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Abschied von gestern

Alexander Kluge stellt seinem Film Abschied von gestern ein Motto voran, ein Zitat von Reinhard Baumgart: „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.“ Soweit dieser Satz auf Methodisches verweist, ist die Nüchternheit einer Bestandsaufnahme zu erwarten. Ganz offensichtlich geht es um Genauigkeit ebenso wie um Freiheit: um jene Freiheit von den Umklammerungen der Geschichte, die stets nur Defätismus produzieren; um jene Freiheit, in der die Verstandeskräfte und die „Macht der Gefühle“ eine Balance anstreben und die im Zweifelsfall der Sachlichkeit den Vorzug gibt. Einer Sachlichkeit, die sich die Aufgabe stellt, Materialien zu sondieren, Veränderungen in den gesellschaftlichen Aggregatzuständen zu beobachten.

 

Gleichzeitig will Kluge kein Lehrmeister sein. Er weiß, dass dem Filmautor in puncto Sachlichkeit die Zuschauer im Nacken sitzen und ihn gegebenenfalls an den Ohren ziehen werden. Die Zuschauer, schreibt Kluge 1983 in „Bestandsaufnahme: Utopie Film“, unterscheiden zwischen sachlich und unsachlich, sie wehren sich aber auch gegenüber „einseitiger Häufung von Sachlichem, die sie als Schule verstehen“, sie sehen sich selbst ja nicht als Kinder, sie „sind zwar im Besitz aller Kinderwünsche und in Bereitschaft, möchten aber gerade dann keinem Oberlehrer begegnen“. [Alexander Kluge (Hrsg.): Bestandsaufnahme: Utopie Film. Frankfurt/M. 1983, S. 215 f.]

 

Diese Reflexionen von 1983 umschreiben die Lage, in der zwei Jahrzehnte zuvor, zwischen 1962, dem Jahr des Oberhausener Manifests, und 1968, dem Jahr eines weltweiten rebellischen Aufbruchs, junge westdeutsche Filmemacher über ihr Handwerk, ihre Zuschauer, ihre Wünsche und das gesellschaftliche Umfeld reflektieren. Sie wissen: „Papas Kino“, die westdeutschen Filme der 50er Jahre haben mit ihren scheinbar starken Gefühlen die Gefühle der Zuschauer bearbeitet, aber sie haben sie auch in Fesseln gelegt, ihnen vorgeschriebene Bahnen gewiesen. Diese Filme sind angefüllt mit konkreten Bildern, scheinbar konkreten Sinnlichkeiten und Lebenswirklichkeiten – aber diese scheinhaften Konkretionen haben den Filmen die Wirklichkeit ausgetrieben. Den Zuschauern bereitet dieser Austreibungsakt offenbar Vergnügen.

 

Gegen diesen Tatbestand rebellieren die jungen Filmemacher. 1962 haben sie in ihrem Oberhausener Manifest das Ende von „Papas Kino“ ausgerufen, ihm vorsichtshalber aber auch den Kampf angesagt, weil nicht zu übersehen ist, dass die „Altproduzenten“ noch immer fest im Sattel sitzen. Gegen das Vergnügen, das die ältlichen, wirklichkeitsleeren Filme vielen Zuschauern bereiten, mobilisieren sie die kritische Reflexion. Aber ist denn Vergnügen im Kino nicht etwa erlaubt? Kluge setzt auf beides: „Filme“, schreibt er 1975 in seinen „Kommentaren zum antagonistischen Realismusbegriff“ [Alexander Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/M. 1975, S. 196], müssen einen Erfahrungsgehalt haben, und sie müssen das Vergnügungsinteresse des Zuschauers befriedigen.“ Filmrezeption sei eher die Produktion des Films im Kopf des Zuschauers. In dieser „triebökonomisch regulierten Rezeptionsform (…) können Zuschauer hohe Komplexitätsgrade immer noch mit Vergnügen aufnehmen.“ Dieses Vergnügen sei ein „sicheres Korrektiv“; „moralische Kontrollierbarkeit“ könne diese Korrektivfunktion nicht übernehmen.

