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Von
der Kunst zum Kino und zurück
David Lynch und
sein neuer Film Inland
Empire
Bei den Filmfestpielen in Venedig im letzten Jahr
hat der neue Film von David Lynch, der dort den „Future Film Festival Digital
Award“ erhielt, Kritik und Publikum gespalten. Die einen ließ er ratlos
zurück, die anderen lobten die labyrinthische Erzählweise. Lynch selbst
hat über Inland Empire gesagt, er sei ein Blick durch „verschwommene
Scheiben des menschlichen Ichs auf dunkle Abgründe“ – wie viele andere
Lynch-Filme zuvor auch. Georg Seeßlen, Autor eines Buches über Lynch,
hat sich den Film vor dem Hintergrund von dessen Gesamtwerk angesehen.
David Lynch gehörte in den Achtzigerjahren zu
den wenigen Regisseuren, die nach dem Scheitern von New Hollywood eine sehr
eigenwillige Filmsprache in die Traumfabrik retten konnten: ein Autor, dessen
Karriere vom Kampf des Künstlers mit dem Apparat gekennzeichnet war und
an Höhen und Tiefen reicher war als die der meisten Filmemacher seiner
Generation. Frühen Ruhm brachte ihm der unter den Bedingungen des Underground
Movie entstandene Eraserhead (1976) ein, ein düsteres, verschlüsseltes,
albtraumhaftes und zugleich tief komisches Werk, das ebenso gut in die Kultvorstellung
der Midnight Movies wie in die Kunstgalerien passte. Mit Der
Elefantenmensch (1980) bewies
Lynch, dass er auch mit den Gegebenheiten der professionellen und arbeitsteiligen
Filmindustrie umgehen und Narrationsregeln befolgen konnte, ohne seinen Stilwillen
zu verlieren. Aber dann entstand mit der Verfilmung von Frank Herberts Dune – Der Wüstenplanet (1984) ein wahres Fiasko, das Dokument eines verlorenen
Kampfes, eine der schönsten Filmruinen der Kinogeschichte. Jemand wie Lynch
konnte das mittlere Kino der Qualität revolutionieren, nicht aber das Fantasy-Blockbuster-Kino.
Postmodernes Kino
Eine Art Friedensangebot zwischen der Produktion
(De Laurentiis) und dem Autor war die Möglichkeit, einen „kleinen“ Thriller
zu drehen, und so entstand Blue
Velvet (1986), ein verstörender
Blick auf die Nachtseite der amerikanischen Provinz und eine Reise ins Unbewusste
mit ganz und gar neuen Mitteln. Blue
Velvet war wie ein Aufbruchsignal
für ein Kino, das man später „postmodern“ nannte und das sich vom
Diktat der klassischen Script-Logik zu befreien begann. Und mit Blue Velvet
begann auch die Arbeit der internationalen Lynch-Dechiffrierungsverschwörung;
an keinem anderen Regisseur arbeiteten sich die Fans, die Kritiker, die Theoretiker
und Leute, die von alledem ein bisschen sind, so ab wie an den geheimnisvollen,
anspielungsreichen, irritierenden, traumhaften, mehrfach übermalten, ironischen,
gewaltsamen und nicht zuletzt ungeheuer schönen Bildern von David Lynch.
Mit Wild
At Heart (1990) drehte Lynch
eine furiose, aber gegenüber dem streng komponierten Blue
Velvet fast verspielte und zugleich
in seinen Gewaltszenen sogar als obszön empfundene Variation seiner Motive,
die das gerade erst entstandene Lager der Lynch-Aficionados auch schon wieder
spaltete. Erneut drohte Lynch wieder vom Zentrum an die Peripherie der Bilderfabrikation
gedrängt zu werden, zumal er sich zwischen den Filmprojekten eher für
den Kunst- als für den Kinodiskurs interessierte. Zwischen den Filmen organisierte
er Ausstellungen seiner Gemälde, seiner Fotografien und seiner Möbelkreationen,
drehte bizarre Musikclips wie „Industrial Symphonies“ und verweigerte sich,
gewiss gestützt auf seinen mittlerweile unbestrittenen „Kult-Status“ zwischen
Pop und Kunst und Hollywood, zwischen Trash- und High-Culture, zwischen Europa
und den USA, den üblichen Traumfabrikritualen.
