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37 Uses for a Dead Sheep

Spannendes Schäfchenzählen

 

Das ist mal eine etwas andere Biographie: Nach seinen super-exzentrischen und weltweit bestaunten Filmkunststückchen "Simon Magus" und "The Nine Lives of Tomas Katz", in denen Ben Hopkins mit jeder vorstellbaren cinematischen Verfremdungstechnik geglänzt hatte, wagte er den Sprung – in den Dokumentarfilm. Andere britische Regie-Wunderkinder mag es nach Hollywood ziehen, Hopkins hat lieber seine Kamera- und Schnitt-Crew gewechselt und eine Fernsehdoku über herumliegende Fliegerbomben gedreht. Und jetzt, nachdem dieser Versuch offenbar zu seiner Zufriedenheit verlaufen ist, verbindet er die herrlich absurden Inszenierungsideen seiner Spielfilme mit einem klassischen Dokumentarfilmprojekt über den Volksstamm der Pamir-Kirgisen – heraus kommt ein wilder Reigen aus drolligen Charakteren, einem Jahrhundert asiatischer Zeitgeschichte, eine Reihe nachgestellter und hübsch handgekurbelter Schlüsselszenen und, vielleicht am eindrucksvollsten, ein sehr frischer, selbstreflexiver Ansatz zum Dokumentarfilm selbst.

 

Denn indem Hopkins, in fließendem Türkisch übrigens, versucht, die leicht einseitige Kultur (der Titel verweist auf die Fixierung des Volkes auf ihre Herdentiere) und die umso turbulentere Geschichte der Kirgisen auf Zelluloid zu bannen, schaut er auch immer hinter die Kamera. So entlarvt er nicht nur die nachgestellten Szenen durch trockene Voice-Over-Anmerkungen darüber, wem man welche Kostüme hat schneidern müssen, er stellt auch sein eigenes Team vor und widmet dem kirgisischen Art Director und dem einheimischen Kabelträger gar eigene Porträt-Kapitel. Bei einer derartigen Vermischung von Team, Schauspielern und thematisiertem Volksstamm bleibt ihm aber auch gar nichts anderes übrig: Die Information, dass die kirgisischen Reiter erst am Mittag zum Nachstellen einer historischen Szene erscheinen konnten, weil niemand sonntags übermäßig früh aufstehen wollte, ist nicht nur eine unterhaltsame Hintergrundinformation zur gerade laufenden Doku-Fiktion, es ist auch Teil des Themas.

 

Hinzu kommt eine wirklich angenehme Bescheidenheit Hopkins’, der die Geschichte der Kirgisen tatsächlich auf Augenhöhe verhandelt. Dazu gehört nicht nur die erstaunliche Entscheidung, sich mit dem Volk in deren eigener Sprache auseinanderzusetzen, sondern auch ein spürbarer Respekt vor den Geister- und Heldenmythen, die in die mündlich überlieferte Geschichte des Stammes eingegangen ist. Dass Hopkins zudem noch jeder Beschwerde und Gegenmeinung zum Dargestellten auch auf Zelluloid Gehör verschafft, lässt ebenfalls das angenehme Gefühl aufkommen, nicht in einer Natur-Doku zu sitzen, die einen rückschrittlichen Volksstamm für ihr eigenes kulturelles Weltbild instrumentalisiert und zur Schau stellt, sondern mitten im widersprüchlichen, organisch gewachsenen Leben.

 

All diese Feinfühligkeiten und all die postmodernen Doku-über-die-Doku-Versatzteile wären aber nicht halb so erfolgreich, wenn die Geschichte um das kirgisische Reiter- und Viehzüchter-Volk nicht einfach so grandios faszinierend wäre. Nach der willkürlichen Teilung des Pamir-Gebietes durch britische und russische Staatsmänner im 19. Jahrhundert fanden sich die für ihre hochqualitative Schafzucht berühmten Kirgisen erstmal auf russischem Staatsgebiet wieder. Dann verbrachte der Stamm, stets auf der Flucht vor den Repressalien kommunistischer Revolution und Oppression, mehr als ein halbes Jahrhundert auf der Flucht durch Asien: von Russland nach China nach Afghanistan nach Pakistan – bis man die vermutlich weltweit erste Volks-Umsiedelung per Flugzeug arrangierte und seitdem in der Ost-Türkei eine Exil-Heimat gefunden hat. Und wer das für turbulent hält, der weiß noch nichts über Vergiftungsanschläge, die man mit Yoghurt vereitelt, über improvisierte Zahnmedizin auf 4.000 Meter Höhe und über Polo mit toten Gänsen. Man lernt also jede Menge spannender Sachen, die man nicht zu träumen wagte – mehr kann ein Dokumentarfilm eigentlich nicht leisten.

 

Daniel Bickermann

 

Dieser Text ist zuerst erschienen im Schnitt

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

37 Uses for a Dead Sheep

GB/TR 2006. R: Ben Hopkins. K: Gary Clarke. S: Marco Van Welzen. M: Paul Lewis. P: Tigerlily Films, Pi Film Productions. D: Arif Kutlu, Alpaslan Kutlu, Süleyman Atanìsev, Ìsmaìl Atìlgan, 89 Min. Piffl ab 8.6.06

 

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