 

Das ist natürlich eine Provokation, eine kalte Dusche für alle diejenigen, die auf die Omnipotenz und Unanfechtbarkeit des „kritischen Bewusstseins“ fixiert sind. Es ist davon auszugehen, dass in diese Bemerkungen von 1975 Kluges Skepsis gegenüber den Omnipotenzphantasien, der Oberlehrerhaftigkeit, der moralischen Kontrollierwut eingegangen ist, die zur intellektuellen Ausstattung der Linken von 1968 gehört haben und ihren Machtstrategien zuzurechnen sind.

 

Das Bündnis mit dem Zuschauer – darum geht es Kluge in den 60er und 70er Jahren, ein Bündnis, das nicht verwechselt werden sollte mit dem kommerziellen Vertrag, den ein Fabrikant mit den Konsumenten seines Produkts abschließt und der den Kinobesuch als ökonomischen Vorgang konstituiert. Kluge geht es, im weitesten Sinne, um ein politisches Bündnis. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieses Bündnisses sind eine Triebfeder seiner theoretischen Überlegungen und seiner Filme selbst, sie werden später ins Zentrum seiner medienpolitischen Strategien rücken.

 

Die „Produktivkraft Kino“ könne nur gemeinsam mit den „Wahrnehmungskräften der Zuschauer“ entfaltet werden, heißt es in den „Kommentaren zum antagonistischen Realismusbegriff“. Die neuen deutschen Filme der Generation des Oberhausener Manifests „haben nicht die immerhin plausible Illusionswirkung des klassischen Kinos, und sie sind auch nicht wirklich konkret. Sie sind Versuche einer noch nicht entwickelten Produktivkraft, deren Entfaltung eine Umformung der ganzen Kinorealität voraussetzt. Solche Filme wirken zerrissen. Aber wenn der Weg nicht konsequent fortgesetzt wird, dann ist die Filmgeschichte eine Sammlung privater Versuche.“ [Kluge (1975), S. 208 f.] In diesem Kontext findet sich auch die hellsichtige Bemerkung: „Gerade ein konsequent realistisches Verfahren in der Filmarbeit bringt zunächst ‚immer dünnere Abstrakta’. Man sieht vielleicht die Konstruktionsarbeit, nicht den Realismus.“

 

Diese Widerspruchslage beschreibt die Ausgangskonstellation der Kino-Erneuerer in der ersten Hälfte der 60er Jahre, sie gilt für Kluge ebenso wie für Edgar Reitz oder für Peter Schamoni, für Herbert Vesely oder Haro Senft. Aber Alexander Kluge hat insistenter, schärfer und unruhiger, beunruhigter über die Probleme nachgedacht, und als es ans „richtige“ Filmemachen ging, gabelten sich bald die Wege: die einen entschieden sich, mehr oder weniger bruchlos, für ein moderat reformiertes Erzählkino unter dem Label des „Autorenfilms“, während Kluge in seinen folgenden langen Filmen wie Die Artisten in der Zirkuskuppel – ratlos oder Die Patriotin das Autorenprinzip radikalisierte und es gleichzeitig radikal zur Disposition stellte – und sich später anderen Medienpraxen zuwandte.

 

Die Ideologie des Autorenfilms wird er 1983, in der „Bestandsaufnahme“, als „Bonapartismus“ kritisieren, als versteckte Sehnsucht des Autors „mit einem Film die Weltmacht im Kino zu erobern“, als „Grundstücksimperialismus, der nach innen auf das Produkt schlägt“ [Kluge (1983), S. 227 f.] . Bei diesen Metaphern mögen Erfahrungen der Häuserkämpfe im Frankfurter Westend im Spiel sein, für die sich Kluge stark interessiert hat – sie treffen aber auch die letztlich in der deutschen Romantik und im Geniekult wurzelnde Autoren-Attitüde sehr genau.

