über Dinge gefreut, die sie nie haben werden.
"Unsichtbar" ist das Kinderelend nicht aus Mangel an Wissen, sondern
weil es verdrängt wird.
Um gegen diese hartnäckige Verdrängung
anzugehen, die eben auch eine Abwehr gegen Gefühlsmanipulation ist, müsste
man allerdings noch eine bessere Idee haben als die, sieben Filmemacher einen
Kurzfilm drehen zu lassen. Denn das Erstaunliche an diesem "Omnibusfilm"
ist: Kaum eine der Geschichten bleibt im Gedächtnis haften. Gäbe es
nicht die Möglichkeit, die einzelnen Teile auf die Handschrift so großer
Namen wie Ridley Scott, Spike Lee, John Woo und Emir Kusturica hin zu untersuchen,
würden die angeschnittenen Themen augenblicklich wieder vergessen.
Auflage für alle sieben war es, eine Geschichte
im eigenen Heimatland zu drehen. Entstanden ist daraus aber kein Gefühl
von Welt, sondern eine Liste bekannter Elendsthemen: "Tanza" des algerischen
Schriftstellers und Regisseurs Mehdi Charef beschäftigt sich mit Kindersoldaten.
Seine Darstellung von Kindern mit Waffen in der Wildnis ist so wildromantisch
wie traurig und lässt einen vorhersehbar ratlos zurück. In Emir Kusturicas
Beitrag "Blue Gypsy" geht es um Kinderkriminalität: Der kleine
Uros wird aus der Jugendstrafanstalt in die Freiheit entlassen, was für
ihn bedeutet: in die Sklaverei, denn er muss für die Bande seines Onkels
anschaffen. Der serbische Regisseur verleiht seinem Film den typischen Kusturica-Touch,
der von der Subtilität eines Paukenschlags ist. Wen die skurrile Üppigkeit
schon länger nervt, muss hier fest Augen und Ohren verschließen,
die anderen können den immerhin konsequent unsentimentalen Umgang mit dem
Thema genießen.
Bei Stefano Venerusos Film "Ciro", der
zwei kleine Diebe porträtiert, wird deutlich, dass das große und
unerreichte Vorbild dieses cineastischen Engagements der italienische Neorealismus
bleibt. Tatsächlich gelingt der Brasilianerin Katia Lund in ihrem Beitrag
"Bilu und João" eine Art Hommage an den Zauber dieser Filme:
Sie folgt zwei Kindern beim "Wertstoffsammeln" in der Großstadt.
Das Straßenleben mit seinen wechselnden Sphären und Stimmungen wird
durch die Augen der hilflosen, aber sich durchschlagenden Kinder betrachtet.
Manchmal überschreitet Lund dabei mit ihren heißen Umschwüngen
von unverdientem Unglück zum kleinen gehüteten Glück die Grenze
zur Armutsromantik.
Spike Lee unterläuft das nicht. In "Jesus
Children of America" geht es um Blanca, eine hübsche, intelligente
12-Jährige von auffallender Fragilität. Behutsam, als hätte er
90 statt nur zehn Minuten Zeit, zeigt Lee Blanca beim Zickenkampf in der Schule
und dann zu Hause bei den Eltern. Beide sind Junkies, trotzdem versuchen sie
einen prekären Alltag des Behütetseins für ihre Tochter aufrechtzuerhalten.
Bevor Blanca es erfährt, hat der Zuschauer längst begriffen: Alle
drei sind HIV-positiv. Wie das Mädchen dieser Tatsache schließlich
ins Auge blickt, das gehört zu den nicht so leicht zu vergessenden Momenten
des Films.
Ridley Scotts Beitrag "Jonathan", den er
zusammen mit seiner Tochter Jordan Scott realisiert hat, bleibt dagegen nur
deshalb im Gedächtnis, weil er von einem Erwachsenen handelt: Ein Photoreporter
erinnert sich an erlebte Kriegszeiten. Und John Woos "Song song and Little
Cat" schließlich illustriert nach allen Regeln des Melodramas den
Gegensatz von Armut der Mittel und Armut der Gefühle: Ein kleines Mädchen
wird von einem Obdachlosen gefunden und liebevoll aufgezogen, parallel dazu
sieht man das poor little rich girl, dessen Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt
sind. Da schaut es dann unglücklich aus dem Autofenster, das reiche Mädchen,
und wird vom Lächeln des armen Mädchens getröstet. Oder ist das
wieder die Urszene der Wohlstandserziehung: Sei froh an dem, was du hast?
Barbara Schweizerhof
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: taz
Alle
Kinder dieser Welt
Italien
2005 – Originaltitel: All the Invisible Children – Regie: Mehdi Charef, Emir
Kusturica, Spike Lee, Kátia Lund, Jordan Scott, Ridley Scott, Stefano
Veneruso, John Woo – Darsteller: Francisco Anawake – Prädikat: besonders
wertvoll – Länge: 116 min. – Start: 13.4.2006
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