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Abschied
von gestern
Alexander Kluge stellt seinem Film Abschied von gestern ein Motto voran, ein Zitat von Reinhard
Baumgart: „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte
Lage.“ Soweit dieser Satz auf Methodisches verweist, ist die Nüchternheit
einer Bestandsaufnahme zu erwarten. Ganz offensichtlich geht es um Genauigkeit
ebenso wie um Freiheit: um jene Freiheit von den Umklammerungen der Geschichte,
die stets nur Defätismus produzieren; um jene Freiheit, in der die Verstandeskräfte
und die „Macht der Gefühle“ eine Balance anstreben und die im Zweifelsfall
der Sachlichkeit den Vorzug gibt. Einer Sachlichkeit, die sich die Aufgabe stellt,
Materialien zu sondieren, Veränderungen in den gesellschaftlichen Aggregatzuständen
zu beobachten.
Gleichzeitig will Kluge kein Lehrmeister
sein. Er weiß, dass dem Filmautor in puncto Sachlichkeit die Zuschauer
im Nacken sitzen und ihn gegebenenfalls an den Ohren ziehen werden. Die Zuschauer,
schreibt Kluge 1983 in „Bestandsaufnahme: Utopie Film“, unterscheiden zwischen
sachlich und unsachlich, sie wehren sich aber auch gegenüber „einseitiger
Häufung von Sachlichem, die sie als Schule verstehen“, sie sehen sich selbst
ja nicht als Kinder, sie „sind zwar im Besitz aller Kinderwünsche und in
Bereitschaft, möchten aber gerade dann keinem Oberlehrer begegnen“. [Alexander Kluge (Hrsg.): Bestandsaufnahme:
Utopie Film. Frankfurt/M. 1983, S. 215 f.]
Diese Reflexionen von 1983 umschreiben
die Lage, in der zwei Jahrzehnte zuvor, zwischen 1962, dem Jahr des Oberhausener
Manifests, und 1968, dem Jahr eines weltweiten rebellischen Aufbruchs, junge
westdeutsche Filmemacher über ihr Handwerk, ihre Zuschauer, ihre Wünsche
und das gesellschaftliche Umfeld reflektieren. Sie wissen: „Papas Kino“, die
westdeutschen Filme der 50er Jahre haben mit ihren scheinbar starken Gefühlen
die Gefühle der Zuschauer bearbeitet, aber sie haben sie auch in Fesseln
gelegt, ihnen vorgeschriebene Bahnen gewiesen. Diese Filme sind angefüllt
mit konkreten Bildern, scheinbar konkreten Sinnlichkeiten und Lebenswirklichkeiten
– aber diese scheinhaften Konkretionen haben den Filmen die Wirklichkeit ausgetrieben.
Den Zuschauern bereitet dieser Austreibungsakt offenbar Vergnügen.
Gegen diesen Tatbestand rebellieren die
jungen Filmemacher. 1962 haben sie in ihrem Oberhausener Manifest das Ende von
„Papas Kino“ ausgerufen, ihm vorsichtshalber aber auch den Kampf angesagt, weil
nicht zu übersehen ist, dass die „Altproduzenten“ noch immer fest im Sattel
sitzen. Gegen das Vergnügen, das die ältlichen, wirklichkeitsleeren
Filme vielen Zuschauern bereiten, mobilisieren sie die kritische Reflexion.
Aber ist denn Vergnügen im Kino nicht etwa erlaubt? Kluge setzt auf beides:
„Filme“, schreibt er 1975 in seinen „Kommentaren zum antagonistischen Realismusbegriff“
[Alexander Kluge: Gelegenheitsarbeit
einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/M. 1975, S. 196], müssen einen Erfahrungsgehalt haben,
und sie müssen das Vergnügungsinteresse
des Zuschauers befriedigen.“
Filmrezeption sei eher die Produktion des Films im Kopf des Zuschauers. In dieser
„triebökonomisch regulierten Rezeptionsform (…) können Zuschauer hohe
Komplexitätsgrade immer noch mit Vergnügen aufnehmen.“ Dieses Vergnügen
sei ein „sicheres Korrektiv“; „moralische Kontrollierbarkeit“ könne diese
Korrektivfunktion nicht übernehmen.