 

Abschied von gestern, Kluges erster langer Film, bündelt die genannten Widerspruchslinien der Lage um 1962 wie in einem Brennglas: Realismus kontra Illusionskino, Sachlichkeit kontra oberlehrerhafte Präpotenz, Konkretion kontra „dünne“ Abstraktion – der Erfahrungsgehalt und das Vergnügungsinteresse, die Produktivkraft Kino und die Wahrnehmungskräfte der Zuschauer als dialektische Bezugssysteme. Bereits um 1964 ist Kluges Werkstatt ein Medienlabor. Der Berg von Fundstücken, Skizzen, Ideen, Fragmenten beginnt zu wachsen, das System ihrer permanenten Überarbeitung und Auswertung mittels Montage nimmt Gestalt an. Fünf Kurzfilme liegen zu dieser Zeit vor, von den Schriften sind der Erzählungsband „Lebensläufe“ und das Stalingrad-Buch „Schlachtbeschreibung“ erschienen. Die „Lebensläufe“ von 1962 enthalten eine lange Geschichte mit dem Titel „Anita G.“; sie bildet nicht die Grundlage, enthält jedoch einige Elemente des Films Abschied von gestern, der drei, vier Jahre später entsteht. Schon für die Anfänge gilt somit jenes „hohe Maß an Operativität“, das Christian Schulte für das Gesamtwerk konstatiert: Kluges Werk sei „eine multimediale Versuchsanordnung, die den klassischen Einteilungen in Genres, in Ober- und Unterbegriffe eine experimentelle Vielfalt entgegensetzt. Eine Formenvielfalt, die der Tatsache geschuldet ist, dass die komplexe Wirklichkeit dieses Jahrhunderts sich jedem identifizierenden Zugriff entzieht (…).“[Christian Schulte: Konstruktionen des Zusammenhangs. Motiv, Zeugenschaft und Wiedererkennung bei Alexander Kluge. In: Christian Schulte (Hrsg.): Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien. Osnabrück 2000, S. 49]

 

 

Abschied von gestern beschreibt einen Lebenslauf, es ist der Lebenslauf von Anita G. oder ein Ausschnitt daraus, und wenn man versucht, die Bewegung dieses Lebenslaufs auf den Begriff zu bringen, drängt sich das Wort „Flucht“ auf. Anita G. ist auf der Flucht, aber es ist keine Flucht halsüberkopf, sie besteht vielmehr aus Arbeit und gesteuertem Energieeinsatz. Anita konzentriert ihre Kräfte und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Fluchtbewegung, die ihrem Leben eingeschrieben ist – auch wenn sie wahrscheinlich nicht weiß, wovor sie flieht, ob und wo ihre Flucht enden wird.

 

Der Filmautor ist nicht jener Besserwisser, der mit der auktorialen Gebärde des Erzählkinos die Fäden zieht und sich selbst zugleich anonymisiert. Er bearbeitet einen komplexen Gegenstand, aber er weiß, dass die Zuschauer auch „hohe Komplexitätsgrade immer noch mit Vergnügen aufnehmen“ können. Abschied von gestern ist – nicht zuletzt – ein vergnüglicher Film, voller Überraschungen, mit lockerer Hand und Liebe zum Spielerischen produziert. Kluge misstraut der Kohärenz, aber er bricht nicht vollständig mit dem narrativen Kontinuum des konventionellen Spielfilms. Durchaus baut er eine Chronologie auf, in der freilich die Montage eine kalkulierte Unruhe stiftet und nicht verschweigt, dass sie nur über Fragmente verfügt, die teilweise nicht zueinander passen.

 

Es handelt sich um eine Montageform, die eher der intellektuellen (Attraktions-)Montage Eisensteins verpflichtet ist, als dass sie der in sich geschlossenen Logik des Illusionskinos vertrauen würde – vor allem: eine Montageform, die vor schnellfertigen Kausalitätsschlüssen warnt. Anitas jüdische Herkunft, ihre kindheitliche Prägung durch den Krieg und ihre Jugend in der DDR werden am Anfang des Films gestreift, rücken aber nicht ins Zentrum. Explizit werden sie im weiteren Verlauf des Films nicht mehr behandelt; allerdings sind in einer der „eingestreuten“, teilweise bewusst enigmatisch gehaltenen Montagesequenzen Grabsteine des jüdischen Friedhofs in Frankfurt und, in Naheinstellungen, Reliefdarstellungen von Hasen auf diesen Grabsteinen zu sehen: unkommentierte Bildsymbole, die wie eine Geheimschrift auf Anitas Herkunft und das Fluchtmotiv verweisen.

