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Überleben im Verteilungskrieg 

 

 

 

Filme, in denen in drastischer Weise Gewalt dargestellt wird und die bislang in Off-Kinos und der Videoszene als Geheimtip kursierten, sickern in die Mainstream-Filmkultur ein. Die antwortet mit einer Debatte, in der, wie gewohnt, das gesellschaftliche Substrat der gewalttätigen Bilder aus dem Blick gerät. 

 

In Quentin Tarantinos Reservoir Dogs stirbt ein Mann über die Dauer des gesamten Films – sichtbar, fast fühlbar sickert sein Blut aus einer Bauchwunde und vergrößert die Pfütze auf dem Boden. In John McNaughtons Henry. Portrait of a Serial Killer kann der Zuschauer das grauenhafte Geräusch hören, das entsteht, wenn einem Menschen das Genick gebrochen wird. Ebenso in Mann beißt Hund, dem Debüt dreier belgischer Filmstudenten, das einen Berufsmörder bei der Arbeit zeigt. Christoph Schlingensief zeigt Terror 2000 und richtet in der deutschen Provinz eine veritable Metzelei an. In der österreichischen/schweizer Produktion Benny’s Video schließlich dreht ein Teenager seine eigene Reality-TV-Show, und dabei kommt ein Mädchen vor laufender Kamera zu Tode.

 

Die Reservoir Dogs, von denen zuerst die Rede war, erreichten im letzten Jahr nur wenige deutsche Kinos, von der Kritik aber wurde Tarantinos Erstling als Meisterwerk gehandelt. Um McNaughtons Henry, der bereits 1986 entstand, rankten sich jahrelang Legenden. Die amerikanische Produktion wurde auf Underground-Festivals herumgereicht und kursierte als Video in der Szene; inzwischen hat sich der Film hüben wie drüben Meriten erworben – der Rezensent, der ihn verreißt, muß seine Meinung schon gut begründen. Einen offiziellen Kritikerpreis – den von Cannes nämlich – gab es für Mann beißt Hund. Der neue Film von Schlingensief wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen diskutiert, wobei es dem Regisseur in der Debatte mit Rolf Hochhuth und Günter Wallraff sichtlich schwer fiel, seinen Ruf als Enfant terrible des deutschen Films zu bestätigen: Die anderen wollten ihm den Furor nicht so recht abnehmen. Und über Benny’s Video hieß es in der »Neuen Zürcher Zeitung«, daß es sich nicht einfach um einen Gewaltporno handle, sondern um einen ästhetisch genau gezielten Schlag – Adolf Muschg hat kürzlich über diesen Fall in der »Frankfurter Rundschau« geschrieben.

 

Oberflächlich betrachtet und rein phänomenologisch trifft fürs Kino durchaus zu, was Kulturkritiker und Soziologen in Tagespresse und Nachrichtenmagazinen derzeit beklagen: Die Akzeptanz von graphisch expliziter Gewalt und rüden Schock-Effekten wächst. Dabei sind die Bilder selbst, die da auf uns einstürzen, gar nicht mal so neu. Signifikant ist eher, daß Filme, die – wie Henry – eigentlich zu einer Existenz im Off-Off-Sumpf verdammt schienen, die einschlägigen Kontrollinstanzen passieren und in den Feuilletons Anerkennung finden. Und daß die Topoi oder Motive, die ehemals das B-Picture kennzeichneten, unaufhaltsam ins Mainstream-Kino einsickern, daß das Widerständige, das ihnen ursprünglich innewohnte, zum bloßen Schauwert herabsinkt – erfolgreiche Thriller wie Lynes Verhängnisvolle Affäre oder Demmes Schweigen der Lämmer haben die Accessoires des anrüchigen Slasher-Films zum Bestandteil westlicher Lebensart gemacht. 

 

Mittlerweile kann eine amerikanische Großproduktion wie Frank Marshalls Überleben (ab Mai in Ihrem Kino) mit einer gewissen Nonchalance abgenagte Skelette in der Landschaft rumliegen lassen und Menschenfleisch als Häppchen servieren; die Geschichte von jenem Flugzeugabsturz in den Anden, der 1972 Schlagzeilen machte, weil die Überlebenden sich wochenlang von den Leichen der Verunglückten ernähren mußten, legitimiert sich schlicht über die »Authentizität« des Dargestellten. Marshall befindet sich damit schon in einer Gesellschaft, die er eigentlich fragwürdig finden müßte. Schon das Kinoplakat zu Tom Hoopers Kannibalismus-Klassiker The Texas Chainsaw Massacre (Blutgericht in Texas) warb Anfang der Siebziger mit den Sätzen: »Who will survive and what will be left of them?… What happened is true. Now the motion picture that’s just as real.« 