Das ist natürlich eine Provokation,
eine kalte Dusche für alle diejenigen, die auf die Omnipotenz und Unanfechtbarkeit
des „kritischen Bewusstseins“ fixiert sind. Es ist davon auszugehen, dass in
diese Bemerkungen von 1975 Kluges Skepsis gegenüber den Omnipotenzphantasien,
der Oberlehrerhaftigkeit, der moralischen Kontrollierwut eingegangen ist, die
zur intellektuellen Ausstattung der Linken von 1968 gehört haben und ihren
Machtstrategien zuzurechnen sind.
Das Bündnis mit dem Zuschauer – darum
geht es Kluge in den 60er und 70er Jahren, ein Bündnis, das nicht verwechselt
werden sollte mit dem kommerziellen Vertrag, den ein Fabrikant mit den Konsumenten
seines Produkts abschließt und der den Kinobesuch als ökonomischen
Vorgang konstituiert. Kluge geht es, im weitesten Sinne, um ein politisches
Bündnis. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieses Bündnisses
sind eine Triebfeder seiner theoretischen Überlegungen und seiner Filme
selbst, sie werden später ins Zentrum seiner medienpolitischen Strategien
rücken.
Die „Produktivkraft Kino“ könne nur
gemeinsam mit den „Wahrnehmungskräften der Zuschauer“ entfaltet werden,
heißt es in den „Kommentaren zum antagonistischen Realismusbegriff“. Die
neuen deutschen Filme der Generation des Oberhausener Manifests „haben nicht
die immerhin plausible Illusionswirkung des klassischen Kinos, und sie sind
auch nicht wirklich konkret. Sie sind Versuche einer noch nicht entwickelten
Produktivkraft, deren Entfaltung eine Umformung der ganzen Kinorealität
voraussetzt. Solche Filme wirken zerrissen. Aber wenn der Weg nicht konsequent
fortgesetzt wird, dann ist die Filmgeschichte eine Sammlung privater Versuche.“
[Kluge (1975), S. 208
f.] In diesem Kontext findet
sich auch die hellsichtige Bemerkung: „Gerade ein konsequent realistisches Verfahren
in der Filmarbeit bringt zunächst ‚immer dünnere Abstrakta’. Man sieht
vielleicht die Konstruktionsarbeit, nicht den Realismus.“
Diese Widerspruchslage beschreibt die
Ausgangskonstellation der Kino-Erneuerer in der ersten Hälfte der 60er
Jahre, sie gilt für Kluge ebenso wie für Edgar Reitz oder für
Peter Schamoni, für Herbert Vesely oder Haro Senft. Aber Alexander Kluge
hat insistenter, schärfer und unruhiger, beunruhigter über die Probleme
nachgedacht, und als es ans „richtige“ Filmemachen ging, gabelten sich bald
die Wege: die einen entschieden sich, mehr oder weniger bruchlos, für ein
moderat reformiertes Erzählkino unter dem Label des „Autorenfilms“, während
Kluge in seinen folgenden langen Filmen wie Die
Artisten in der Zirkuskuppel – ratlos
oder Die
Patriotin das Autorenprinzip
radikalisierte und es gleichzeitig radikal zur Disposition stellte – und sich
später anderen Medienpraxen zuwandte.
Die Ideologie des Autorenfilms wird er
1983, in der „Bestandsaufnahme“, als „Bonapartismus“ kritisieren, als versteckte
Sehnsucht des Autors „mit einem Film die Weltmacht im Kino zu erobern“,
als „Grundstücksimperialismus, der nach innen auf das Produkt schlägt“
[Kluge (1983), S. 227 f.]
. Bei diesen Metaphern mögen
Erfahrungen der Häuserkämpfe im Frankfurter Westend im Spiel sein,
für die sich Kluge stark interessiert hat – sie treffen aber auch die letztlich
in der deutschen Romantik und im Geniekult wurzelnde Autoren-Attitüde sehr
genau.
Abschied
von gestern, Kluges erster langer Film, bündelt die genannten Widerspruchslinien
der Lage um 1962 wie in einem Brennglas: Realismus kontra Illusionskino, Sachlichkeit
kontra oberlehrerhafte Präpotenz, Konkretion kontra „dünne“ Abstraktion
– der Erfahrungsgehalt und das Vergnügungsinteresse, die Produktivkraft
Kino und die Wahrnehmungskräfte der Zuschauer als dialektische Bezugssysteme.