 

Anita G. ist straffällig geworden, in Braunschweig hat sie einer Arbeitskollegin die Strickjacke entwendet. Der Richter, der über ihre Schuld zu befinden hat, wird, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Figuren des Films, von einem professionellen Schauspieler, Hans Korte, gespielt; zu Beginn der Verhandlung ist nur sein Hinterkopf in einer Naheinstellung zu sehen. Wir sehen die Verkörperung einer Institution, oder genauer: die Versachlichung eines Körpers durch die Institution, die sich den Körper untertan gemacht hat. Seine Verhandlungsführung ist die versprachlichte Mechanik dieser Institution, seine Stimme das von der Person abgetrennte Medium des StGB.

 

Anitas Bewährungshelferin spricht, groß im Bild, frontal zur Kamera über den Aufgabenbereich der Bewährungshilfe – wie der Richter demonstriert auch sie die Verformung eines lebendigen Menschen durch seine Funktion. Zugleich legt sie ihre Aufgabe fundamentalistisch aus; ihr Verhalten ist gleichsam überdeterminiert durch die moralischen Anteile ihrer Funktion. Das ist nicht frei von einer verzweifelten Komik. Anders wiederum Josef Kreindl als Chef der Schallplattenfirma, für den Anita Kaufverträge auf der Straße einwerben soll: während er als PR-Akteur seiner selbst die Vertriebsstrukturen seiner Branche erläutert, blickt uns die Nacktheit des Kleinkapitalismus an, eine Verschlagenheit, die zum Geschäft gehört.

 

Die Linke von 1968 hatte für dergleichen Personalia den marxistischen Begriff der „Charaktermaske“, er wurde in der Regel bezogen auf die Hauptakteure der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Ausbeutung, also auf Politiker und Repräsentanten des Finanz- und Industriekapitals. Dies war bereits eine ideologisch motivierte Simplifikation, in der die Entfremdungstheorie von Marx nur noch verstümmelt in Erscheinung trat. Dem Schicksal der Entfremdung entrinnt nach Marx kein Glied der kapitalistischen Gesellschaft – es prägt dem Bourgeois wie dem Proletarier seinen Stempel auf – alle sind oder tragen Charaktermasken, sind verwiesen auf ihre Rollen im Wertschöpfungsprozess.

 

Alexander Kluge erkennt die Gültigkeit dieses Gesetzes, aber er fragt nach den Chancen des Widerstands, die in jedem Menschen, auch in den „Charaktermasken“, virulent sind – sei es als Eigensinn, als unstillbares Glücksverlangen oder, an der Oberfläche des Verhaltens, als Skurrilität. Wichtig sind die Blicke, die Kluges Figuren der Kamera zuwenden, ohne sie freilich direkt auf das Objektiv zu richten. Abschied von gestern gehört zu jenen Filmen, in denen wir etwas über Blicke erfahren können: darüber, dass es im Kino immer zwei Blickrichtungen gibt – den Blick des Zuschauers auf die Leinwand und die Blicke, mit denen die Menschen auf der Leinwand uns, die Zuschauer, anschauen könnten, wenn es ihnen die Konventionen des Erzählkinos erlauben würden. Auch Kluge erlaubt es ihnen nicht. Wenn Anitas Gesicht in einer Großeinstellung, der letzten des Films, frontal ins Kinopublikum zu blicken scheint, streift ihre Blickachse die das Kameraauges allenfalls, ist aber nicht mit ihr kongruent. Mit anderen Worten: ihr Blick bleibt auf irritierende Weise „adressatlos“; er scheint uns als Zuschauer einbeziehen zu wollen und schließt uns gleichzeitig aus.

 

Das neubürgerliche Milieu der frühen Bundesrepublik, mit dem Anita G. konfrontiert ist und dem sie auszuweichen sucht, wird bei Kluge, ohne den Einsatz denunziatorischer Mittel, in einige seiner Bestandteile zerlegt. Dabei wird sichtbar, dass dieses Milieu keine Sicherungen, keine tragenden Teile, letztlich keine Traditionen hat. Keinesfalls geht es darum, die Agenten und Nutznießer dieses Milieus zu „entlarven“, ihnen „die Maske vom Gesicht zu reißen“. Eher interessiert sich Kluge dafür, ob diese kleinen Stützen der Gesellschaft Anstrengungen unternehmen, ihre Lage zu durchschauen und der Zwangsjacke, in der sie stecken, inne zu werden.

