zur startseite

zum archiv

25 Grad im Winter

 

 

(eine Berlinale 2004-Kritik)

 

Eine Frau ohne Mann, eine Tochter ohne Mutter, eine Mutter ohne Hemmungen, ein Vater ohne Plan, ein Bruder ohne Skrupel: macht einen Film ohne Makel. Regisseur Stéphane Vuillet hat das mittlere Wunder fertig gebracht, mit Geldern aus Frankreich und Belgien, Darstellern aus Spanien, Belgien und der Ukraine und einem schrägen Konzert vier schön durcheinander gesprochener Sprachen nicht etwa einen Europudding anzurichten, sondern die bezauberndste Creme Brulée, die zum Abschluss der Berlinale in den letzten Jahren gereicht wurde.

Die Geschichte, der man den Charme der Ausführung keineswegs ablesen kann, geht dabei so: Sonia, Mathematiklehrerin aus der Ukraine, sucht in Brüssel ihren vor Jahren dorthin abhanden gekommenen Mann. Sie soll abgeschoben werden, wird aber von Aktivisten befreit. Sie läuft Miguel in die Arme, dessen Frau sich nach New York aufgemacht hat, jetzt steht er da mit seiner kleinen Tochter und seiner redseligen Mutter, als unzuverlässiger Angestellter seines Bruders, der ein Reisebüro betreibt. Am Ende sind sie alle vier unterwegs, auf der Suche, gestrandet in mehr als einer Hinsicht und raufen sich zusammen zu einem Happy End von der Sorte, die man nur den gewitztesten Filmen durchgehen lässt.

 

Filmen, bei denen es schon mal passieren kann, dass das Thermometer am 12. Januar auf sagenhafte 25 Grad steigt. Oder dass ein Mann, der rennt (Miguel), durch puren Zufall vor einem Werbeplakat zu stehen kommt, auf dem ein Mann zu sehen ist, der rennt. Das hat nicht die mindeste Funktion in der Erzählung, das platzt rein in diesen Film, aus heiterem Himmel und verschwindet wieder, wie eine Seifenblase, die in Nichts zergeht. Und es ist genau das, was am allermeisten einnimmt für „25 degrés en hiver“, was auch die vielleicht zweimal zu oft gezeigten Kulleraugen der Tochter auf der Stelle verzeihen lässt: diese unbändige Lust des Buchs am Detail. Wo Ken Loach seinen Besinnungsaufsatz streng, fast lustlos exekutiert, da fällt der Blick hier ein ums andere Mal da hin, wo er nicht hingehört. Auf ein ausgestopfte Katze etwa, auf einen Torero inmitten wenig interessierter Kühe, auf Carmen Maura pinkelnd im Gras. Der Film erlaubt sich Scherze wie den Auftritt von Altenheimbewohnern als Zombies – und demonstriert damit die der Komödie, die er sein will, gemäße Entschlossenheit, für einen gelungenen Gag noch seine Großmutter zu verkaufen.

 

Und anders als die ersten Bilder fürchten lassen – sie zeigen das Kommando der Anti-Deportations-Liga in Aktion – will Stéphane Vuillet einem, im Gegensatz zu den unerträglicheren „Topicals“ dieses Festivals, keineswegs eine Botschaft überbraten, ja, er will einem nicht mal das Herz brechen. Der Film ist stattdessen ganz Auge, ganz Ohr für Nebensächlichkeiten, in denen sich Hauptsachen spiegeln, gebrochen ins Alltägliche und Komische und dabei verblüffend Konkrete. Kein anderer Film des Wettbewerbs informiert so präzise über die Hungerlöhne, die heutzutage gezahlt werden, und nicht nur in Reisebüros. Kein anderer Film nimmt im Sprung die Distanzen von der Ukraine über Belgien nach Spanien und New York, nebenbei noch von Wallonien nach Flandern, von jung zu alt, von der Großstadt zum flachen Land, von genau hier nach überall. Kein Grund, seine Leichtfüßigkeit gegen die schwierigeren Meisterstücke im stärksten Wettbewerb seit Jahren auszuspielen. Aber das reine Vergnügen, das ist „25 degrés en hiver“ allemal.

 

Ekkehard Knörer

 

Dieser Text ist zuerst erschienen bei:  Jump Cut

 

25 Grad im Winter

Belgien / Frankreich 2004 – Originaltitel: 25 degrés en hiver – Regie: Stéphane Vuillet – Darsteller: Jacques Gamblin, Carmen Maura, Ingeborga Dapkunaite, Raphaëlle Molinier, Pedro Romero, Loubna Azabal, Laurence Vielle, Patrick Massieu – Länge: 90 min. – Start: 27.1.2005

 

zur startseite

zum archiv