zur
startseite
zum
archiv
10e
chambre –
Instants d’audience
Raymond
Depardons aktuellste dokumentarische Auseinandersetzung mit dem französischen
Rechtsapparat ist ein überaus lebhafter Film u.a. über Taschendiebe
mit Berufsehre und Rechtsprechung als die Kunst angemessener Lösungen.
Und wer blöd über unbeholfene Kleinkriminelle lacht, ist gefälligst
selber schuld!
Jurisdiktion
will man uns freilich nicht erst als Entertainment verkaufen, seit Barbara Salesch
im Fernsehen zu Gericht sitzt. Gerade seit Ende der achtziger Jahre werden in
Gerichtssaal-Thrillern (u.a. A
Few Good Men,
Primal
Fear,
Amistad)
wieder eifrig die Schauwerte lackglänzender Gerichtssaal-Holzvertäfelungen
und die Knopfdruck-Emotionen geigen-unterlegter Schlussplädoyer-Überwältigungsrhetorik
gemolken. Ob auf den aufgeblasenen Star-Spielwiesen nach Grisham oder in den
"realitätsnah" dilettantischen Trash-Dramen auf RTL und SAT 1,
das Bangen um die unschuldig Angeklagten oder die ihr Recht einklagenden Opfer
ist dabei nur das halbe Vergnügen. Mindestens ebenso wichtig ist die Befriedigung,
den wirklich Schuldigen, von der Ordnung Abweichenden zuzusehen, wie sie sich
am Ende vergeblich aus dem strengen, aber gerechten Klammergriff Justitias zu
winden versuchen. Da die Täter im ersten Fall gerne korrupte Eliten-Angehörige
aus Wirtschaft, Politik oder Militär sind und im zweiten intrigant oder
zumindest deviant, kann man sich seine deppensicher dirigierte Schadenfreude
noch irgendwie als ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zurechtlegen.
Wirklich
unappetitlich wird es allerdings, wenn dieses Sehschema auf offensichtlich mit
ihrer Lage überforderte Klein- und Kleinstkriminelle umgelegt wird. Die
10e
chambre,
die zehnte Gerichtskammer, befasst sich mit solchen Menschen, mit Vergehen wie
Trunkenheit am Steuer, Taschendiebstahl und Rauschgiftbesitz in kleinen Mengen.
Der Regisseur und Fotograf Raymond Depardon, bekannt vor allem für seine
fiktiven wie dokumentarischen Auseinandersetzungen mit Kolonialismus und Wüstenlandschaft,
nahm diesen Schauplatz der Produktion von Recht von Mai bis Juli 2003 unter
die Kameralupe. Er erhielt die Erlaubnis, Prozesse mit Kameras zu begleiten
und in Ausschnitten zu zeigen. Dass das Faktum der Dreherlaubnis überhaupt
einer Erwähnung wert ist, zeugt schon allein von der besonderen Bedeutung
des Gerichtssaals als geschützter wie paradoxer, weil in seiner öffentlichen
Funktion tief ins Private greifender Raum der staatlichen Disziplinierung souveräner
bürgerlicher Individuen.
Die
Bilder, die 10e
chambre
mit Respekt vor den Menschen aus diesem Raum geborgen hat, ergeben einen von
der ersten bis zur letzten Minute spannenden Film, der von staatlicher Ordnung,
Machthierarchien und Selbstdarstellung genauso handelt wie von Taschendieben
mit Berufsehre, von bockigen Wracks mit Schusswaffe und von ehemals unbescholtenen
Bürgern, die sich so plötzlich auf der anderen Seite des Gesetzes
wiederfinden, dass sie an die eigene Schuld nicht so recht glauben können.
Die primitiven Instinkte des Schweiß-Blut-und-Körperkino-Fanatikers
in uns allen mögen sich noch so dagegen wehren, aber diese stille, aufmerksame
Gerichtssaal-Doku ist vor allem einmal ein verblüffend lebendiger, vielschichtiger,
ja, trauen wir uns nur: ein unterhaltsamer Film. Deshalb aber eben auch einer,
dem es – weil er sich um mehr und anderes kümmern will, als die Angeklagten
extra noch in Schutz zu nehmen – passieren kann, dass sich ein Publikum um ihn
herumschwindelt und ihn auf die platteste aller möglichen Weisen liest:
als Lustspiel.
Natürlich
gibt es ein Element des Komischen im Gerichtsalltag, wie ihn Depardon einfängt.
Sogar von der Sorte "zum Verzweifeln komisch": Etwa die abgründige
Brandrede eines narzisstischen Jungverteidigers über die Macht der Liebe
– zur Rechtfertigung eines Mannes, der seine Geliebte mehrmals misshandelt hat.
Und natürlich: Je klarer und unanfechtbarer der Tatbestand ist, dessen
sie bezichtigt werden, desto demütigender werden die Selbstrechtfertigungen
und Verschwörungstheorien der Angeklagten, die sich vor der Staats-Autorität,
verkörpert von Richterin Michèle Vernard-Requin, winden, ihr Fehlverhalten
erläutern, verständlich und verzeihlich machen wollen. Das ist bisweilen
grotesk anzusehen, gerade weil es sich so naheliegend anfühlt.