 

Anita, so könnte man ihr Verhalten auch beschreiben, ist ja gebündelte Anstrengung, ein Arbeitstier ihres Lebenslaufs, um dessen Umbau sich viele Menschen bemühen. Keineswegs betreibt sie Verweigerung als Totalstrategie – im Gegenteil: in vielen Situationen verhält sie sich willig, anpassungsbereit, offen gegenüber den Integrationsangeboten, die ihr gemacht werden. Gleichzeitig zeigt sie sich  „von Natur“ quertreiberisch, ihre Stabilität gewinnt sie gerade aus einem Defizit, ihrem Unvermögen zur Integration, über das sie sich freilich keine Rechenschaft ablegt. Sie investiert ihre Energie in Abbruch und Aufbruch, ins Experiment und in den Neuanfang, bleibt offensiv und zukunftsorientiert auch im Scheitern, ja sie betreibt gerade das Scheitern noch als Managerin ihrer komplizierten Biografie.

 

Anita stellt Ansprüche an sich, beschließt, ein „neues Leben“ anzufangen und setzt ihre Hoffnungen, zum Beispiel, auf die Universität. Dort gerät sie in die Vorlesung eines Altphilologen über die Sophisten und wird, wie sollte es anders sein, vom Schlaf überwältigt.

Mehrfach probiert sie Haltungen aus, testet die Maskeraden, die diese Gesellschaft bereit hält. Die Maskerade der Hochstaplerin: Anita kauft einen Pelzmantel auf Pump, trainiert eine Lebensstrategie des „als ob“, der virtuellen Attitüde. Da sie integriert werden soll, definiert sie Integration selbst, allerdings nach einem geborgten Schema, das nicht funktionieren kann, sondern die Strafverfolger auf den Plan ruft. Flucht in eine andere Stadt, Arbeit als Zimmermädchen im Hotel; bald wird ihr die Stelle, dann auch das Zimmer gekündigt, weil sie die Miete schuldig geblieben ist. In Nah- und Großeinstellungen: eine fast wortlose Liebesgeschichte mit einem namenlos bleibendem jungen Mann; scheue Zärtlichkeiten unter einer karierten Wolldecke – und dann das Fazit dessen, was sie bisher gelernt hat: „Es ist unmöglich zu lernen, nicht zu lernen.“

 

Im letzten Drittel des Films ist sie wirklich, mit Haut und Haaren, auf der Flucht, hetzt durch graue Stadtlandschaften: ein Leben aus dem Koffer mit Baukränen im Hintergrund. Sie stellt sich der Polizei, am Ende hilft sie, „Unterlagen für ihre Bestrafung zusammenzustellen“. Jetzt konzentriert sie sich auf die Rekonstruktion ihrer Biografie unter dem Gesichtspunkt dessen, was schief gelaufen ist. Sie wird zur Mitarbeiterin am Projekt ihrer Verbesserung.

 

Das beim ersten Sehen und Hören irritierende musikalische Repertoire des Films scheint Anitas offensive Haltung zu unterstützen – schmissige Rhythmen, Walzermelodien und Kaffeehausmusik setzen weniger Kontrapunkte zur Handlung, als dass sie das visuelle Geschehen grundieren und in vertrackter Weise „kommentieren“. Fetzen von Drehorgelmusik – wie Fragmente einer verwehten, aber noch immer latenten Sehnsucht – begleiten einen langen Schwenk über den Frankfurter Weihnachtsmarkt und evozieren jene als kleinbürgerlich verrufene „Innerlichkeit“, die Kluge  niemals als verächtlich abtut, sondern als Energiequelle, als „Kraftwerk“ ernst nimmt.