Das nächste große Comeback war die gemeinsam
mit Mark Frost konzipierte Fernsehserie „Twin
Peaks“ (1989), ein „Mystery-Crime“
avant la lettre und eine lange, mäandernde Reise in den sozialen und sexuellen
Untergrund einer kleinen Stadt im Norden der USA. Satire, Mysterienspiel, Krimi
und das Spiel mit den Lynchismen machte eine „Gemeinde“ süchtig; „Twin
Peaks“ wurde zu einem der größten Fernseh-Kulte der frühen Neunzigerjahre.
Noch einmal gelang das Kunststück, eine ganz und gar eigensinnige, provokative
und nach wie vor geheimnisvolle Bildwelt auf dem Mainstream-Markt durchzusetzen.
Lynch musste nach Abschluss der Serie noch einmal an diesen magischen Ort zurückkehren,
und mit dem Kinofilm Twin
Peaks: Fire Walk With Me (1992)
drehte er einen Nachklang, der beide Zuschauergruppen ratlos machte, jene, die
sich eine Fortsetzung, und jene, die sich eine Erklärung für die TV-Serie
gewünscht hatten.
Zumindest kommerziell ausgesprochen glücklose
weitere Fernsehprojekte wie „On the Air“ folgten, Werbeclips für Yves Saint
Laurent und Calvin Klein, gescheiterte Projekte wie eine Verfilmung von Franz
Kafkas „Verwandlung“. Der Film Lost
Highway (1996) entstand dann
schon unter ganz anderen Produktionsbedingungen. Gedreht wurde in Lynchs eigenem
Haus, für die bescheidene Budgetierung sorgten die europäischen Partner
von Canal plus. In den USA reichte der Film nicht mehr über den Kreis der
Arthouses hinaus, und während sich die Dechiffrierungskommandos wieder
auf die endlos geflochtene Geschichte vom Mörder, der sich in einen anderen
verwandelt, und auf eine Geschichte, die die Unterseite einer anderen Geschichte
ist, stürzten, blieb die Begeisterung des Kults ebenso aus wie die Anerkennung
durch das „offizielle“ Hollywood. In den Film- und Philosophieseminaren Europas
freilich war Lost Highway Anlass für wahrhaft unendliche Bearbeitung.
In einer Geste, der man durchaus Ironie unterstellen
könnte, drehte David Lynch 1999 daraufhin den Film, den niemand von ihm
erwartet hätte, und nannte ihn The
Straight Story (deutsch: Eine einfache Geschichte).
Eine sehr menschliche, scheinbar einfache Geschichte von einem alten Mann (namens
Straight), der vor seinem Tod seinen Bruder noch einmal sehen möchte, um
sich nach langem Streit mit ihm zu versöhnen, und der dafür mit einem
umgebauten Rasenmäher durch Amerika reist (durch ein Amerika, an dem an
allen Ecken und Enden die Lynchsche Unterwelt aufzubrechen droht). Hatte Lynch
seinen Frieden mit Amerika und seinen straight
stories gemacht? Mit Mulholland
Drive (2001) kehrte der Regisseur
zu seiner „irrealen“ verspiegelten und verflochtenen Erzählweise zurück;
wieder erzählt er die Geschichte eines Menschen – diesmal ist es eine junge
Schauspielerin, die nach Hollywood kommt –, der über die Grenzen zwischen
verschiedenen Geschichten und verschiedenen Identitäten gerät. Mulholland Drive
versöhnte die Aficionados des Lynchismus, durch die düster-schöne
Stimmung, den Sex Appeal, die Musik und die Musikalität, den Reigen der
Motive und Obsessionen dieses Künstlers. Und noch einmal schaffte es David
Lynch, das Kino mit seiner Kunst zu erobern. Aber in die veränderte Filmlandschaft
passte ein Film wie Mulholland Drive nicht mehr als Signal ästhetischer Revolte,
sondern nur noch als respektierter Klassiker der Filmmoderne. Nur wenige Kritiker
bemerkten, dass David Lynch dabei nicht nur eine Perfektion seiner Mittel erreicht,
sondern auch im eigenen Werk einen großen Schritt nach vorn gewagt hatte.