Bereits um 1964 ist Kluges Werkstatt ein Medienlabor. Der Berg von Fundstücken,
Skizzen, Ideen, Fragmenten beginnt zu wachsen, das System ihrer permanenten
Überarbeitung und Auswertung mittels Montage nimmt Gestalt an. Fünf
Kurzfilme liegen zu dieser Zeit vor, von den Schriften sind der Erzählungsband
„Lebensläufe“ und das Stalingrad-Buch „Schlachtbeschreibung“ erschienen.
Die „Lebensläufe“ von 1962 enthalten eine lange Geschichte mit dem Titel
„Anita G.“; sie bildet nicht die Grundlage, enthält jedoch einige Elemente
des Films Abschied von gestern, der drei, vier Jahre später entsteht.
Schon für die Anfänge gilt somit jenes „hohe Maß an Operativität“,
das Christian Schulte für das Gesamtwerk konstatiert: Kluges Werk sei „eine
multimediale Versuchsanordnung, die den klassischen Einteilungen in Genres,
in Ober- und Unterbegriffe eine experimentelle Vielfalt entgegensetzt. Eine
Formenvielfalt, die der Tatsache geschuldet ist, dass die komplexe Wirklichkeit
dieses Jahrhunderts sich jedem identifizierenden Zugriff entzieht (…).“[Christian Schulte: Konstruktionen
des Zusammenhangs. Motiv, Zeugenschaft und Wiedererkennung bei Alexander Kluge.
In: Christian Schulte (Hrsg.): Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe
und Materialien. Osnabrück 2000, S. 49]
Abschied von gestern
beschreibt einen Lebenslauf, es ist der Lebenslauf von Anita G. oder ein Ausschnitt
daraus, und wenn man versucht, die Bewegung dieses Lebenslaufs auf den Begriff
zu bringen, drängt sich das Wort „Flucht“ auf. Anita G. ist auf der Flucht,
aber es ist keine Flucht halsüberkopf, sie besteht vielmehr aus Arbeit
und gesteuertem Energieeinsatz. Anita konzentriert ihre Kräfte und ihre
ganze Aufmerksamkeit auf die Fluchtbewegung, die ihrem Leben eingeschrieben
ist – auch wenn sie wahrscheinlich nicht weiß, wovor sie flieht, ob und
wo ihre Flucht enden wird.
Der Filmautor ist nicht jener Besserwisser,
der mit der auktorialen Gebärde des Erzählkinos die Fäden zieht
und sich selbst zugleich anonymisiert. Er bearbeitet einen komplexen Gegenstand,
aber er weiß, dass die Zuschauer auch „hohe Komplexitätsgrade immer
noch mit Vergnügen aufnehmen“ können. Abschied
von gestern ist – nicht
zuletzt – ein vergnüglicher Film, voller Überraschungen, mit lockerer
Hand und Liebe zum Spielerischen produziert. Kluge misstraut der Kohärenz,
aber er bricht nicht vollständig mit dem narrativen Kontinuum des konventionellen
Spielfilms. Durchaus baut er eine Chronologie auf, in der freilich die Montage
eine kalkulierte Unruhe stiftet und nicht verschweigt, dass sie nur über
Fragmente verfügt, die teilweise nicht zueinander passen.
Es handelt sich um eine Montageform, die
eher der intellektuellen (Attraktions-)Montage Eisensteins verpflichtet ist,
als dass sie der in sich geschlossenen Logik des Illusionskinos vertrauen würde
– vor allem: eine Montageform, die vor schnellfertigen Kausalitätsschlüssen
warnt. Anitas jüdische Herkunft, ihre kindheitliche Prägung durch
den Krieg und ihre Jugend in der DDR werden am Anfang des Films gestreift, rücken
aber nicht ins Zentrum. Explizit werden sie im weiteren Verlauf des Films nicht
mehr behandelt; allerdings sind in einer der „eingestreuten“, teilweise bewusst
enigmatisch gehaltenen Montagesequenzen Grabsteine des jüdischen Friedhofs
in Frankfurt und, in Naheinstellungen, Reliefdarstellungen von Hasen auf diesen
Grabsteinen zu sehen: unkommentierte Bildsymbole, die wie eine Geheimschrift
auf Anitas Herkunft und das Fluchtmotiv verweisen.