Und
trotzdem war es unheimlich, im Oktober bei der VIENNALE zu beobachten, was das
für eine Hetz gegeben hat beim Publikum, als beispielsweise ein wegen illegalen
Waffenbesitzes angeklagter, sichtlich zerrütteter Mann in einer Tour zusammenhanglosen,
zerdehnten Blödsinn redete, weil er sich vorher zur Beruhigung mit Tranquilizern
vollgestopft hatte. Da hat sie ordentlich was zu geifern gehabt, die gute, alte
Freude, dass es einen selber nicht getroffen hat. Derart eindimensionales Amüsement
über die Unbeholfenheit beziehungsweise Hilflosigkeit gesellschaftlicher
Randexistenzen ist (falls man das wirklich ausschreiben muss) nicht die Absicht,
nicht der Tonfall dieses Films. Vielleicht hätte eine Differenz zu solchen
Lesarten deutlicher gemacht werden können. Etwa, indem man die Inszenierung
sichtbarer gemacht hätte, die dieser Film notwendigerweise ist. Damit wäre
zumindest eine Distanz aufgebaut worden, die eine Rezeption nach den eingeübten
Unterhaltungs-Reflexen einer Sitcom erschwert hätte. Die Angeklagten mussten
übrigens jeweils extra ihre Erlaubnis geben, damit das Drehteam ihren Prozess
filmen durfte. Schon deshalb sollte man über die Menschen, die man da kennen
lernt, nicht zu schnell urteilen, sie waren immerhin alle "mutig genug,
sich in einem Moment äußerster Demütigung filmen zu lassen",
wie es Depardon ausdrückt.
Dokumentarfilme
sind ja in der Regel dann am irritierendsten, wenn sie sich selbst nicht
zum Thema machen. Wenn sie uns weismachen wollen, dass sie alles nur beobachten,
so als würde man sich vor einer Kamera nicht anders verhalten, als wäre
sie schon immer da, und man würde nur jetzt mal auf den Überwachungsmonitor
gucken. 10e
chambre ist
keine Ausnahme. Gerade weil dieser Film so lebendig ist, die Menschen und ihre
Geschichten, die uns Depardon über das Brennglas der Institution Gericht
in Fragmenten vorführt, so vielfältig sind, verstört es umso
mehr, dass die Kamera für niemanden im Film ein Thema ist, dass alle mitspielen,
als wäre sie nicht da. Nur einen der Angeklagten sehen wir dabei, wie er
sich auf die Kamera bezieht, an uns, an das Publikum wendet, als höhere
Instanz der Gerechtigkeit, weil er sich von der im Film behandelten hintergangen
fühlt – oder zumindest gern diesen Eindruck erwecken will.
Im
Vorspann wird uns mitgeteilt, dass die Namen der Angeklagten aus rechtlichen
Gründen für den Film geändert wurden. Sie werden nicht einfach
überblendet, die Angeklagten und Zeugen werden tatsächlich während
der Verhandlungen mit
anderen Namen angeredet,
aber auch darüber schweigt sich der Film des Weiteren aus. Finde nur ich
das komisch?
10e chambre nimmt das Gericht pragmatisch in den Blick, ohne Illusionen,
aber keineswegs desillusioniert: als einen Ort, wo der Staat nolens volens versuchen
muss, Recht zu produzieren. Wir kriegen immer wieder dasselbe Schema einer Gerichtssitzung
zu sehen: Befragung der Angeklagten durch die Richterin, danach Plädoyers
von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, nächster Fall. Und nach einigen
Fällen werden die gesammelten Urteile
der jeweiligen Verhandlungs-Session von der Richterin verlesen. Diese einfache
"Genre"-Struktur hilft zum einen, das wuchernde Leben, das dieser
Film aufzeichnet, die verschiedenen Charaktere, Fälle, Geschehnisse anhand
einer klaren Spannungsdramaturgie zu bündeln. ("Wie strategisch klug
verhält sich der/die Angeklagte? Wie wird die Richterin entscheiden?"
Ja, das funktioniert auch hier.) Zum anderen lässt uns dieses Fließband
der Wahrheitsfindung erkennen, dass Recht in erster Linie eine Praxis ist, etwas,
das Fall für Fall neu ausverhandelt, abgewogen und schließlich gesprochen
werden muss. Ob der Angeklagte glaubwürdig Reue zeigt ist dabei ebenso
ein Kriterium wie Vorstrafen und – bei Geldstrafen – finanzielle Möglichkeiten.
Und manchmal muss auch über Dinge mitentschieden werden, die nicht in die
eigenen Kompetenzen fallen, wenn sich zum Beispiel erweist, dass ein Angeklagter
seine Identität mit nichts belegen kann.
Letztendlich
ist die Perspektive des Films, gerade weil sie im Wesentlichen neutral ist,
die der einzigen Person, die über die verschiedenen Prozesse hinweg dieselbe
bleibt: der Richterin Vernard-Requin. Deren täglichem Ringen um vertretbare
Kompromisse und Lösungen zollt der Film deutlich Anerkennung, ohne in plumpe
Affirmation staatlicher Ordnungsmächte zu verfallen. Dass Recht immer auch
ein Ergebnis seiner Anwendung ist, das ist bei Depardon kein Freibrief zur Willkür,
sondern ein Aufruf zu verantwortungsvollem Suchen nach angemessenen Lösungen.
Dieser
Text ist auch erschienen in:
10e
chambre – Instants d’audience
(Frankreich
2004)
Regie:
Raymond Depardon
Dokumentarfilm
mit:
Michèle Bernard-Requin u.a.
zur
startseite
zum
archiv