Konnte man die Filme von David Lynch bis Lost
Highway als verschlüsselte,
magische Autobiografien (und mystische, satirische Amerika-Bilder) lesen, so
wendet er sich in den Film-im-Film-Filmen mit den weiblichen Hauptfiguren vor
allem dem eigenen Medium und der eigenen Kompositionslehre zu. Sex, Gewalt,
Schrecken, Schock, Albtraum, Wunder, der Tod und etwas, was jenseits von ihm
geschieht, umgekehrte Geburten, bizarre Gestalten aus Märchen, die aus
den Fugen geraten sind, die Lynch-Ikonografie der Hotelflure und Flackerlichte,
seltsamen Bühnen hinter schweren Vorhängen, die Ästhetik der
Verlangsamung, das industrielle Rauschen aus einer fremden Außenwelt,
die schrägen Musiknummern dazwischen, die Übertragung von Ähnlichkeiten
in Fremdheiten, die Traum-im-Traum-Sequenzen, die Transzendenz-Bilder, die absurden
Americana, David Lynch-regulars, die Konstruktion der „Handlung“ in autonomen Zellen,
die Wiederkehr von Zeichen und Farben, selbst die Bewegung der Protagonisten
am Leitfaden von Angst und Begehren – all das gibt es auch in David Lynchs neueren
Arbeiten. Aber es ist mit einem solchen Formbewusstsein und mit solch innerer
Harmonie bearbeitet, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, die größte
denkbare Weltpanik sei da mit der größten möglichen Ich-Gelassenheit
verbunden.
David Lynchs Hinwendung zur „transzendentalen Meditation“
und zur „Foundation for Consciousness-Based Education and World Peace“ hat seine
Filme offensichtlich an der Oberfläche nicht friedlicher und harmonischer
gemacht. Würde man dies innerhalb eines Lynch-Filmes sehen, so wäre
ohnehin nicht zu klären, wie viel Ironie und Brechung es enthält.
Und doch ist das System Lynch offener geworden. Und die Sehnsucht nach dem harmonischen
Maß so überwältigend wie die Zärtlichkeit gegenüber
dem einsam leidenden Menschen.
Die Produktionsbedingungen für Lynchs Filme
entfernen sich zunehmend von denen der Traumfabrik und nähern sich denen
des solitären Künstlers an. Inland
Empire hat er selber finanziert,
mit ein wenig Hilfe von Canal plus. Lynchs Frau Mary Sweeney übernahm die
Produktion, und über das Budget herrscht Stillschweigen, vielleicht weil
es im traditionellen Sinn ganz einfach nicht existierte. Die Stars werden ganz
sicher nicht die Gagen erhalten haben, wie sie sie aus ärmeren Hollywoodproduktionen
gewöhnt sind, und ihren Marktwert werden sie nicht unbedingt erhöhen;
sie arbeiten aus anderen Motiven mit David Lynch. In die Kinos der USA kam der
Film nicht mehr über einen normalen Verleih; der Regisseur musste die Distribution
und die Werbung (vorzugsweise über das Internet) selbst übernehmen.
Ein Armutszeugnis für die amerikanische Filmkultur, schimpften Kritiker,
die den Film mehrheitlich mit Sympathie erwarteten. Aber vielleicht eine vollkommen
konsequente Entwicklung. Lynchs „Bewerbung“ für den Oscar war eine entsprechende
Aktion zwischen Poesie und Protest: Er führte eine Kuh auf dem Sunset Boulevard
spazieren, um darauf aufmerksam zu machen, dass Laura Dern den Academy Award
verdient hätte. Dort aber, wohin David Lynch und Laura Dern in Inland Empire
hingelangt sind, gibt es keine Oscars mehr.
Inland Empire
ist David Lynchs erster Film, der auf Digital- Video-Material gedreht wurde,
und darin überträgt sich eine Direktheit, eine bizarre Aktualität,
so als wäre der Traum nicht mehr auf Zelluloid aufgehoben, sondern wäre
gegenwärtig und vorläufig. Das Kunstwerk, das seine technische Reproduktion
bedenkt. Die schnellere und billigere Arbeitsweise nun verleitet möglicherweise
auch dazu, Quantitäten zu erzeugen, die den routinierten Kinozuschauer
an den Rand seiner Aufmerksamkeitsspanne bringen. Drei Stunden dauert Inland Empire,
auch wahrnehmungspsychologisch eine reine „Unzeit“. Dabei entstand vielleicht
so etwas wie eine Digest-Zusammenfassung des Lynchismus, womöglich auch
der erste „Lynch-Film“ des David Lynch. Wie so oft bei diesem Autor mag man
den Eindruck haben, es handele sich zugleich um einen Abschluss und einen Neuanfang.
