zur
startseite
zum
archiv
7
Brüder
Brüder
unter sich
IMMER
NUR EIN TEIL DER WAHRHEIT
Im
Dokumentarfilm "7 Brüder" von Sebastian Winkels kommt die deutsche
Geschichte des 20. Jahrhunderts zur Sprache
Als
in den sechziger Jahren mit den Direktton-Kameras die ersten sprechenden Menschen
in den Dokumentarfilm kamen, war das eine demokratische Revolution. Erstmals
bekamen nicht nur autoritäre Kommentatoren und Politiker, sondern auch
die "kleinen Leute" eine eigene Stimme. Dann inflationierten die O-Töne
in Fernsehen und Kino und mutierten zu den berüchtigten talking heads,
die bei Cineasten zu Recht als verfilmter Hörfunk verhasst sind. Und mittlerweile
werden so genannte Zeitzeugen in unzähligen Fernsehdokumentationen als
Gleitmittel eingesetzt, um mit ihrer persönlichen Präsenz die Thesen
der Filmemacher scheinbar neutral zu beglaubigen. Immer öfter werden ihre
Aussagen dabei zu kontextlosen Häppchen zerschnippelt, die jenseits ihrer
vermeintlichen Belegkraft nicht mehr genug Eigenleben entwickeln können,
um mit ihrer Umgebung in eine widerspruchsvolle und aussagekräftige Beziehung
zu treten. Viele amerikanische Dokumentarfilme etwa aus dem Spielberg-Imperium
betreiben diese Kunst der Satzbröckchen-Assemblage mit einer technischen
Meisterschaft, die kunstvoll ihre Inhaltslosigkeit verbirgt.
Warum
das hier erzählt wird? Ganz einfach: Weil diese Woche ein noch ziemlich
junger deutscher Filmemacher mit einem Film ins Kino kommt, der auf den ersten
Blick aus nichts als redenden Köpfen besteht und doch überzeugend
alle Vorwürfe widerlegt, die man dieser Darstellungsform machen kann. In
Sebastian Winkels Dokumentarfilm 7
Brüder
wird ausgiebigst geredet – und erstmal nur das. Und wir sehen dazu nichts als
eine völlig schwarz ausgelegte Studiobühne mit einem einsamen Stuhl,
auf dem sich im Scheinwerferlicht nacheinander sieben ältere Männer
niederlassen und in die Kamera erzählen. Eine strenge Anordnung: Selbst
der Fußboden ist im Schachbrettmuster gehalten. Mit dem Blick in den leeren
Raum fängt der Film 7
Brüder
an. Mit dem Schweigen des jüngsten Bruders hört er auf.
Die
sieben Brüder der Familie Hufschmidt, zwischen 1929 und 1945 in Mülheim
an der Ruhr geboren, sind sehr unterschiedliche Lebenswege gegangen, haben aber
immer noch intensiven und regelmäßigen Kontakt. Und sie vertreten
einen repräsentativen Ausschnitt deutscher Zeitgeschichte: Klaus, der älteste,
hat seine gesamte Kindheit im Nationalsozialismus verbracht. Nachzügler
Jochen wurde geboren, als das Reich gerade zusammenbrach. Dieter, jetzt Schauspieler
am Staatstheater Hannover, hat als Junge mit Inbrunst Nazilieder gesungen. Jochen
bekam Berufsverbot wegen seiner Aktivitäten beim KBW. Während der
zweitälteste in den Hungerjahren der Nachkriegszeit Bäcker werden
musste, um der vielköpfigen Familie regelmäßigen Brotnachschub
zu sichern, machte sein jüngerer Bruder schon Abitur und brachte es bis
zum Musik-Professor. Der Jüngste, der auf mütterlichen Wunsch unbedingt
Pfarrer werden soll, sattelt irgendwann um zum Religionslehrer. Dafür beginnt
sein älterer Bruder Hartmut nach einem langen Berufsleben als Elektrohändler
eine zweite Laufbahn als Pfarrer. Doch da lebt die Mutter schon nicht mehr.
Auffällig
ist, wie sehr alle Hufschmidts im Reinen scheinen mit sich und dem zurückgelegten
Weg. Das ist ungewöhnlich und gewagt für ein Genre, das normalerweise
von der Ausbeutung des Abwegigen und der Melancholie des Scheiterns lebt. Und
es ist auch hier sicher nur ein Teil der Wahrheit. Denn Winkels hat seine Protagonisten
zwar formal aufs Äußerste kontrolliert, inhaltlich aber jedem der
Protagonisten selbst überlassen, wie er sich präsentiert. Das ging
so weit, dass der damalige Babelsberger Filmstudent den Kontakt zu den Filmbrüdern,
die er über einen Freund kennen gelernt hatte, absichtlich aufs Oberflächliche
reduziert hielt, um den Entwicklungen beim späteren Aufnahmeprozess nicht
vorzugreifen. Denn Winkels hatte ein ungewöhnliches Filmexperiment im Sinn.
Und dafür brauchte er Probanden, die unvoreingenommen und unverbraucht
auf seine Versuchsvorgaben reagieren.