 

Gefühle sind Realitätspartikel, Widerstandsnester in einer Welt, in der Wirklichkeit von Tag zu Tag vernichtet wird. Abschied von gestern ist, als Frankfurt-Film, der Blick auf eine Stadt, in der nach dem Krieg unablässig abgebaut, umgebaut, Neues aufgebaut wurde und manches im Bodenlosen verschwand. Ähnlich blickt Godard in Deux ou trois choses que je sais d’elle auf Paris. Den Aufnahmen von der nächtlichen Zeil, durch die Verkehrslichter in Zeitraffertempo sausen, folgen Zeichnungen aus einer langsameren Epoche, danach Panoramaaufnahmen aus dem Restaurant des Fernsehturms; etwas später Bilder vom Abriss im Westend – hier geht, nicht nur im Inneren der Gesellschaft, sondern auch in ihren urbanen Landschaften, Tradition verloren, mit ihr die Sicherungen, die tragenden Teile einer Bürgerlichkeit, die genau genommen schon nach dem ersten Weltkrieg zerschlagen war.

 

Kluge testet die verschiedenen Möglichkeiten, die ihm als Autor (außer der Montage) zur Verfügung stehen, um sich in die Abläufe einzumischen. Häufig benutzt er Zwischentitel, eine Erinnerung an den Stummfilm. Im Film fungieren sie oft als Stolpersteine für den mitdenkenden Zuschauer, als Sinnsprüche, über die man stutzt und die man erst einmal beiseite legt, um sie bei passender Gelegenheit gründlicher zu prüfen. Ein Zwischentitel, gegen Ende des Films, lautet „Wahrheit, wenn sie ganz ernst auftritt, wird totgeschlagen!“ Ein Kalenderblatt, das wie ein Messer funktioniert.

 

Vorausgegangen ist eine surrealistische Collage im Slapstick-Stil, mit breitem Assoziationsspektrum: Anita wird gejagt, schießt auf antiquiert wirkende Militärs, die sie zu fangen versuchen. Gefilmt ist das wie ein Geländespiel. Mit den eingestreuten Bildergeschichten und Kinderversen kristallisiert sich hier bereits Kluges Montage-Kino heraus: ironisch doppelbödig, ein Spiel mit der historischen Tiefenachse seiner Geschichten, aber auch eine Einladung an das Vergnügungsinteresse und die Verknüpfungsfreudigkeit des Zuschauers.

 

Seltener mischt sich Kluge als Kommentator aus dem Off ein – wenn er es tut, ist dies eine Anleihe beim Dokumentarfilm und signalisiert dann, dass ein Dokumentarist in der Regel darauf angewiesen ist, sein Bildmaterial verbalsprachlich einzuordnen, gegebenenfalls zu erläutern. Der dokumentarische Gestus begegnet auch in Sequenzen, in denen die Handkamera stark in Bewegung ist und nervös ihr Objekt zu suchen scheint. Ähnlich wie Jean-Luc Godard in seinem Debutfilm Å bout de souffle testet Kluge mit forciert „dokumentarischen“ Mitteln den Raum der Freiheit, der sich nach dem Bruch mit den Kinokonventionen erschließt. An der Kamera stehen Edgar Reitz und Thomas Mauch, beide haben mit dokumentarischen Arbeiten begonnen. Dokumentarisch im strikten Sinn sind die Szenen mit Generalstaatsanwalt Fritz Bauer; er war schon damals eine zeitgeschichtliche Figur. Seine Vorschläge für humanere Umgangsformen in der Rechtsprechung klingen noch heute utopisch; mit ihnen nimmt die deutsche Jurisprudenz, noch sehr vorsichtig, Abschied von gestern – ein Abschied, der bis heute nicht abgeschlossen ist.

 

Kluge testet, aber er legt sich nicht fest. Er probiert aus, wie man mit Schauspielern arbeitet – und wie es ist, wenn man einen Hotelgeschäftsführer oder einen Intellektuellen auffordert, sich selbst zu spielen. Auch der Politologiedozent, bei dem Anita Rat sucht, ist eine quasi-authentische Figur. Er wird von Alfred Edel gespielt, einem Freund Kluges – eher ein Universalintellektueller der 60er Jahre, von nun an Gelegenheitsschauspieler im jungen deutschen Film. Mit dem Porträt eines in sich selbst und seine Forschung verkrochenen, realitätsfernen und zugleich auf Anerkennung lauernden Wissenschaftlers liefert er ein berühmt gewordenes Kabinettstück des neuen Kinos. Unverwandt beobachtet die Kamera das Gesicht von Edel – Anitas Ratlosigkeit staut sich, auch für den Zuschauer körperlich spürbar, im Hintergrund.