Anita G. ist straffällig geworden,
in Braunschweig hat sie einer Arbeitskollegin die Strickjacke entwendet. Der
Richter, der über ihre Schuld zu befinden hat, wird, im Gegensatz zu zahlreichen
anderen Figuren des Films, von einem professionellen Schauspieler, Hans Korte,
gespielt; zu Beginn der Verhandlung ist nur sein Hinterkopf in einer Naheinstellung
zu sehen. Wir sehen die Verkörperung einer Institution, oder genauer: die
Versachlichung eines Körpers durch die Institution, die sich den Körper
untertan gemacht hat. Seine Verhandlungsführung ist die versprachlichte
Mechanik dieser Institution, seine Stimme das von der Person abgetrennte Medium
des StGB.
Anitas Bewährungshelferin spricht,
groß im Bild, frontal zur Kamera über den Aufgabenbereich der Bewährungshilfe
– wie der Richter demonstriert auch sie die Verformung eines lebendigen Menschen
durch seine Funktion. Zugleich legt sie ihre Aufgabe fundamentalistisch aus;
ihr Verhalten ist gleichsam überdeterminiert durch die moralischen Anteile
ihrer Funktion. Das ist nicht frei von einer verzweifelten Komik. Anders wiederum
Josef Kreindl als Chef der Schallplattenfirma, für den Anita Kaufverträge
auf der Straße einwerben soll: während er als PR-Akteur seiner selbst
die Vertriebsstrukturen seiner Branche erläutert, blickt uns die Nacktheit
des Kleinkapitalismus an, eine Verschlagenheit, die zum Geschäft gehört.
Die Linke von 1968 hatte für dergleichen
Personalia den marxistischen Begriff der „Charaktermaske“, er wurde in der Regel
bezogen auf die Hauptakteure der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen
Ausbeutung, also auf Politiker und Repräsentanten des Finanz- und Industriekapitals.
Dies war bereits eine ideologisch motivierte Simplifikation, in der die Entfremdungstheorie
von Marx nur noch verstümmelt in Erscheinung trat. Dem Schicksal der Entfremdung
entrinnt nach Marx kein Glied der kapitalistischen Gesellschaft – es prägt
dem Bourgeois wie dem Proletarier seinen Stempel auf – alle sind oder tragen
Charaktermasken, sind verwiesen auf ihre Rollen im Wertschöpfungsprozess.
Alexander Kluge erkennt die Gültigkeit
dieses Gesetzes, aber er fragt nach den Chancen des Widerstands, die in jedem
Menschen, auch in den „Charaktermasken“, virulent sind – sei es als Eigensinn,
als unstillbares Glücksverlangen oder, an der Oberfläche des Verhaltens,
als Skurrilität. Wichtig sind die Blicke, die Kluges Figuren der Kamera
zuwenden, ohne sie freilich direkt auf das Objektiv zu richten. Abschied von gestern gehört zu jenen Filmen, in denen
wir etwas über Blicke erfahren können: darüber, dass es im Kino
immer zwei Blickrichtungen gibt – den Blick des Zuschauers auf die Leinwand
und die Blicke, mit denen die Menschen auf der Leinwand uns, die Zuschauer,
anschauen könnten, wenn es ihnen die Konventionen des Erzählkinos
erlauben würden. Auch Kluge erlaubt es ihnen nicht. Wenn Anitas Gesicht
in einer Großeinstellung, der letzten des Films, frontal ins Kinopublikum
zu blicken scheint, streift ihre Blickachse die das
Kameraauges allenfalls, ist aber nicht mit ihr kongruent. Mit anderen
Worten: ihr Blick bleibt auf irritierende Weise „adressatlos“; er scheint uns
als Zuschauer einbeziehen zu wollen und schließt uns gleichzeitig aus.
Das neubürgerliche Milieu der frühen
Bundesrepublik, mit dem Anita G. konfrontiert ist und dem sie auszuweichen sucht,
wird bei Kluge, ohne den Einsatz denunziatorischer Mittel, in einige seiner
Bestandteile zerlegt. Dabei wird sichtbar, dass dieses Milieu keine Sicherungen,
keine tragenden Teile, letztlich keine Traditionen hat. Keinesfalls geht es
darum, die Agenten und Nutznießer dieses Milieus zu „entlarven“, ihnen
„die Maske vom Gesicht zu reißen“. Eher interessiert sich Kluge dafür,
ob diese kleinen Stützen der Gesellschaft Anstrengungen unternehmen, ihre
Lage zu durchschauen und der Zwangsjacke, in der sie stecken, inne zu werden.
