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21
Gramm
Das
kalte Herz
Mit
„Amores
Perros“
wurde der Mexikaner Alejandro González Iñarritu berühmt.
In „21 Gramm“ erzählt er erneut hochdramatisch von Liebe und Tod. Ein Meisterwerk
– oder vielleicht doch nur eine Seifenoper der vertrackten Art?
Der
zweite Film eines Autors, so heißt es, sei der Schwierigste, weil er –
oft auf hoffnungslosem Posten – gegen alle Erwartungen anspielen muss, die sein
Vorgänger in die Welt gesetzt hat. Es ist nicht leicht zu entscheiden,
ob der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñarritu es seinem
Zweitling nun besonders schwer oder eher zu einfach gemacht hat. Denn „21 Gramm“
erinnert in so vielem an Iñarritus höchst erfolgreiches mexikanisches
Kino-Debüt „Amores Perros“, dass der Regisseur durchaus Gefahr läuft,
als zwanghafter Wiederholungstäter abgestraft zu werden. Andererseits könnte
genau dieser Wiedererkennungsfaktor langfristig Marken- und Marktwert erhöhen.
Drei
nur durch einen Autounfall miteinander verbundene Erzählstränge hatte
„Amores Perros“ damals unter einem Filmdach versammelt. Drei Schicksale sind
es auch jetzt wieder, und in „21 Gramm“ ist wieder ein Autounfall das Scharnier
zwischen den Personen und ihren diesmal enger und schicksalsträchtiger
verknüpften Geschichten. Die sind allerdings, der Erfolg macht’s möglich,
in dem von Universals Arthouse-Tochter Focus Features mitproduzierten Film in
die USA umgezogen – und besetzt mit der ersten Gilde US-amerikanischer Charakterdarsteller
wie Sean Penn, Benicio Del Toro und Naomi Watts. Dass „21 Gramm“ trotzdem nicht
aussieht wie Hollywood, ist wohl vor allem das Verdienst von Kameramann Rodrigo
Prieto und der Postproduktion. Sie haben dem farblosen Niemandsort der Handlung
einen expressionistischen Look aus grobem Korn, entfärbtem Licht und harter
Handfotografie gegeben, dessen Hyperrealismus fast ins Abstrakte zu zerfließen
scheint.
Eine
Ästhetik der Extreme: Auch inhaltlich gibt sich Iñarritu nicht mit
halben Sachen ab. Es geht um das Leben und den Tod und den nicht allzu großen
Raum dazwischen: Ein tödlicher Unfall, der einem anderen Menschen ebenso
neues Leben schenkt wie er dem vermeintlich Schuldigen Kraft und Lebensmut raubt.
Dieser Schuldige ist der Ex-Häftling Jack (Benicio del Toro), der – frisch
gekündigt – mit seinem Transporter eine halbe Kleinfamilie zu Tode fährt.
Den vom Kriminellen zum fanatischen Wiedertäufer Gewendeten stürzen
die Schuldgefühle ins Dunkel religiöser Verzweiflung.
Doch
das Herz des verstorbenen Familienvaters kann auch einem sterbenskranken Mathematikprofessor
(Sean Penn) das Leben retten. Und der ist nach seiner Genesung von dem Zwang
besessen, ausgerechnet die Witwe des Spenders (Naomi Watts) kennenzulernen,
einzige Überlebende der Familie, die ihren Verlust mit Drogen und Alkoholexzessen
betäubt.
Drei
Menschen also, deren Leben sich im Extremen trifft. Und eine in ihrer geballten
Schicksalswut durchaus telenovela-reife Geschichte. Vielleicht haben der als
Fernsehproduzent erprobte Regisseur und sein Autor Guillermo Arriaga diese Affinität
gespürt und deshalb die Zeitstruktur des Plots so durcheinander gewirbelt,
dass wir erst einmal tüchtig arbeiten müssen, um die Situationen überhaupt
einigermaßen ordnen zu können. Die „emotionale Ordnung der Dinge“
nennt Alejandro Gonzalez Iñarritu diese vorläufige Chronologie der
Ereignisse: Also darf die Liebesnacht vor der Annäherung kommen und das
Sterben vor der Genesung. Jedenfalls so lange, bis die künstlich erhitzte
Emotion auskühlt und am Ende alles seinen angemessenen – und reichlich
faden – Platz findet.
Dabei
wäre wohl jede der Geschichten, die hier zu ihrem blutigen Finale zusammengetrieben
werden, an und für sich durchaus erzählenswert. Schließlich
geht es um Dinge, die uns tagtäglich mit Wucht bedrängen. Doch Iñarritu
steuert seinen Film erbarmungslos ins Niemandsland metaphysischer Konstruktion.
Die titelgebenden 21Gramm etwa. 21 Gramm, das ist – scheinbar ganz konkret –
das Gewicht, das der menschliche Körper bei seinem Tod verlieren soll:
„Das Gewicht von fünf Münzen, einem Schokoriegel oder einem Kolibri.
Wieviel geht verloren? Wieviel ist gewonnen? Wieviele Leben leben wir?“ Ein
Regisseur, der durch seinen sterbenden Hauptdarsteller solche Fragen stellt,
bringt sein Werk exakt auf das Leichtgewicht eines sogenannten großen
Sat1-Schicksalsfilms.
Es
ist wohl vor allem die ausgefeilte Ästhetik, mit der Iñarritu und
sein Team selbst kritische Zuschaueraugen so weit trüben, dass etwa ein
Rezensent der britischen Filmzeitschrift „Sight&Sound“ zum Beispiel den
Autounfall gar mit dem 11. September in Beziehung setzt. Es ist die künstlich
hochgepeitschte Tonlage, die den Mangel an Substanz und Plausibilität der
dargestellten Emotionen verdeckt. Und es ist die zeitgymnastische Vermixung
des Plots, die ihre banale Herz-Schmerz-Botschaft metaphysisch verschwurbelt.
So viel Herz: Die Azteken hätten damit sicher Besseres anzufangen gewusst.
Silvia
Hallensleben
Dieser
Artikel ist zuerst erschienen im: Tagesspiegel
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diesem Film gibt’s im archiv
21
Gramm
– USA 2003 – Originaltitel: 21 Grams – Regie: Alejandro González Iñárritu
– Darsteller: Sean Penn, Benicio Del Toro, Naomi Watts, Charlotte Gainsbourg,
Melissa Leo, Clea DuVall, Danny Huston – Prädikat: besonders wertvoll –
FSK: ab 12 – Länge: 125 min. – Start: 26.2.2004
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