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27 Missing Kisses

 

 

 

 

Sex, Licht und Liebe: ein Sommerfilm von Nana Djordjadze

 

Es ist schon erstaunlich, wie Rezeptionsbedingungen die Filmwahrnehmung verändern können. Zweimal habe ich diesen Film gesehen. Das erste Mal letzten Herbst in Cottbus auf dem Festival des Osteuropäischen Films. Der Saal war ausverkauft, das Publikum ging begeistert mit, und dieses warmherzige Sommerluftspiel der georgischen Regisseurin Nana Djordjadze schien genau das richtige Gegengift zu den schwerblütigen Werken ihrer meist männlichen Kollegen. Dann die Pressevorführung in Berlin. Lastende Stille, nur selten vorsichtiges Kichern. Filmjournalisten sind schon merkwürdige Zuschauer, die Autorin eingeschlossen. Spätestens da also fing ich an, mich selbst und den Film fast argwöhnisch zu belauern. Ist der Humor nicht zu dick aufgetragen? Ist das alles nicht doch ein bisschen zu folkloristisch? Und die Frivolitäten?!

 

Nun, Djordjadzes 27 Missing Kisses haben diese Anfechtungen recht heil überstanden. Sicher, es ist ein Georgien wie aus dem Bilderbuch, das es hier zu sehen gibt, ausgestattet mit einer grotesken, auch aus anderen osteuropäischen Kinowelten wohlvertrauten Provinz-Szenerie voll schöner Tänzerinnen, schmachtender Liebhaber, verknöcherter Lehrer und eifersüchtiger Offiziere. Doch dieses Bilderbuch lebt, und wie. Die Luft flirrt vor Sex und Licht und Liebe. Denn es ist Sommer. Die Körpersäfte fließen, und die Gefühle auch. Die Menschen taumeln zu- und übereinander. Und auch Sybilla, ein wirbellockiger Teenager, für die Sommerferien bei der Tante in der Kleinstadt zu Besuch, mischt sich aktiv in diesen Reigen ein.

 

Sybilla ist erst 14 und ein ziemliches Energiebündel. Hübsch ist sie auch. Beides zusammen macht sie so attraktiv, dass sich Mickey, der sie nach einer Autobuspanne auf seinem Motorrad ins Dorf fahren darf, auf der Stelle unsterblich in sie verliebt. Auch in Sybilla gären die Triebe schon heftig. Doch sie ist auch noch Kind. Und so richten sich – wie gern bei Mädchen in diesem Alter – die Sehnsüchte nicht auf den Gleichaltrigen nebenan. Sybilla verliert ihr Herz ausgerechnet an Mickeys Vater, Astronom, Witwer und ein charmanter, doch nichtsnutziger Frauenheld von Format.

 

Schon bald, und auf recht rabiate Art, gesteht Sybilla dem Angebeten ihre Gefühle. Der nimmt das Mädchen nicht ernst. Schließlich ist Alexander 41, sie gerade mal 14. Einen Altersunterschied, dem Sybilla mit Verweis auf den hübschen Zifferndreher magische Überhöhung zu verleihen versucht. Eher erfolglos. Doch auch Ausdruck der sommernachtstraumhaft verzauberten Atmosphäre dieses Films. So ist es schon ein kleines Wunder, wie es Djordjadze schafft, die heikle erotische Balance dieser beiden Figuren von jeglichem Lolita-Dunst freizuhalten, auch wenn die Assoziation als Folie natürlich immer im Raum steht. Wie dies gelingt, ist zum großen Teil der Konzeption und Inszenierung der Hauptfigur zu verdanken, die hier so souverän wie entschlossen ihrem Ziel entgegenstürmt. Sybilla ist ganz bei sich, und sie weiß, was sie will: Alexander. Selbst wenn sie ihre Reize den bewundernden Jungs- und Männerblicken preisgibt, und das tut sie durchaus, ist das von ihr mit selbstbewusster Würde inszeniert. Natürlich: Keine echte 14-Jährige wäre so. Diese Sybilla ist eine Kunstfigur, auch eine Wunschfigur, doch es sind neben einigen männlichen durchaus auch weibliche Projektionen, die sich hier sammeln: die Auflösung von problematischen pubertären Widersprüchen in eine denkbar unproblematische, ja glückliche Form. Der Zwiespalt von Körper und Seele, Kindsein und Erwachsensein, Mädchen und Frau. Hier verwirrt er seine Trägerin nicht, sondern macht sie stark, auch wenn wir Zuschauer die Schwächen der Figur durchaus sehen.

 

Denn Sybilla muss – wie jeder Teenager – ihre Lektion lernen. 27 Missing Kisses ist ein Film über das weibliche Erwachsenwerden, auch wenn das Drehbuch von einem älteren Herrn, nämlich Nana Djordjadzes langjährigem Mitarbeiter und Ehemann Irakli Kvirikadze stammt. Kvirikadze hatte zuletzt auch das Buch zu Bakhtiar Khudojnazarovs Luna Papa geschrieben, einem Film von ähnlich überquellendem Einfallsreichtum und überbordender Inszenierungslust. Denn 27 Missing Kisses ist auch ein 96-minütiger hochsommerlicher Ausnahmezustand. Eine Welt, wo Innen und Außen, Tag und Nacht, Gestern und Heute mit Leichtigkeit ineinander übergehen.

 

Einige der früheren georgischen Filme von Djordjadze aus den Achtzigern waren aus Zensurgründen noch nie im Kino zu sehen. Die französisch-georgische Koproduktion 10.001 Rezepte eines verliebten Kochs (1995) scheiterte künstlerisch an der allzu oberflächlichen Verknüpfung von West und Ost. Pierre Richard spielt nun auch hier wieder mit, in einer Nebenrolle. Nana Djordjadze ist, so sagt sie beim Interview, in den letzten Jahren dem Publikum näher gekommen. Und – mit diesmal neuen Produzenten – wohl auch sich selbst. Vielleicht ist es falsch, hier in den Kategorien von Anpassung und (nationalem) Ausverkauf zu denken. Dieser Film hat ein großes Publikum verdient.

 

Silvia Hallensleben

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in epd Film  (26.06.2001)  

 

 

27 Missing Kisses

BRD/Georgien 2000. R: Nana Djordjadze. B: Irakli Kvirikadze. P: Jens Meurer, Oliver Damian. K: Phedon Papamichael. Sch: Vessela Martschewski. M: Goran Bregovic. T: Norbert Gaisbauer. A: Diana Vazadze. Ko: Larissa Djordjadze. Pg: Egoli Tossell Film/Le Studio Canal Plus/Moco Films/British Screen/Studio Babelsberg/Wave Pictures. V: Arthaus. L: 96 Min. Da: Nuza Kuchianidze (Sybilla), Evgeni Sidichin (Alexander), Shaco Iashvili (Mickey), Pierre Richard (Kapitän), Amalia Mordvinova (Veronika), Levani (Pjotr).

Start: 21.6.01 (D).

 

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