 

Ob erst die böse Wirklichkeit da war, oder ob die Filme das hervorbringen, was sie abzubilden vorgeben – darum kreist heute wieder die Debatte, als ob’s ein Stück aus dem Zensurstreit wäre, der nach dem Siegeszug der Videotechnik mit Vehemenz geführt wurde. Den Großangriff der Zombies bemüht der »Spiegel« noch immer, um vorzurechnen, wie viele »casualties« ein modernes Medienkind verkraften muß. Die ersten Filme der harten Welle, die boshaft-apokalyptischen Visionen einer trostlosen Welt, die amerikanische Regisseure wie Romero und Hooper entwarfen, waren seinerzeit tatsächlich eine Reaktion auf real erfahrene Gewalt und strukturelle Misere: auf die Berichte, die aus Vietnam kamen, auf die Auseinandersetzungen im Gefolge der Bürgerrechtsbewegungen, auf die Erkenntnis, daß die entwickelte Konsumgesellschaft eben doch nicht alle teilhaben läßt. Damals ließ sich ein ähnlicher Prozeß beobachten wie der, den wir zur Zeit im Zusammenhang mit Reality-TV und Pornographie erleben: Das neue Sub-Genre, dessen frühe Produkte in obskuren Mitternachtskinos vor eingeweihten Fans liefen, wurde vom Videomarkt aufgesogen und kommerzialisiert – zugleich aber traten die Jugendschützer und Moralisten auf den Plan. Eine Gesellschaft, die mit dem Grauen Kasse macht und zugleich die Übeltäter ausdeutet, verhält sich ungefähr so wie ein Unternehmen, das einen Profikiller anheuert und ihn nach vollzogenem Job wieder loszuwerden versucht: »They all hate the gun they hire.« 

 

Die Filmemacher der 90er können also einerseits mit dem Bedürfnis nach außerordentlichen Seh-Erlebnissen rechnen, das sich etwa in den Mystifikationen aussprach, mit dem der Kassen- und Kritikererfolg Das Schweigen der Lämmer journalistisch begleitet wurde: Das Böse erscheint aus dieser Sicht als etwas Archaisches – und wenn es wirklich zur Conditio humana gehörte, würde es sich wohl kaum je austreiben lassen. Andererseits wird der Prozeß der gesellschaftlichen Brutalisierung als allgemeiner Werteverfall, als Sinnverlust beklagt: Es ist opportun geworden, die Gewalttätigkeit der Verhältnisse wahlweise einer delinquenten Jugend, der Pop-Kultur, den politisch-pädagogischen Emanzipationsbestrebungen der 70er Jahre, den Medien, oder, wie Hans Peter Duerr es im »Spiegel« tat, den neuen Hedonisten, den »obsessiven Lustgewinnlern« der Me-Decade, anzulasten. Allemal gerät dabei die Frage nach dem tatsächlichen gesellschaftlichen Substrat der gewalttätigen Bilder aus dem Blick. 

 

Der einzige Film des neuen Trends – sofern es sich denn um einen Trend handelt – , der sich weder sozialpädagogisch auf Nebenschauplätzen müht noch der Faszination seines spektakulären Sujets verfällt, ist bezeichnenderweise derjenige, der unsere Kinos mit Verspätung erreicht hat, nämlich John McNaughtons Henry. Die Geschichte lehnt sich vage an die Vita des notorischen Serienmörders Henry Lee Lucas an, der sich selbst Anfang der 80er unzähliger bizarrer Delikte beschuldigt hatte, später aber alle seine Geständnisse widerrief, und dessen Fall trotz eines 1985 ergangenen Todesurteils nach wie vor ungeklärt ist. Das »true crime«-Moment bleibt dem Film freilich äußerlich: Schon im Vorspann distanziert sich der Regisseur mit Bedacht vom bloß vorgefundenen Stoff, und obwohl die Inszenierung so klinisch-distanziert wie kunstlos wirkt, kann von einem dokumentierenden Blick nicht die Rede sein. 

 

McNaughton, der auch als Autor verantwortlich zeichnet, nimmt mit einer kalkulierten Beiläufigkeit all die Argumente und Deutungsmuster vorweg, die die gegenwärtige Debatte beherrschen. Die Konzeption der eigentlichen Hauptfigur evoziert zunächst die Vorstellung jenes absoluten, undurchschaubaren Bösen, dem wir im Kino der letzten Jahre so häufig begegnet sind – Henry ist ein Soziopath, dessen Taten sich offenbar nicht der geringste Sinn abringen läßt; er tötet nicht um Geld oder Liebe; er empfindet bei seinen zahllosen Frauenmorden nicht einmal ein wie immer geartetes Vergnügen, sondern er begeht sie mit der beiläufigen Routine eines Handwerkers; psychologisierende Erklärungen schließlich bemüht der Film bloß, um sie ironisch zu hintertreiben. 