Inland Empire und die Kuh auf dem Sunset Boulevard
Lynch hat das Drehen auf Digital Video für Beiträge
zu seiner Webseite erprobt und sich in das Material, wie er selber sagt, „verliebt“.
Er preist die neue „Freiheit“, die man beim Drehen und bei der Postproduction
damit gewinnt. „Für mich gibt es keinen Weg zurück zum Film“, sagt
der Autor, was ästhetische Entscheidung und ökonomischen Zwang miteinander
verbinden mag. DV wird zum Experimentiermaterial für den audiovisuellen
Künstler, der gleichsam aus dem Kopf arbeitet und keine Zugeständnisse
mehr machen und keine zermürbenden Verhandlungen mit der Produktionsseite
mehr führen will. Was nun entsteht, ist so reiner Lynch wie bei einem Maler,
den man mit seinen Farben und seiner Leinwand arbeiten lässt, ohne ihm
dreinzureden.
Während in den früheren Lynch-Filmen ein
offenes System aus seltsam geschlossenen Bildern entstand (jede Einstellung
war gleichsam auch ein Gemälde), entsteht es nun zu einem Teil aus offenen,
in gewisser Weise unfertigen Bildern. Tatsächlich spielten diesmal auch
Vor-Arbeiten, einzelne Installationen, Fotoprojekte (einige davon in der Retrospektive
der Fondation Cartier in Paris ausgestellt) sowie autonome Filme (Darkened Room, Rabbits)
eine wichtigere Rolle für einen Prozess, der nicht zuletzt auch Collage
ist und schon damit auch Sammlung und Rückschau. Die „Dialoge“ von Rabbits
etwa, die im ursprünglichen Film nichts als konkrete Poesie waren, wundersame
Leere, bekommen in Inland Empire nun eine neue Funktion: Sie „bedeuten“, sie liefern
Muster der Komposition und, einmal mehr, des Dechiffrierungsspiels. Auch das
Internet spielt in der Kunstkonzeption des David Lynch eine andere Rolle als
bei den Medienmultiplikationen des traditionellen Verwertungsprozesses audiovisueller
Produkte. Hier sind es Arbeitsskizzen, Entwürfe, Teillieferungen, die die
Lynch-Gemeinde abrufen und in die sie hineinwirken kann. Die Anfänge von
Inland Empire
bestehen aus Kurzfilmen, die Lynch für das Netz oder in ihm realisiert
hat. Der Film Inland Empire ist das Zentrum eines größer angelegten
Kunstprojektes, das wiederum eine Zusammenfassung des großen Kunstprojektes
David Lynch ist.
Damit verliert Lynch freilich ein wenig von dem,
was ihn in seiner Karriere bis dahin so einzigartig machte, nämlich die
Fähigkeit, die Freiheit seiner Kunst in die Traumfabrik selber zu tragen
und mit „Twin Peaks“ sogar in die Fernsehgemeinde der Primetime. Nun, längst
im Rang eines Klassikers, kann er abseits der industriellen Bahnen arbeiten,
sehr frei, aber auch ein wenig isoliert. Seine neue Arbeitsweise ist ein Medium
der „huge exploration“ (Lynch), und nicht zuletzt erlaubt DV ein anderes Arbeiten
mit den Schauspielern. Sie spielen gewissermaßen nicht mehr zum „Cut“
oder zum Ende des Filmmaterials, sondern bis zur eigenen Erschöpfung. Eine
Art Anti-Image-Arbeit ist da zu beobachten. Die Performance ist zweifellos flüssiger,
insbesondere Laura Dern scheint sich in die Situation zu steigern „bis zum Exzess“,
wie man so sagt. Dern „stellt“ nicht „dar“, sie exploriert. Man kann sich vorstellen,
wie groß Respekt und Vertrauen zwischen Regie und Darstellung sein müssen,
und man kann sich vorstellen, welche Rolle das leichte und bewegliche Material
dabei spielt.
