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x 50 Jahre französisches Kino
100 Jahre Kino. Und für die BFI, das britische
Filminstitut soll Jean-Luc Godard einen Film für ihre Fernsehreihe "Century
of Cinema" über das französische Kino drehen. Doch wie soll man
die Geschichte und die Essenz von einem Jahrhundert französischem Kino
vermitteln, wenn die Kommunikation innerhalb der französischen Grenzen
fehlschlägt? Godards Reflektion über das Kino der Franzosen ist, ähnlich
wie seine "Geschichte(n) des Kinos" eine komplexe Collage aus Archivbildern,
Dokumentarmaterial, fiktiven Spielszenen und Texttafeln, dabei allerdings durchaus
unterhaltsam und kurzweilig.
In der ersten Sektion des Filmes sehen wir ein wahrscheinlich
improvisiertes Treffen zwischen Godard und Michel Piccoli, dem Präsidenten
des Nationalen Kino-Hundertjahrfeier-Kommitees. Godard empfängt Piccoli
zu einem Kaffee in einem Hotel an einem See und befragt ihn zur Natur der Hundertjahrfeier.
Kritisch hinterfragt er, warum man die hundertste Jährung der ersten öffentlichen
Projektion eines Filmes zelebriert und somit die erste Kommerzialisierung des
Mediums, anstatt die Erfindung der Kamera und somit die Geburt des Mediums zu
feiern. Außerdem stellt er die Feier an sich in Frage. Sollte man nicht
jeden Tag das Medium und seine außergewöhnlichen Werke feiern? Warum
erst jetzt, nach hundert Jahren, wo eh jeder Bürger Cocteau, Méliès
und Epstein längst vergessen oder nie kennen gelernt hat? Warum die Geschichte
des Kinos einer Nation feiern, an die sich die Nation gar nicht mehr erinnern
kann?
Die erste halbe Stunde ist unglaublich kurzweilig,
weil Godards Argumentation nicht nur bestechend und wahr ist, sondern weil Piccoli,
der mit redundanten Argumenten ins Schwimmen gerät, durch Godards intellektuelle
Reflektion überfordert ist. Es mag eine Art arrogante Schadenfreude sein,
die uns hier bewegt zu schmunzeln, doch der Rest des Films zeigt, wie Recht
Godard mit seiner These hat. Das Volk hat vergessen. In dem zweiten Teil des
Werkes beobachten wir Piccoli, wie er das Personal des Hotels fragt, ob sie
sich an Annabella, Parlo, Becker und Renoir erinnern könnten oder zumindest
an "Addieu Philippine" oder "Die
Spielregel". Doch weder der
Page, noch das Zimmermädchen kann mit den Namen und Titeln etwas anfangen.
Arnold Schwarzenegger und Madonna kennen sie, ja. Und "Pulp
Fiction" selbstverständlich,
der Gewalt wegen. Und "9 ½ Wochen", der Nacktheit wegen.
Das Amüsement, das uns der etwas lockere erste
Part bereitet hat, wird hier auf erschreckende Weise reell. Das Lachen bleibt
uns im Halse stecken. Die Franzosen wissen wahrlich nichts über ihre eigene
Kino- und somit Kunstgeschichte. Godards Forderung, die restaurierten Méliès-Filme
nicht in Arthauskinos zu verstecken, sondern durch das Massenmedium Fernsehen
in die Haushalte zu bringen, wird umso verständlicher. Im letzten Teil
des Filmes zollt Godard dann schließlich Respekt all jenen, die das französische
Kino so nachhaltig beeinflusst haben. Er kombiniert Filmbilder, Porträts
der Regisseure und ausgewählte Zitate, um ein vages Bild zu schaffen, das
interessiert, aber keine konkreten Antworten gibt. Das Genie von Leuten wie
Cocteau, Daney, Bazin, Feuillade, Dulac oder Rohmer gilt es selber zu erleben
und nicht durch einen anderen Film übersetzt zu bekommen.
Und das schafft dieses tolle Werk in nur kürzester
Zeit. 50 Minuten reichen, um den Finger in die Wunde zu legen, die Problematik
klar und deutlich zu definieren und zu belegen und schließlich einen Anstoß
geben für all diejenigen, die danach ebenfalls ihren Wissensdurst in der
Oase des französischen Kinos stillen möchten. Sich komplett der Jahresfeier
und jeglicher Kommerzialisierung abwendend, wählte Godard auch noch einen
Titel, der die werbewirksame Zahl "100" auch noch bewusst vermeidet.
Sein Film ist keine Zelebrierung von 100 Jahren, sein Film ist einfach eine
Dokumentation über zweimalige 50 Jahre französisches Kino.
Björn Last
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
2
x 50 Jahre französisches Kino
Originaltitel:
Deux fois cinquante ans de cinéma francais. Frankreich/Großbritannien,
1995. Regie: Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville. Drehbuch: Jean-Luc
Godard, Anne-Marie Miéville. Produktion: Bob Last, Colin McCabe. Schnitt:
Jean-Luc Godard, Anne-Marie Miéville. Darsteller: Jean-Luc Godard, Michel
Piccoli, Cécile Reigher. Farbe. 48 Min.
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