Wolfgang
Staudte
1957 kam „Der
Untertan“ mit bald sechs Jahren Verzögerung in die westdeutschen Kinos. Die
soeben gegründete Zeitschrift „Filmkritik“ widmete in ihrer Märznummer
Diederich Heßling und seinem frischen Schmiss das Titelfoto. Wolfgang Staudte
wurde Leitbild der nonkonformistischen Münchener Zeitschrift, deren
Autoren die Studenten Enno Patalas, Wilfried Berghahn und Theodor Kotulla
waren. „Die Staudte-Story, ein gesamtdeutsches Märchen: Die Beschränktheit
west-alliierter Offiziere machte Staudte zum Defa-Regisseur, die Blindheit
westdeutscher Produzenten sorgte dafür, dass er’s wieder wurde, und die
Dummheit eines Bundesministers trieb ihn zum drittenmal über die Grenze“ (Fk
3/57-33 f.).
In Hamburg waren
Ulrich Gregor und ich im studentischen Arbeitskreis Film und Fernsehen aktiv.
Seit 1954. Drei Jahre später – wir waren kaum Mitte 20 – fanden wir in Staudtes
„Untertan“ artikuliert, was unser Unbehagen an der autoritären restaurativen
Adenauerrepublik und ihrer feuilletonistischen Filmkritik war. Ich
glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass „Der Untertan“ das
entscheidende Erlebnis war, politisches Bewusstsein zu entwickeln. Ende 1957
begannen wir, für die „Filmkritik“ zu schreiben.
Inzwischen war in
der Mai-Nummer der Zeitschrift zu Staudtes „Untertan“ ein grundsätzlicher
Artikel erschienen, der zu politischem Engagement ermutigte – und der
die Heinrich-Mann-Verfilmung als Konkretisierung des Adorno-Denkens feierte.
Theodor W. Adorno war Gott der „Filmkritik“, Staudte gehörte zum Olymp.
Rückblickend gesagt: „Der Untertan“, Staudte, hatte uns politisch motiviert.
Und wir waren nicht allein. „Wie aktuell die Aussage des Films ist, beweist
seine Aufnahme in der Bundesrepublik: … die Besucher des münchner
Uraufführungskinos bedachten die mahnenden Schlussworte des Sprechers in den
meisten Vorstellungen mit spontanem Beifall!“ (Fk 5/57-69). Das Besondere und
Einmalige war, dass Staudte für seine Zwecke souverän cinematografische Mittel
einsetzte. „Rosen für den Staatsanwalt“ war „der erste bundesdeutsche Film, bei
dem das Vergnügen an der brillanten Form zusammenfällt mit der Lust an der
Einsicht, die er vermittelt“ (Enno Patalas Fk 11/59-293).
In Hamburg trafen
wir Wolfgang Staudte nicht im studentischen Arbeitskreis Film und Fernsehen an,
wohl aber in der Hamburger Gesellschaft für Filmkunde, einem elitären Zirkel
der Eltern- und Großelterngeneration. Staudte stellte dort 1966 seinen
Fernsehfilm „Die Rebellion“ – wir hatten ihn 1962 mit heißem Kopf in der ARD
gesehen – zum Thema „Meine Erfahrungen als Filmregisseur vor“, protokolliert in
den von der Gesellschaft herausgegebenen „Hamburger Filmgesprächen“ (Band III,
1967, S. 125). Staudte hatte zurückgeblickt, resignativ, und wir zählten den,
den wir eben noch bewundert hatten, zu den Vätern, die wir neuerdings nicht
mehr im Blick hatten. Oberhausen! Der junge deutsche Film! Auch wir waren jung!
Opas Kino ist tot!
Undankbare Söhne
(Enkel?) waren wir. Wir hätten in Hamburg mit Staudte näher in Kontakt kommen
können. Kamen wir aber nicht. 1958 hatte er hier die Freie Filmproduktion
gegründet, deren Ende eben „Die Rebellion“ war. Aber auch, wenn sich der Fokus
verändert hatte, blieben meine Kinoerfahrungen. Auf den „Untertan“ und die
ersten Staudte-Filme führe ich zurück, dass es ging, beides zu machen: in der
Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg als Staatsanwalt
Naziverbrechen zu verfolgen und gleichzeitig engagiert Filmkritiken zu
schreiben. „Um zu verstehen, … muss man sich an Momente der eigenen Erfahrung
erinnern“, schrieb Peter Nau 1972 in der „Filmkritik“ zu Staudtes „Fluchtweg
St. Pauli“ (Fk 2/72-103), und Rainer Gansera sieht im Fernsehdokumentarspiel
„Madame Curie“ den Zuschauer in der Position des kritischen Beurteilers, „so
dass am Schluss der Zuschauer damit beginnen kann, für sich den Film
zusammenzusetzen. Also, die Sendung noch einmal ausstrahlen“ (Fk 12/72-622). Kurzum,
Staudte strahlt aus.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text
wurde anlässlich Staudtes 100.Geburtstag (am 9.10.2006) geschrieben für den:
film-dienst