Inland Empire
beschreibt einen Zustand gewiss; zugleich aber ist es auch ein ganz konkreter
Ort, eine düstere Gegend an der Grenze zur Wüste in der östlichen
Nähe von Los Angeles. Die glanzvolle Seite der Stadt, die in Mulholland Drive
noch eine so bedeutende Rolle spielte, kommt hier nicht vor. Wieder geht es
um zwei Frauen, deren Wege und Erscheinungen ineinander verwoben sind, und wieder
ist eine von ihnen ein blonder Filmstar. Allerdings diesmal nicht am Anfang,
sondern wohl auf einer Linie zwischen Höhepunkt und Ende der Karriere.
Eine Art Prolog beschreibt einen Akt des Tausches von Liebe und Geld, Mann und
Frau in einem Hotel ohne Identität; die Gesichter gleichsam digital ausradiert.
Dann erst bekommt, nachdem der Mann sie verlassen hat, die Frau ein Gesicht:
eine dunkelhaarige junge Frau in einem einsamen, alten Hotelzimmer. Sie weint,
während im Fernsehen eine typische Comedy-Show läuft, das Bildschirmlicht
spiegelt sich in ihren Augen. Eine Couch (wiederum dem „imaginären“ Fernsehen
zugewandt, wie man sie von Al Bundy und den Seinen kennt) im Wohnzimmer, dahinter
die Küche und das Bügelbrett. Sätze ohne Bedeutung, Tür
auf und zu, dazu Gelächter vom Band. Alles wie gewohnt. Nur dass die Menschen
in diesem Ambiente riesige Kaninchenköpfe tragen.
Und da ist diese ebenso berühmte wie distinguierte
Schauspielerin, Nikki Grace, in den Dreißigern vielleicht; sie erhält
in ihrer schlossähnlichen Villa den Besuch einer rätselhaften neuen
Nachbarin (Grace Zabriskie, die wir kennen aus Lynchville), die mit riesigen
Augen, seltsamen Sprüchen und einem offenkundig osteuropäischen (polnischen)
Akzent ein böses Spiel eröffnet. Es beginnt mit dem üblichen
Smalltalk, dessen Doppelbödigkeit noch nicht bemerkt werden muss („I hear
you have a new role“), und findet sich zu zwei kleinen Parabeln, polnischen
Märchen, angeblich: Als der Junge hinaus in die Welt ging, um zu spielen,
wurde das Böse geboren und folgte ihm. Als das Mädchen hinausging,
um zu spielen, verlor es sich auf dem Marktplatz. Die Frau scheint von Nikki
Grace viel zu viel zu wissen, um eine harmlose Nachbarin zu sein. Und noch etwas
nimmt sie vorweg, den Fall einer zivilisierten Konversation in die Welt der
schmutzigen Wörter. Dass sie „that kind of talk“ nicht dulden mag, sagt
Nikki, was sich auf die obszönen Wörter wie auf die Prophetien des
Gastes beziehen mag. Denn die „Nachbarin“ hat Nikki davor gewarnt, die Rolle
anzunehmen, die ihr für das Projekt „On High in Blue Tomorrows“ angeboten
ist. Dort, sagt sie, warten die Dämonen. Wie wahr.
Eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte
Das „Orakel“ der „neuen Nachbarin“ ist nicht nur
eine Darstellung dessen, was in der Welt des (kinematografischen) Rollenspiels
geschieht, es ist eine Deutung des Kommenden, wenn auch weder die einzige noch
gar die „richtige“. Aber die einfachste Zugangsweise zu Inland
Empire ist, das Gespräch zwischen
der Nachbarin und Nikki Grace gleichsam Wort für Wort als Modell für
das kommende Geschehen zu benutzen wie auch die Konstellation der „Rabbits“-Show.