Untersuchungsobjekte
sind dabei die Wirkung der Montage ebenso wie die Konstruktion des filmischen
Raums und Wahrnehmungsprozesse im Publikum. Die Quellen des Versuchs allerdings
sind die Kraft der Erinnerung und die Kunst der Selbstdarstellung. Und die Hufschmidt-Brüder
beherrschen diese Kunst, wenn auch mit unterschiedlicher Nuancierung. Dabei
verteilt Sebastian Winkels die Last so streng wie gerecht auf die 14 Schultern.
Jeder der Brüder hat sein eigenes Kästchen im Schachbrettboden zugewiesen,
dem absteigenden Alter nach von links nach rechts. Vier verschiedene Kameraperspektiven.
Keine Fahrten und Zooms. Offensichtlich wurden die sieben auch angewiesen, sich
in möglichst dunklen Tönen zu kleiden, um die visuelle Aufmerksamkeit
so ganz auf Gesichter und Körpersprache zu lenken. Und auf die kleinen
Unterschiede natürlich, die um so mehr provozieren. Gedreht wurde an sieben
aufeinander folgenden Tagen, jeweils eine Person pro Tag, völlig ohne Vorgaben
und Zwischenfragen, so dass sich die Erzählungen der Männer ganz aus
der Stille im Studio und der eigenen Dynamik entwickeln.
Zur
Sprache kommt trotzdem fast alles, nur das jetzige Familienleben der Männer
als Väter und Großväter bleibt ausgespart: Vom Platz in der
Brüderhierarchie über die Kriegsjahre, die die Brüder mit Hitlerjugend
und Kinderlandverschickung in alle Winkel des damaligen Reichs versprengt hatten,
bis zur politischen Neuorientierung und Berufsfindung im Nachkriegsdeutschland.
Und: Was wir hören und sehen, erzählt mehr über die letzten Jahrzehnte
deutscher Geschichte als, sagen wir, fünf Breloersche Doku-Spiele und 20
Stunden Knopp zusammengenommen. Und das ohne ein einziges Archivbild, eine einzige
szenische Rekonstruktion.
André
Heller und Othmar Schmiderer haben mit der Verfilmung von Traudl Junges Lebenserinnerungen
als One-Woman-Show etwas ähnliches, in gewissem formalem Sinne sicher noch
radikaleres gewagt, sicher auch zu einem sensationsheischenden Thema. Bei Hitlers
Sekretärin
war die Grenze zum bebilderten Hörfunk wirklich fast erreicht. Sebastian
Winkels Familienporträt dagegen ist formal höchst reduziert und trotzdem
Kino pur. Nicht nur, dass der Film erst aus dem Zusammen- und Gegeneinanderspiel
von Rede und Gegenrede, Ausdruck und Körpersprache seine vielstimmigen
Bedeutungen generiert. Die strenge Konstruktion lenkt auch die Aufmerksamkeit
des Zuschauers auf die verschiedenen Elemente dieser Textur. So betreibt
7
Brüder
genau das Gegenteil fernsehüblicher Interview-Beliebigkeit: Die Reduktion
des Wortbreis zu disziplinierter sprachlicher Präsenz. Der so entworfene
Erzählraum setzt den Zuschauer in die Position, seinen eigenen Erfahrungsraum
dagegenzusetzen. So funktioniert 7
Brüder
wie ein Spiegel der eigenen Familiengeschichten und entwirft doch auch das Bild
sehr spezieller Erfahrungen zu einer historisch besonderen Zeit.
Als
ewig überzähliger Baby-Boomer möchte man manchmal sogar richtig
neidisch werden auf diese Männer, die so sicher ihren Platz im Leben zu
behaupten scheinen. Ihre Zeit, so hart und schwierig sie auch war, hat ihnen
offensichtlich die Gelegenheit gegeben, sich gebraucht zu fühlen. Filme
etwa über die Mühen des Erwachsenwerdens wurden damals sicher nicht
gemacht. Auch Sebastian Winkels bisherige Filme, darunter die vielerorts preisgekrönte
Kurzkomödie Hase
und Igel
und der musikalische Dokumentarfilm Innen-Außen-Mongolei,
ließen aufmerken, weil sie von mehr zu berichten hatten als dem Blick
in das Innenleben des Regisseurs. Dass der 1968 geborene Filmemacher sich jetzt
auch ausdrücklich für die historischen Erfahrungen seiner Vätergeneration
interessiert, macht ihn endgültig zu einem hoffnungsvollen und erfreulichen
Außenseiter unter den jungen Regietalenten.
PS:
Wie der Film wohl aussähe, wenn er 7
Schwestern
hieße?
Silvia
Hallensleben
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: "Freitag"
7
Brüder
Deutschland
2003 – Regie: Sebastian Winkels – Darsteller: Klaus Hufschmidt, Hannes Hufschmidt,
Wolfgang Hufschmidt, Dieter Hufschmidt, Volker Hufschmidt, Hartmut Hufschmidt,
Jochen Hufschmidt – FSK: ohne Altersbeschränkung – Länge: 89 min.
– Start: 16.10.2003
zur
startseite
zum
archiv