Anita, so könnte man ihr Verhalten
auch beschreiben, ist ja gebündelte Anstrengung, ein Arbeitstier ihres
Lebenslaufs, um dessen Umbau sich viele Menschen bemühen. Keineswegs betreibt
sie Verweigerung als Totalstrategie – im Gegenteil: in vielen Situationen verhält
sie sich willig, anpassungsbereit, offen gegenüber den Integrationsangeboten,
die ihr gemacht werden. Gleichzeitig zeigt sie sich
„von Natur“ quertreiberisch, ihre Stabilität gewinnt sie gerade
aus einem Defizit, ihrem Unvermögen zur Integration, über das sie
sich freilich keine Rechenschaft ablegt. Sie investiert ihre Energie in Abbruch
und Aufbruch, ins Experiment und in den Neuanfang, bleibt offensiv und zukunftsorientiert
auch im Scheitern, ja sie betreibt gerade das Scheitern noch als Managerin ihrer
komplizierten Biografie.
Anita stellt Ansprüche an sich, beschließt,
ein „neues Leben“ anzufangen und setzt ihre Hoffnungen, zum Beispiel, auf die
Universität. Dort gerät sie in die Vorlesung eines Altphilologen über
die Sophisten und wird, wie sollte es anders sein, vom Schlaf überwältigt.
Mehrfach probiert sie Haltungen aus, testet
die Maskeraden, die diese Gesellschaft bereit hält.
Die Maskerade der Hochstaplerin: Anita kauft einen Pelzmantel auf Pump, trainiert
eine Lebensstrategie des „als ob“, der virtuellen Attitüde. Da sie integriert
werden soll, definiert sie Integration selbst, allerdings nach einem geborgten
Schema, das nicht funktionieren kann, sondern die Strafverfolger auf den Plan
ruft. Flucht in eine andere Stadt, Arbeit als Zimmermädchen im Hotel; bald
wird ihr die Stelle, dann auch das Zimmer gekündigt, weil sie die Miete
schuldig geblieben ist. In Nah- und Großeinstellungen: eine fast wortlose
Liebesgeschichte mit einem namenlos bleibendem jungen Mann; scheue Zärtlichkeiten
unter einer karierten Wolldecke – und dann das Fazit dessen, was sie bisher
gelernt hat: „Es ist unmöglich zu lernen, nicht zu lernen.“
Im letzten Drittel des Films ist sie wirklich,
mit Haut und Haaren, auf der Flucht, hetzt durch graue Stadtlandschaften: ein
Leben aus dem Koffer mit Baukränen im Hintergrund. Sie stellt sich der
Polizei, am Ende hilft sie, „Unterlagen für ihre Bestrafung zusammenzustellen“.
Jetzt konzentriert sie sich auf die Rekonstruktion ihrer Biografie unter dem
Gesichtspunkt dessen, was schief gelaufen ist. Sie wird zur Mitarbeiterin am
Projekt ihrer Verbesserung.
Das beim ersten Sehen und Hören irritierende
musikalische Repertoire des Films scheint Anitas offensive Haltung zu unterstützen
– schmissige Rhythmen, Walzermelodien und Kaffeehausmusik setzen weniger Kontrapunkte
zur Handlung, als dass sie das visuelle Geschehen grundieren und in vertrackter
Weise „kommentieren“. Fetzen von Drehorgelmusik – wie Fragmente einer verwehten,
aber noch immer latenten Sehnsucht – begleiten einen langen Schwenk über
den Frankfurter Weihnachtsmarkt und evozieren jene als kleinbürgerlich
verrufene „Innerlichkeit“, die Kluge
niemals als verächtlich abtut, sondern als Energiequelle, als „Kraftwerk“
ernst nimmt.