Es ist, genauer gesagt, eine Prophezeiung, die Nikki genug versteht, um sie
mit Angst zu erfüllen, und zu wenig, um sich gegen das kommende Unheil
zu wappnen. „Ees eet about marriage?“, fragt die Nachbarin nach der listigen
Art der Hexen. Genau darum wird es gehen. Wieder also erzählt der Film
die Geschichte einer Schauspielerin, die bei der Filmarbeit die Rückkehr
in die Wirklichkeit verpasst und immer tiefer von einem Albtraum in den anderen
fällt, aber er erzählt zugleich die Geschichte einer Ehe, eines Betruges,
einer Eifersucht und eines Mordes.
Die Proben für den Film beginnen. Der Regisseur
Kingsley, gespielt von Jeremy Irons als sehr britisches Selbstzitat, erklärt,
dass der Film schon einmal in Polen gedreht werden sollte. Aber die beiden Hauptdarsteller
wurden ermordet, und die Dreharbeiten abgebrochen. Die Story gehe im Übrigen
auf eine alte Zigeunerlegende zurück, als sei das noch nicht Fluch genug.
Aber Nikki und ihr Co-Star Devon lassen sich ihre Chance davon nicht nehmen;
für Nikki ist es vor allem eine Chance für ein Comeback, die letzte
vielleicht. Aber etwas anderes ist offensichtlich noch wichtiger: Die Ehe an
der Seite des eifersüchtigen reichen polnischen Mannes (Peter J. Lucas)
kann sie nicht ausfüllen, das Spielen vor der Kamera ist ihre einzige Chance,
der Unzufriedenheit, ihrem Gefängnis zu entkommen. Es geht nicht nur um
die Karriere, es geht um das Leben.
Aber der Mann erkennt die Gefahr. Wenn sie eine Affäre
mit Devon beginne, so warnt er sie, werde das ernste Konsequenzen haben. Nikki
sehnt sich danach, diese Grenze zu überschreiten, und so verliert sie die
Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit am Leitfaden der Sexualität. Der
Albtraum, oder die Abfolge der Albträume, das ist, wir sind noch auf der
Ebene der einfachen Erklärungen, das Ineinander von Begehren und Verbot.
Das Umkreisen von Lust und Angst. Traumarbeit. Ausgelöst von einem der
dunklen Väter, die ihren Besitz, die Frau, mit unsagbarer Gewalt zu behaupten
pflegen in Lynchville. Ob nun Nikki und Devon eine Affäre miteinander haben
oder doch „nur“ Sue und Billy, die Figuren, die sie spielen, das verliert seinen
klaren Unterschied. Aber das ist nicht so verwunderlich. Träumen wir nicht,
was wir nicht leben dürfen? Und träumen wir nicht für jede Sünde
auch die Strafe mit?
Das Ganze ist ja auch deutbar als ein Märchen,
von Hänsel und Gretel vielleicht hat auch die Nachbarin gesprochen, oder
ist Nikki Grace ein neues Schneewittchen, das von der bösen Hexe den vergifteten
Apfel erhalten soll? Erinnern wir uns, er bestand aus einer gesunden und einer
tödlichen Hälfte. Und darum muss Schneewittchen fliehen, in eine Wildnis,
wo sie, zum Beispiel bei sieben Zwergen (bei sieben Huren, sieben Tänzerinnen
des „Loco-Motion“) Zuflucht sucht, fliehen davor, ermordet zu werden oder selbst
zur Mörderin zu werden. Zweifellos hat sie eine Doppelgängerin (aber
die Doppelgängerin hat wiederum eine Doppelgängerin); ein alter Film
spukt in einem neuen, einer, der nie beendet wurde, in einem, der gerade entstehen
soll.
Mehr und mehr vermischen sich Film, Wirklichkeit
und Film-im-Film. Von einer Tür zur anderen wird die Situation der Heldin
trostloser und verzweifelter, mehr und mehr muss sie sich als vollkommen allein
gelassen empfinden, mehr und mehr ist Angst ihr Begleiter. Hinter der eher melodramatischen
Geschichte von „On High in Blue Tomorrows“ lauert eine andere, finstere Geschichte.
Sue Blue oder Nikki Grace, Gnade oder Dunkelheit, befinden sich dabei in einem
dunklen Haus, zusammen mit einer Gruppe von Frauen, ein Chor von Huren, und
sie verbinden die Geschichte mit einer anderen, die in einer winterlichen polnischen
Stadt, irgendwann in den Dreißigerjahren spielt, und auf dem schmutzigen
Hollywood-Boulevard der Gegenwart. Und von da an zurück zur Herstellung
eines Films. Worum es indes immer geht: die Macht der Männer und die Leiden
der Frau.
