zur startseite
zum archiv
Der 24. Stock
In einem Hochhaus des Frankfurter
Bergs kommen die Mieter des 24. Stocks zu Wort. Die Kamera zeigt ihre Lebensumstände,
den Seniorenclub, den Weg zum Einkaufszentrum. Als Kontrast erscheinen Altbauwohnungen,
die Fassade des frankfurter Hauptbahnhofs und – gleich zu Beginn – ein Ausdruckstanz
auf dem Dach des Kommunalen Kinos (Maria Christiana Leven). – Im zweiten Teil
des Films interviewt Praunheim Kommunalpolitiker und Vermieter (Neue Heimat).
Ein Trickfilm-Teil macht Verbesserungs- und Verschönerungsvorschläge.
Die städtebauliche Alternative findet sich jedoch in den Niederlanden.
Praunheim zeigt Bilder von einer Rundreise im Architektenbus. Für den Frankfurter
Berg fordert er Neubausanierung und Eigeninitiative. Die zuständige Ortsgruppe
der Grauen Panther ist dafür ein Beispiel.
1.Teil:
Als erstes ist Praunheim selbst
zu sehen. Er berichtet, wie er »versonnen am Ufer der Nidda saß
und den giftigen Abwässern nachträumte«. »Die Städte,
die ich durch meine internationale Filmtätigkeit kannte«, boten ein
anderes Bild als die elf Hochhäuser im frankfurter Stadtteil Berkersheim,
dem Frankfurter Berg. Der Tristesse und Misere dieses Kunstbaus wird gleich
in der zweiten Sequenz Kontra geboten; die große Tänzerin Maria Christiana
Leven zeigt im Flattergewand ihr expressives Können. Mitten in der City.
Auf dem Dach des Kommunalen Kinos. Den Römer im Hintergrund. Und das ist
das Stichwort/-bild für Frau Leven, von den Ersten Römerberggesprächen
zu berichten, deren Veranstaltung sie durchgeführt hatte. Sie verspricht
sich und macht einen neuen Ansatz.
Der Film stellt die Mieter des
24.Stock vor. Frau Vogt singt, allein und einsam, »Gott gehorchen macht
frei«, die Kamera stöbert in der Hl. Schrift herum, in der die Merksätze
unterstrichen sind. Dann flüstert die religiöse, aber kranke Mieterin
vernehmlich: »Ich kann jetzt nicht mehr.« Das Straßenschild
»Julius-Brecht-Straße« erinnert an die Neue Heimat, die Vermieterin.
– Eine ostpreußische Witwe zeigt die Briefmarkensammlung ihres Mannes,
der nach 39 Jahren Ehe verstarb. Es wird im Film nicht ausdrücklich gesagt,
daß dies die 70jährige Frau Mischwitzky ist; doch hat der Regisseur
publiziert, daß es sich um seine Mutter handelt. Sie lobt den 63er Bus,
der in der einen Richtung direkt zum Hauptfriedhof, in der anderen zum Einkaufszentrum
am Weißen Stein in Eschersheim fährt. Sie weist mit Recht darauf
hin, daß man Betunien (»mein ganzer Stolz«) möglichst
frühzeitig pflanzen muß. Mit dem Feldstecher guckt sie auf einen
der schönen Sonnenuntergänge hinter dem Balkon. Die Kamera verliert
sich in Aquarelltönen.
Eine Nachbarin wird gezeigt. Sie
lobt Frau Mischwitzky: »Ihre Mutter war die einzige, die mich zum Fernsehen
eingeladen hat, zum Farbfernsehen.« Sie sagt das dem – im Bild abwesenden – Gesprächspartner
asynchron. Auf der Mattscheibe läuft »Mainz bleibt Mainz«.
Im Seniorenclub, und das ist wieder dokumentierte Wirklichkeit, sitzen traurige
Greisinnen mit Narrenkappen. Ein Kinderchor ermuntert: »Oma hilf uns doch
mal aus, die Kinder sind allein zu Haus.« Es ist das traurigste Bild des Films.