 

Ihre Liebesgeschichte mit dem Ministerialrat Pichota, gespielt von Günther Mack, wird zum Lehrstück über die Aufspaltung des Menschen zwischen Funktion und Repräsentation auf der einen – und den latenten Kräften des Eigensinns und der „Macht der Gefühle“ auf der anderen Seite.  Pichota ist ein ich-schwacher, kleinlauter Bürokrat mit gebremster Sinnlichkeit, der seinen eigenen großen Worten nicht traut. Die Szene, in der er für sein Ministerium eine Hundeschau zu eröffnen hat, ist in ihrer abgründigen Skurrilität ein Highlight des Films – und die Hundeschau selbst, als Ritual von Dressur und Gewalt, eine Metapher für die Selbst-Dressur, der sich der Privatmensch unterzieht, wenn er eine öffentliche Funktion auszuüben hat.  Im weiteren Verlauf versucht Anita linkisch, Pichota auszubeuten, und flunkert ihm vor, mit einem Baukostenzuschuss ein Zimmer in einem Neubau gekauft zu haben; den Baukostenzuschuss hat sie gar nicht, und das Zimmer ist eine Baustelle. Aus einer Baustelle kann noch etwas werden, sie lädt die Phantasie ein, aber diese Aktion ist ein Bluff, der nicht funktioniert. Pichota kann ihr nicht einmal 100 Mark leihen – weil seine Frau die Banküberweisungen kontrolliert.

 

Zwischentitel: „Wenn Pichota ihr schon nicht helfen kann, will er sie wenigstens erziehen.“ Er versucht, Anita die Symbole in den Fahrplänen der Bundesbahn beizubringen. Die Alltagssemantiken bilden ein diskretes System, ihre Logik bereitet Anita Schwierigkeiten. Bei der Lektüre einer Keuner-Geschichte von Brecht gibt es ein Missverständnis: soll der Mensch dem Entwurf oder der Entwurf dem Menschen ähnlich werden?

 

Pichota bemüht sich erkennbar, über die Aktivierung von Bildungsgütern auch an sein anderes Ich, an triebökonomisch eher still gestellte Bereiche seiner Existenz heranzukommen. Er und Anita singen gemeinsam die todtraurige Arie „Sie hat mich nie geliebt“ aus „Don Carlos“; Pichota, zunächst ein Verwalter seiner Feinsinnigkeit und musischen Neigungen, versinkt immer mehr in der Schwermütigkeit der Musik. Anita ist hochkonzentriert, gleichzeitig amüsiert sie sich ein bisschen über die Hingabe ihres Liebhabers. Das Ende der Affäre ist ernüchternd: Anita wird schwanger, Pichota findet es schade, dass sie gelogen hat. Ein grauer Abschied an einer leeren Würstchenbude vor dem grauen Bahnhof. Da sich Pichota würdelos verhält, kürzt Anita den Abschied ab.

 

Klaus Kreimeier

 

 

Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 14. Mai 2008 im Frankfurter Filmmuseum gehalten hat.

 

 

 

Abschied von gestern

BR Deutschland – 1966 – 88 min. – schwarzweiß – Verleih: Constantin – 451 Video (Video) – Erstaufführung:

14.10.1966/29.12.1970 ZDF/18.3.1997 Video – Produktionsfirma: Kairos/Independent – Produktion:

Alexander Kluge

Regie: Alexander Kluge

Buch: Alexander Kluge

Vorlage: nach Motiven aus seinem Buch "Lebensläufe"

Kamera: Edgar Reitz, Thomas Mauch

Schnitt: Beate Mainka-Jellinghaus

Darsteller:

Alexandra Kluge (Anita G.)

Günter Mack (Pichota, Ministerialrat)

Eva Maria Meineke (Frau Pichota)

Hans Korte (Richter)

Josef Kreindl (Chef)

Peter Staimmer (junger Mann)

Edith Kuntze (Bewährungshelferin)

Käthe Ebner (Frau des Chefs)

 

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