Nikki „stirbt“ vor der Kamera, und Lynch gönnt
ihr, in der Gemeinschaft Gestrandeter auf der Straße, die alle wieder
ihre Geschichten haben, eine bemerkenswert schöne Szene. Aber so endet
Lynch nicht – noch einmal muss Nikki die Seiten wechseln, und sie wechselt konsequent
auf die der Zuschauer. Im Kinosaal schaut sie sich selber auf der Leinwand an,
diesen Raum zwischen dem Film und uns hat Lynch bislang ausgespart, und sie
fällt sogleich zurück in den Traum (in den Kaninchenbau unter dem
Kaninchenbau); umgekehrt endet der Film mit einer direkten Ansprache der Schauspieler
an die Zuschauer, sie müssen uns versichern, dass es „nur“ ein Film war
(und natürlich nährt genau diese Versicherung den Zweifel daran).
Die beiden Frauen verabschieden sich gleichsam vor dem Vorhang; „hot weird“
sagt die eine, wie um das Urteil des Zuschauers vorwegzunehmen.
Wie Mulholland
Drive kann man auch Inland Empire
vergleichsweise einfach in seiner Komposition beschreiben: Es ist eine Geschichte
in einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, die mehr oder weniger
die Geschichte ist, die vor der ersten Geschichte lag. Die Anzahl der Pforten
entspricht der Anzahl der inneren Geschichten, diese wiederum entspricht der
Anzahl der medialen Spiegelungen; zwischen den Geschichten gibt es wiederum
die gleiche Anzahl von Beziehungen. Am Ende hat sich eine Geschichte buchstäblich
enthüllt, indem sie ihre eigene Geschichte erzählt hat, die wiederum
… Wie gesagt, es ist eine durchweg logische und konsistente Konstruktion. Aber
damit ist nicht mehr gesagt als die Behauptung, eine Chopin-Etüde folge
einer musikalischen Logik, um genau dorthin zu gelangen, wo auch die musikalische
Logik nicht mehr zählt.
In Inland
Empire ist Lynchs Kino zum Kino der
Frau geworden, die das Kunstwerk in die Welt bringt, unter Schmerzen, gewiss.
Laura Dern ist dabei die perfekte Lynchian
woman; es ist nicht nur ihre Wandlungsfähigkeit
und ihr Mut zur Entäußerung, sondern vor allem die Bereitschaft,
das Subjekt und das Objekt des Märchens der Exploration zugleich zu sein.
Komplizin in einer Forschungsreise und Opfer gleichermaßen. Lynch bedankt
sich mit einer Zärtlichkeit, die er bislang noch keinem seiner Frauencharaktere
gegenüber gezeigt hat; er zeigt das Leiden der Frau diesmal ganz ohne den
Sadismus, den er vorher gelegentlich entwickelte. Man könnte fast meinen,
Inland Empire
sei ein Bild der Angst, das sich selber von der Angst befreit. Ein Lynch-Film,
der zu einem Laura-Dern-Film wird. Vielleicht könnte man aber auch einfach
behaupten, Inland Empire sei David Lynchs erster Liebesfilm.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in epd Film 4/2007
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
USA/Polen/Frankreich 2006. R, B, Sch, T: David Lynch.
P: Mary Sweeney, David Lynch. K: Odd-Geir Sæther.
A: Christine Wilson, Wojciech Wolniak. Ko: Karen Baird,
Heidi Bivens. Pg: StudioCanal/Camerimage 2/Asymmetrical/Inland Empire. V: Concorde.
L: 172 Min. Da: Laura Dern (Nikki Grace/Sue), Jeremy Irons (Kingsley), Justin
Theroux (Devon Berk/Billy Side), Harry Dean Stanton (Freddie), Julia Ormond
(Doris Side), Peter J. Lucas (Piotrek Krol), Terryn Westbrook (Chelsi), Diane
Ladd (Marilyn), Ian Abercrombie (Henry).
Start: 26.4.2007 (D, CH), 4.5.2007 (A)
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