Gefühle sind Realitätspartikel,
Widerstandsnester in einer Welt, in der Wirklichkeit von Tag zu Tag vernichtet
wird. Abschied von gestern ist, als Frankfurt-Film, der Blick auf
eine Stadt, in der nach dem Krieg unablässig abgebaut, umgebaut, Neues
aufgebaut wurde und manches im Bodenlosen verschwand. Ähnlich blickt
Godard in Deux
ou trois choses que je sais d’elle
auf Paris. Den Aufnahmen von
der nächtlichen Zeil, durch die Verkehrslichter in Zeitraffertempo sausen,
folgen Zeichnungen aus einer langsameren Epoche, danach Panoramaaufnahmen aus
dem Restaurant des Fernsehturms; etwas später Bilder vom Abriss im Westend
– hier geht, nicht nur im Inneren der Gesellschaft, sondern auch in ihren urbanen
Landschaften, Tradition verloren, mit ihr die Sicherungen, die tragenden Teile
einer Bürgerlichkeit, die genau genommen schon nach dem ersten Weltkrieg
zerschlagen war.
Kluge testet die verschiedenen Möglichkeiten,
die ihm als Autor (außer der Montage) zur Verfügung stehen, um sich
in die Abläufe einzumischen. Häufig benutzt er Zwischentitel, eine
Erinnerung an den Stummfilm. Im Film fungieren sie oft als Stolpersteine für
den mitdenkenden Zuschauer, als Sinnsprüche, über die man stutzt und
die man erst einmal beiseite legt, um sie bei passender Gelegenheit gründlicher
zu prüfen. Ein Zwischentitel, gegen Ende des Films, lautet „Wahrheit, wenn
sie ganz ernst auftritt, wird totgeschlagen!“ Ein Kalenderblatt, das wie ein
Messer funktioniert.
Vorausgegangen ist eine surrealistische
Collage im Slapstick-Stil, mit breitem Assoziationsspektrum: Anita wird gejagt,
schießt auf antiquiert wirkende Militärs, die sie zu fangen versuchen.
Gefilmt ist das wie ein Geländespiel. Mit den eingestreuten Bildergeschichten
und Kinderversen kristallisiert sich hier bereits Kluges Montage-Kino heraus:
ironisch doppelbödig, ein Spiel mit der historischen Tiefenachse seiner
Geschichten, aber auch eine Einladung an das Vergnügungsinteresse und die
Verknüpfungsfreudigkeit des Zuschauers.
Seltener mischt sich Kluge als Kommentator
aus dem Off ein – wenn er es tut, ist dies eine Anleihe beim Dokumentarfilm
und signalisiert dann, dass ein Dokumentarist in der Regel darauf angewiesen
ist, sein Bildmaterial verbalsprachlich einzuordnen, gegebenenfalls zu erläutern.
Der dokumentarische Gestus begegnet auch in Sequenzen, in denen die Handkamera
stark in Bewegung ist und nervös ihr Objekt zu suchen scheint. Ähnlich
wie Jean-Luc Godard in seinem Debutfilm Å
bout de souffle
testet Kluge mit forciert
„dokumentarischen“ Mitteln den Raum der Freiheit, der sich nach dem Bruch mit
den Kinokonventionen erschließt. An der Kamera stehen Edgar Reitz und
Thomas Mauch, beide haben mit dokumentarischen Arbeiten begonnen. Dokumentarisch
im strikten Sinn sind die Szenen mit Generalstaatsanwalt Fritz Bauer; er war
schon damals eine zeitgeschichtliche Figur. Seine Vorschläge für humanere
Umgangsformen in der Rechtsprechung klingen noch heute utopisch; mit ihnen nimmt
die deutsche Jurisprudenz, noch sehr vorsichtig, Abschied von gestern – ein
Abschied, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Kluge testet, aber er legt sich nicht
fest. Er probiert aus, wie man mit Schauspielern arbeitet – und wie es ist,
wenn man einen Hotelgeschäftsführer oder einen Intellektuellen auffordert,
sich selbst zu spielen. Auch der Politologiedozent, bei dem Anita Rat sucht,
ist eine quasi-authentische Figur. Er wird von Alfred Edel gespielt, einem Freund
Kluges – eher ein Universalintellektueller der 60er Jahre, von nun an Gelegenheitsschauspieler
im jungen deutschen Film. Mit dem Porträt eines in sich selbst und seine
Forschung verkrochenen, realitätsfernen und zugleich auf Anerkennung lauernden
Wissenschaftlers liefert er ein berühmt gewordenes Kabinettstück des
neuen Kinos. Unverwandt beobachtet die Kamera das Gesicht von Edel – Anitas
Ratlosigkeit staut sich, auch für den Zuschauer körperlich spürbar,
im Hintergrund.