Zu Aufnahmen von Altbauwohnungen
hört man Rentnerstatements übers Wohnen auf dem Frankfurter Berg.
Die Antwort des Beinamputierten, der über lange Unterhosen eine Karnevalsjacke
trägt, erscheint als Insert: »Ich habe hier nichts zu leiden, wenn
ich mich nicht schummrig verhalten tu.« Doch er fürchtet:
»Die kommen bald, die verhaften mich. Ich bin der Drahtzieher hier, der
die Regierung stürzt, Adolf, Adolf II.« Die greisen Mieterinnen fürchten Adolf II. nicht, wohl aber
die Amerikaner aus der nahegelegenen Kaserne, denn »es gibt auch Schwarze,
die den Alten die Tasche wegnehmen: am Bahnhof Bonames«. Daher begleitet
Fraunheim eine Mieterin auf der Fahrt nach Frankfurt. »Ich bin froh, Herr
Mischwitzky.« Die Kamera zeigt den Ornamentenschmuck der Fassade des frankfurter
Hauptbahnhofs. Bilder einer Prozession. Und dann wildes Gezoome auf die Fassaden
vom Frankfurter Berg. Die Architekturen werden filmisch vereinnahmt. Der I.
Teil endet mit einem Kurz-Manifest (Praunheim, off): »Wir können
selbst dazu beitragen,
menschlicher zu wohnen. Von den Politikern halten wir nichts mehr.«
2.Teil:
Die Phänomene des 1.Teils
werden analysiert. Kommentar (Praunheim, off): »Die Profitsucht siegte.«
Bild: knüppelnde Bullen sowie ein Plakat, auf dem Wallmann strahlt.
»Sozialdemokratische Gesetzgebung ließ das zu« (Praunheim).
Das Bild führt den optischen Beweis für die verbale Behauptung: »Die
Neue Heimat bringt nichts in Ordnung.« Wer hilft ab? Der Film schneidet Szenen eines Fernsehfeatures
über die Grauen Panther in Philadelphia ein. Eine im 24.STOCK reichlich
ölig klingende Moderatorenstimme: »Margrit Cohn zeigt, daß
man auch vom Lehnstuhl aus soziale Kritik üben kann.« Praunheim zeigt Graue
Panther vom Frankfurter Berg. Der Kommentar (jetzt im praunheimschen Manifeststil):
»Wir wollen uns nicht mit Heintje-Liedern betäuben. Das System muß
sich ändern.«
Den Grauen Panthern folgt die
Vorstellung weiterer lokalpolitischer Gruppierungen. Der Bürgerverein vom
Frankfurter Berg singt zusammen mit amerikanischen Soldaten »The German
O Tannenbaum«. Everybody enjoys this song, und Herr Hoffmann bedankt sich
für die freiwillige Soldatenarbeit für den neuen Playground am Berkesheimer
Weg. Weil Herr Hoffmann die Wohnwagensiedlung »in Sichtweite der Hochhäuser«
nicht eben beifällig erwähnt, sucht die Filmkamera den Schandfleck
auf und kommt zu einem positiven Urteil. Herr Sauer, der in einem Insert als
Vorsitzender des Mieterbeirats Frankfurter Berg vorgestellt wird, beklagt die
Nichtbeteiligung des Bürgervereins am Stadtteilfest. Der SPD-Ortsverein
gibt ein unbefriedigendes Statement zum geplanten Jugendzentrum ab. Der Film
geht dem Vorwurf nach, Kaisers bescheiße als Monopol-Markt die Kunden vom Frankfurter Berg. Martin Berg,
Bürgermeister, macht in seinem Amtszimmer das »System des sozialen
Wohnungsbaus« verantwortlich. Doch Dr. Haverkamp will die – mangelnde
– Infrastruktur nicht der Neuen Heimat angelastet wissen. Der Film hat von den
Politikern genug. Er zeigt selbst die Utopie.
Nach dem Vorher/nachher-Prinzip
demonstrieren Fotoübermalungen in Animationstechnik Reformmöglichkeiten.
