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Alive
& Kicking – Jetzt erst recht!
In
Locarno hieß der Film noch Indian
Summer.
Jetzt hat er den „Simple Minds"-Titel plus deutschem Zusatz, und das ist
gar nicht schlecht, weil sich dadurch jeder ausrechnen kann, daß ihn eine
larmoyant-therapeutisch-komödieske Beziehungsgeschichte erwartet. Der Held,
schwuler Ballettänzer, kriegt Aids. Außerdem mehren sich bei der
Chefin der Truppe die Alzheimer-Symptome. Was nun? Gefordert sind die Tanz-
und Beziehungspartner. Sie posieren malerisch vor den Erkrankten, lächeln
süß in die Kamera und bilden ein dichtes Beziehungsnetz, welches
emotionale Abstürze erfolgreich auffängt. Die Premiere absolviert
unser Held im Rollstuhl, er muß auf vielen Händen getragen werden.
Eine Überblendungsorgie bedeutet uns das Übermaß, das hier Mut
macht. Und damit nicht genug, rafft sich der Film zum Schluß zur ersten
und einzigen Totalen auf die ganze Stadt auf: Alle können jetzt sehen,
wie erfolgreich die Therapie war. Der Held joggt im Park.
Die
menschenfreundliche Regisseurin Nancy Meckler (Sister
my Sister,
1994) läßt nichts unversucht, das positive, Mut machende Grundgefühl
in heilen, heiteren, heimatlichen Bildern zu finden. Die Heilmittel sind jedoch
deutlich überdosiert – das äußert sich in einem penetranten
Overacting der Darsteller. Da wird gestrahlt, dauergelächelt und bis zum
Exzeß Sympathie verströmt. Selbst wenn unserem tapferen Helden, der
gerade die Asche eines Aidstoten ausstreuen möchte, dank einer plötzlichen
Böe der Staub ins Gesicht weht, lächelt er, wiewohl etwas säuerlich.
Dies ist meine liebste, sicherlich ungeplante Einstellung. Denn gehört
nicht möglicherweise auch so etwas wie eine ästhetische Störung
zum Thema Aidstod?
Aber
nein: auf dem Friedhof steigen bunte Luftballons in den sehr blauen Himmel —
Himmel, hätte der Film doch Mut zum Kitsch. Marc Almond ist mit „Adored
& Explored" schon auf der Tonspur. Doch die Regisseurin entscheidet
sich fürs Brandenburgische Konzert und für Schuberts Impromptu (G-Dur)
als Ballettmusik. Zielgruppe des Films ist der gehobene, gepflegte, ideale Theater-
und Ballettbesucher in den ersten Parkettreihen, wie es ihn seit Jahrzehnten
nicht mehr gibt. Oder doch? Gibt es eine geheime Sehnsucht nach dem Heilen im
Unheilen? Bekam Alive
& Kicking
deshalb 1996 auf dem Londoner Film-Festival den Publikumspreis British Cinema?
Ist es angenehm, einem Schauspieler (Jason Flemyng) zuzusehen, der offensichtlich
weder schwul noch Tänzer ist, aber dies konspirativ vorspielt — mit einem
Augenzwinkern über die Rampe hinweg? Wir sind mit diesem Film in einem
dieser altmodischen Theater – im sicheren Abstand zur Bühne und geschützt
vor Belästigung oder sonstiger Nähe. Selbst wenn die Kamera sich entschließt,
die Male eines Karposisyndroms ganz nah zu zeigen, ist das Gesicht des Aidskranken
so elegant ausgeleuchtet und die Maske so perfekt, daß wir dem Werbefoto
für eine kosmetische Errungenschaft beizuwohnen meinen.
Alive
& Kicking
ist eine Auftragsproduktion für Londons Channel Four. Auf dem Bildschirm
wird sich möglicherweise die geheime Botschaft des Films am ehesten enthüllen:
Bei Aidsgefahr und höchster Not bringt der ästhetische Mittelweg das
– Leben. Die Kunst der eleganten Werbung, die schönen Künste überhaupt,
dienen sich Aids- und Alzheimerkranken als rettender Ausweg an. Man kann beruhigt
abschalten und joggen gehen. Oder ins Bett. Oder aber dieser zickigen Fehlbesetzung,
dem Lächel-Schauspieler Jason Flemying, den Best Newcomer Award wieder
wegnehmen, den er 1996 in Genf bekommen hat. – Ich bin für letzteres.
Dietrich
Kuhlbrodt
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in:
Alive
& Kicking
indian
summer
Großbritannien
1996. R: Nancy Meckler. B:
Martin Sherman. P: Martin Pope. K: Chris Seager. Sch: Rodney Holland. M: Peter
Salem. T: John Midgley, Hugh Strain. A:
Cecelia Brereton, Philip Robinson. Ko:
Monica Howe. Pg: Channel Four Films. V:
Kool Filmdistribution, Luisenstr. 7,
79098 Freiburg, Tel. 0761/26763. L: 95 Min. FSK: 12, ffr. St:
2.4.1998. D: Jason Flemyng (Tonio), Antony Sher (Jack), Dorothy Tutin (Luna),
Anthony Higgins (Ramon), Bill Nighy (Tristan), Philip Voss (Duncan), Diane Parish
(Mille).
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