Ihre Liebesgeschichte mit dem Ministerialrat
Pichota, gespielt von Günther Mack, wird zum Lehrstück über die
Aufspaltung des Menschen zwischen Funktion und Repräsentation auf der einen
– und den latenten Kräften des Eigensinns und der „Macht der Gefühle“
auf der anderen Seite. Pichota
ist ein ich-schwacher, kleinlauter Bürokrat mit gebremster Sinnlichkeit,
der seinen eigenen großen Worten nicht traut. Die Szene, in der er für
sein Ministerium eine Hundeschau zu eröffnen hat, ist in ihrer abgründigen
Skurrilität ein Highlight des Films – und die Hundeschau selbst, als Ritual
von Dressur und Gewalt, eine Metapher für die Selbst-Dressur, der sich
der Privatmensch unterzieht, wenn er eine öffentliche Funktion auszuüben
hat. Im weiteren Verlauf versucht
Anita linkisch, Pichota auszubeuten, und flunkert ihm vor, mit einem Baukostenzuschuss
ein Zimmer in einem Neubau gekauft zu haben; den Baukostenzuschuss hat sie gar
nicht, und das Zimmer ist eine Baustelle. Aus einer Baustelle kann noch etwas
werden, sie lädt die Phantasie ein, aber diese Aktion ist ein Bluff, der
nicht funktioniert. Pichota kann ihr nicht einmal 100 Mark leihen – weil seine
Frau die Banküberweisungen kontrolliert.
Zwischentitel: „Wenn Pichota ihr schon
nicht helfen kann, will er sie wenigstens erziehen.“ Er versucht, Anita die
Symbole in den Fahrplänen der Bundesbahn beizubringen. Die Alltagssemantiken
bilden ein diskretes System, ihre Logik bereitet Anita Schwierigkeiten. Bei
der Lektüre einer Keuner-Geschichte von Brecht gibt es ein Missverständnis:
soll der Mensch dem Entwurf oder der Entwurf dem Menschen ähnlich werden?
Pichota bemüht sich erkennbar, über
die Aktivierung von Bildungsgütern auch an sein anderes Ich, an triebökonomisch
eher still gestellte Bereiche seiner Existenz heranzukommen. Er und Anita singen
gemeinsam die todtraurige Arie „Sie hat mich nie geliebt“ aus „Don Carlos“;
Pichota, zunächst ein Verwalter seiner Feinsinnigkeit und musischen Neigungen,
versinkt immer mehr in der Schwermütigkeit der Musik. Anita ist hochkonzentriert,
gleichzeitig amüsiert sie sich ein bisschen über die Hingabe ihres
Liebhabers. Das Ende der Affäre ist ernüchternd: Anita wird schwanger,
Pichota findet es schade, dass sie gelogen hat. Ein grauer Abschied an einer
leeren Würstchenbude vor dem grauen Bahnhof. Da sich Pichota würdelos
verhält, kürzt Anita den Abschied ab.
Klaus Kreimeier
Der Text basiert auf einem Vortrag,
den der Autor am 14. Mai 2008 im Frankfurter Filmmuseum gehalten hat.
Abschied
von gestern
BR
Deutschland – 1966 – 88 min. – schwarzweiß – Verleih: Constantin – 451
Video (Video) – Erstaufführung:
14.10.1966/29.12.1970
ZDF/18.3.1997 Video – Produktionsfirma: Kairos/Independent – Produktion:
Alexander
Kluge
Regie:
Alexander Kluge
Buch:
Alexander Kluge
Vorlage:
nach Motiven aus seinem Buch "Lebensläufe"
Kamera:
Edgar Reitz, Thomas Mauch
Schnitt:
Beate Mainka-Jellinghaus
Darsteller:
Alexandra
Kluge (Anita G.)
Günter
Mack (Pichota, Ministerialrat)
Eva
Maria Meineke (Frau Pichota)
Hans
Korte (Richter)
Josef
Kreindl (Chef)
Peter
Staimmer (junger Mann)
Edith
Kuntze (Bewährungshelferin)
Käthe
Ebner (Frau des Chefs)
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