Private Gärten statt öffentlicher Rasen, Abenteuerspielplätze,
Werkstätten, ein Grillplatz, ein Cafe-Restaurant, ein Dachgarten mit Swimmingpool,
ein Freilichtfilmtheater. Statt der Hochhäuser wären jedoch erdnahe
Modelle besser. Die Animation zeigt Risse in den Hochhäusern, sie zerplatzen.
Alternativen sind in Holland zu sehen. DER 24.STOCK fährt mit. Es wird
fantastisch. Das Wohnschiff »Marihuana«, die Wohnungen in den Bäumen.
Der Praunheim-Kommentar fordert Neubausanierung und Eigeninitiative (statt Vertrauen
auf die Entscheidungen der Politiker): »Vereint sind wir stärker.«
Ein Gitarrist spielt vorm Abrißhaus: »Daddy, geh nicht fort von
Alabama«.
Der fast drei Stunden lange Film
ist in erster Linie eine Dokumentation, die durch die intime Kenntnis besticht,
die Praunheim vom 24.Stock hat. Die Dreharbeiten dauerten mehr als ein Jahr,
und das Drehverhältnis war 1:10. Die Asynchronität von Bild und Ton
erhöht die Glaubwürdigkeit der Beschreibung. Es erscheint plausibel,
daß die alten Mieterinnen ihre Meinung nicht vor aufgebauter Kamera, womöglich
ausgeleuchtet und einer Maskenbehandlung unterworfen, sagen, sondern ohne technischen
Aufwand neben dem schnell vergessenen Mikrofon. Das nicht-synchrone Bild zu
den vielen Statements dokumentiert die Beteiligung und das Engagement des Regisseurs,
der selbst Betroffener ist. Praunheims Konzept, die Regeln des – nur vordergründig
sachlichen – Features zu verletzen, führt zu einer, befreienden, Weiterentwicklung
der Dokumentation. Der Verstoß gegen journalistische Dogmen (sich vom
Interviewten persönlich-vertraulich ansprechen zu lassen, kommerzielle
Firmen beim Namen nennen, etwas sagen, was nicht zur »Sache« gehört)
machen den 1.Teil mehr als sachlich, nämlich gefühlvoll und fantasieerfüllt.
Die Verschmelzung von Architektur und Menschen, von Praunheim angestrebt, wird
freilich durch die vielen Zooms aufs Hochhaus nicht erreicht. Andererseits paßt
die Aggressivität, die die Zooms auslösen, ins Konzept des Films.
Im 2.Teil wird das Kaleidoskop
sowohl typischer wie expressiver Bilder von einer Anzahl Politikerstatements
belastet, in denen das Bild Amtsstuben und der Ton politisch abgesicherte Formulierungen
registriert. Dem Featurestil fehlt hier die Nähe und die intime Kenntnis der Personen, über
die Praunheim im 1.Teil eindrucksvoll verfügt hatte. All das ist zu sehr
handwerklich-journalistisch. Einzelne Sequenzen (wie die animierte Eigensanierung
der Hochhäuser) behalten gleichwohl ihren starken Eindruck. Von den Manifest-Sätzen
der Grauen Panther, Ortsgruppe Frankfurter Berg, die mit dem Pathos des Schwulenfilms
verlesen werden, hätte man sich wünschen mögen, daß sie
den ganzen 2.Teil des Films zur privaten Angelegenheit gemacht hätten.
Praunheims Absicht, die er mit
dem 24.STOCK verfolgte, war eine doppelte: eine öffentliche und eine private.
