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Alice lebt hier nicht mehr

Martin Scorseses “Alice lebt hier nicht mehr” beginnt mit der Parodie einer Hollywood-Traumwelt, welche noch vor einer Generation zum intellektuellen Gepäck kleiner Mädchen gehörte. Die Leinwand ist eingetaucht im Rot eines künstlichen Sonnenuntergangs und ein süßes kleines Ding bummelt nach Hause durch Sets, die aussehen, als wären sie vom „Zauberer von Oz“ übrig geblieben. Nur ihre Träume und ihr Dialog sind ganz entschieden nicht von Zucker: Dieses kleine Mädchen wird die Dinge auf ihre eigene Art regeln. 

 

Natürlich war das nur eine trotzige Kindheits-Idee. Mit fünfunddreißig hat sich Alice Hyatt schon mehr oder weniger den gesellschaftlichen Vorgaben angepasst. Sie ist verheiratet mit einem maulfaulen LKW-Fahrer, sie hat einen frühreifen zwölfjährigen Sohn, beim Plausch mit Nachbarinnen schlägt sie die Zeit tot. Doch dann stirbt der Mann bei einem Autounfall, sie ist plötzlich verwitwet und – beinahe schlimmer noch als das – unabhängig. Nach langen Jahren zu zweit: kann sie ein Leben alleine bewerkstelligen?

 

Sie kann, behauptet sie. Als kleines Mädchen vergötterte sie Alice Faye und sie beschloss, Sängerin zu werden, wenn sie groß ist. Nun ist sie fünfunddreißig und das ist groß! Sie verkauft ihre Habseligkeiten, ihr Haus und beginnt eine Odyssee quer durch den Südwesten mitsamt ihrem Sohn und ihren Träumen. Was ihr auf diese Reise passiert, kulminiert in einem der scharfsinnigsten, komischsten, und manchmal schmerzvollsten Portraits einer amerikanischen Frau, die ich je gesehen habe.

 

Der Film wurde von feministischer Seite sowohl attackiert als auch verteidigt, aber ich denke, er gehört jenseits der Ideologien, vielleicht in den Bereich zeitgenössischer Mythen und Liebesgeschichten. Es gibt Szenen, in denen wir Alice und ihre Reise absolut ernst nehmen, es gibt Szenen quälender Realität und dann gibt es wieder andere (z.B. ausgelassene Passagen in einem Restaurant, wo Alice bedient), in denen Scorsese ein bisschen zu fröhlicher Übertreibung tendiert. Manchmal aber auch scheint es dem Film weniger um Alice zu gehen als um die Spekulationen und Tagträume vieler Frauen ihres Alters, die sich zwar mit der Emanzipation identifizieren, aber unsicher bleiben, wenn es um sie selber geht. 

 

Ein Film wie dieser ist von seinen Darstellerleistungen genauso abhängig wie von seiner Regie, und die Verkörperung der Alice durch Ellen Burstyn (die für diese Rolle einen Oscar gewann) ist großartig. Sie wirkt viel realer als in ihrer Rolle als Cibyll Sheperds allzeit verfügbare Mutter in „Die letzte Vorstellung“ oder als Linda Blairs geplagte Mutter im „Exorzisten“. In dieser Rolle kann sie sich entspannen, ehrlich sein, sich auf natürliche Weise entwickeln (obwohl gerade das oft die schwersten Rollen sind). Sie beschließt, als Sängerin zu arbeiten, eine Karriere „fortzusetzen“, von deren Beginn sie höchstens geträumt hatte, und sie ist hübsch genug (wenn auch nicht gut genug) es beinahe zu schaffen. Auf ihrem Weg lernt sie ein Paar gutmütige Menschen kennen, die ihr helfen, wenn sie es können. Aber sie trifft auch ein Paar Kriecher, besonders einen trügerisch netten Kerl, namens Ben (gespielt von Harvey Keitel, dem autobiografischen Helden aus Scorseses zwei Little-Italy-Filmen). Die Auftritte als Sängerin bringen nicht viel ein, später, als Kellnerin, läuft sie einem geschiedenen jungen Farmer (Kris Kristofferson) über den Weg.

 

Sie verlieben sich heftig und es entsteht eine interessante Beziehung zwischen Kristofferson und Alfred Lutter, dem die Verkörperung dieses bestimmten Typus’ eines 12jährigen Jungen herausragend gelingt. Die meisten Frauen an Alices Stelle würden sich wahrscheinlich auf einen praktischen, verständnisvollen und annehmbaren jungen Farmer einlassen, aber im Film geschieht manch Unvorhergesehenes. Manches bleibt ein wenig märchenhaft, während Scorsese sich an sein Hauptthema heranschleicht.

 

Der Film ist voller brillianter Einzelauftritte. Alice, zum Beispiel, hat einen Zwist mit einer anderen Kellnerin, die über ein lockeres Vokabular verfügt (Diane Ladd, oscarnominiert für diese Rolle). Sie werden beste Freundinnen und eines Tages beim Sonnenbaden reden sie ganz offen und ehrlich miteinander. Diese Szene funktioniert einfach perfekt. Oder da ist die besondere Art, in der ihr erster Chef sich dazu durchringt, ihr eine Auftrittsmöglichkeit zu bieten, oder wie Alice sich von ihren alten Nachbarn verabschiedet, oder die Art, wie ihr Sohn darauf besteht, einen Witz zu erklären, den nur 12jährige verstehen können. Das sind große Augenblicke in einem Film, der uns diese Alice Hyatt zeigt: weiblich, fünfunddreißig, ungeschlagen.

 

Roger Ebert

 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem Englischen übersetzt von: Andreas Thomas

Der Text im Original ist zuerst erschienen am 1.12.1974 in: Chicago Sun-Times

 

 

 

Alice lebt hier nicht mehr

ALICE DOESN’T LIVE HERE ANYMORE

USA – 1974 – 112 min. – Verleih: Warner-Columbia – Erstaufführung: 26.9.1975 – Produktionsfirma: Warner – Produktion: David Susskind, Audrey Maas

Regie: Martin Scorsese

Buch: Robert Getchell

Kamera: Kent Wakeford

Musik: Richard Lasalle

Schnitt: Marcia Lucas

Darsteller:

Ellen Burstyn (Alice)

Kris Kristofferson (David)

Billy Green Bush (Donald)

Diane Ladd (Flo)

Lane Bradbury (Bens Frau)

Harvey Keitel (Ben)

Jodie Foster (Audrey)

Laura Dern

 

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