Einerseits sollte durch den Film bewirkt werden, mit den Bewohnern der Hochhäuser
etwas zu verändern, gar eine Bewegung zu initiieren, wie sie dem Schwulenfilm
folgte. Private Absicht war, das extreme Potential der Situation im 24.Stock
als Kraft- und Mutquelle zu nutzen. Im Gespräch mit Lindzee Smith berichtet
er von seiner Entdeckung, »daß die durchschnittliche Kleinbürgerklasse,
meist Frauen zwischen 50 und 70, viel verrückter sind als all die Superstars,
die ich in New York traf. . . (Sie) sind weitaus mehr paranoid und neurotisch,
und was das System ihnen antut, ist unglaublich. Eine Frau schlägt hin,
wenn die Klingel geht, sie hat jedesmal neue Prellungen oder Brüche. Sie
ist total neurotisch. Eine andere Frau kreischt. Die Nachbarn lauschen vor ihrer
Tür. Eine andere versucht, Opfer eines Unfalls zu werden, für den
sie den Staat haftbar machen kann. Wir als sogenannte Künstler mit all
unserer Fantasie können nicht extremer sein als diese Frauen.«
– »Ich freue mich darauf, alt zu werden.«
Das Hessische Fernsehen strahlte
(am 29. Dezember 1977) nur den 1.Teil aus. Die Verweigerung der Sendung des
2.Teils wurde vom Fernsehen im offiziellen Ablehnungsbescheid damit begründet,
daß dieser ein »verwirrendes, zerdehntes und nicht durchgeformtes
Konglomerat« sei." Vom Angriffsziel des 2.Teils – SPD und Neue Heimat
– war nicht die Rede. Sie regierten damals unangefochten. Der Sendetermin war
vor den Landtagswahlen. Die Mieter in Frankfurt wählten die CDU. Eine der
Schwulenbewegung vergleichbare Mieterbewegung kam nicht zustande. Der Film entstand
ohne Zusammenhang mit einer Basisbewegung wie den zeitgeschichtlich später
folgenden Hausbesetzungen in Frankfurt. Praunheim war mit dem 24.STOCK zu weit
vorgeprescht.
In den Programmkinos lief der
Film in voller Länge. Die Rezeption war freundlich. Kraft Wetzel rühmte
in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung
den »Schritt von der Beobachtung zur politischen Konsequenz«(FAZ,
7.9.1978) und damit den vom Fernsehen (bei der Erstausstrahlung) zensierten
2.Teil des Films.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Rosa von Praunheim; Band 30 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1984, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags
DER 24. STOCK
BRD 1977
Regie, Drehbuch: Rosa von Praunheim. – Drehbuch-Mitarbeit: Bert
Schmidt, Dorothee von Meding. – Kamera, Schnitt, Ton: Rosa von Praunheim, Bert
Schmidt. – Technische Mitarbeit: Dorothee von Meding, Axel Bücheler. –
Musik: Berlioz. – Regie-Assistenz: Bert Schmidt. – Trick: Bernd Rose. – Grafik:
Vollrad Kutscher. – Darsteller: Maria Christiana Leven, Bewohner eines Hauses
in Frankfurt-Praunheim, Mitarbeiter der Neuen Heimat, Lokalpolitiker. – Sprecher:
Rosa von Praunheim. – Produzent: Rosa von Praunheim im Auftrag des HR (1. Teil)
und des WDR (2. Teil). – Redaktion: Dietmar Schings (HR), Joachim von Mengershausen
(WDR). – Gesamtleitung: Rosa von Praunheim. – Drehzeit: Herbst 1976 – Herbst
1977. – Drehort: Frankfurt/M, Niederlande. – Produktions-Kosten: ca. 80 000
DM. – Format: 16 mm, sw & Farbe (Eastmancolor). – Original-Länge: 89
min. (l. Teil), 83 min. (2. Teil). – Kinoerstaufführung: 12.6. 1978, Harmonie,
Frankfurt/M; 2.11. 1978 2. Duisburger Film-Woche. – TV: 29.12. 1977 (HRIII,
nur I.Teil); 12.8. 1979, 13.8. 1979 (WDRIII/HRIII/ NDR III/SFB III/RB III).
– Verleih: Filmwelt (16 mm).
Der 2.Teil verwendet Ausschnitte eines Fernsehfeatures über
die »Grauen Panther« in Philadelphia.
zur startseite
zum archiv