 

Henrys Freund Otis, der nach und nach in die hohe Kunst der Grausamkeit eingeführt wird, dabei aber nie die entsetzliche Effizienz seines Lehrers erreicht, ist einer jener klassischen Fälle von Delinquenz, über die sich Therapeuten gerne in Betroffenheit beugen – der Typ des Hooligans, der wie in einem Laborversuch explodiert, sobald eine Mischung aus sozialer Zurücksetzung und sexueller Frustration ihre kritische Masse erreicht hat. Im Vergleich der beiden Figuren wird deutlich, daß Henry keineswegs darauf abzielt, die Ursachen der Gewalt zu externalisieren; die Opposition charakterisiert vielmehr den kontrollierteren Henry als einen, dessen Defekt nicht einem Zuwenig, sondern einem Zuviel an Moral entspringt. Während Mann beißt Hund seinen Mörder von vornherein im kriminellen Halbwelt-Milieu verortet und Christian Schlingensief in Terror 2000 den faschistischen Gewalttäter zum »Perversen« verzeichnet – als Entgleisung entfaltet die schiere Brutalität in diesen Filmen gelegentlich noch einen etwas anrüchigen Glamour – , spürt McNaughton den konformistischen Zügen des Verbrechens nach: Sein Protagonist ist ein angepaßter, höflicher junger Mann, der konventionelle Umgangsformen pflegt und ein durchaus traditionelles Weltbild hat, ein etwas depravierter Nachfahre Peeping Toms und des Heckenschützen in Bogdanovichs Targets. 

 

Die Regie trennt über weite Strecken den Mörder von seiner Tat, und wenn vor den Augen des Publikums getötet wird, dann hat dieser Akt nichts von einer Grenzüberschreitung, nichts von dem Effekt, mit dem die Splatter-Filme der ersten Generation kokettieren konnten, weil es noch Tabus zu brechen gab und die Abnutzung der Bilder nicht abzusehen war. Henry illustriert an seinem Helden eher jene bedrückend-mechanische Gewalttätigkeit, die Max Horkheimer zu anderen Zeiten als Merkmal autoritärer Gesellschaften beschrieben hat: »In der perversen Pornographie der Sade und Masoch vermag Grausamkeit bewußt als Phantasie sich auszuleben und zum Genuß zu kommen. Die reale Schandtat macht von der Rationalisierung Gebrauch. In Zeiten des Kriegs, der solche Rationalisierung liefert, wie in Führerstaaten, verstummt die Perversion, die ihrer mächtig ist. Grausamkeit gegen den Feind, wie gegen die eigene Person, vermag sich auszuleben, wenn auch nicht zur Befriedigung zu kommen. Ihres sexuellen Wesens nicht bewußt, erstreckt sie gleichsam sich ins Unendliche, wird unersättlich.« 

 

Wenn man Henry glauben darf, dann braucht der zeitgenössische Staat keine äußeren Konflikte mehr, um seine Subjekte derart zu formieren – der Verteilungskampf im Innern hat längst die Züge eines Krieges angenommen. »Dezimier’ eine Sardinenbank, und sie helfen dir, sie einzudosen«, heißt es in Mann beißt Hund plakativ. McNaughton überläßt es dem Zuschauer, die Opfer zu zählen und nach Statusgruppen zu sortieren – wenn man sich die Mühe macht, zeigt sich, daß Henrys Wahl keine zufällige ist … 

McNaughtons Film, so scheint es, hat über Gewalt noch etwas Vernünftiges zu sagen, aber er ist keineswegs mehr repräsentativ, konterkariert er doch die Vorstellung, daß die Grausamkeit, so wie wir sie heute in den westlichen Gesellschaften vorfinden, sich einem Mangel an Affektkontrolle verdanke. Genau die fordern jene Kulturpessimisten ein, die das Scheitern des »Zivilisierungsprogramms« schlechthin proklamieren und nach Sicherheiten, nach Autorität, Zensur oder freiwilliger Selbstbeschränkung des Rezipienten verlangen. Zwischen den neuen Moralisten, einem Markt, der immer stärkere visuelle Reize fordert, und einer Szene, für die Horrorvideos das Signum der »Hipness« geworden sind, finden sich die zeitgenössischen Filmemacher allerdings in einer problematischen Position. Und sie sehen sich zuweilen denkwürdigen Konstellationen gegenüber – wie beispielsweise Christoph Schlingensief. Die Berliner Autonomen, die ungewollt die Arbeit der Tugendwächter verrichteten und seinem Terror 2000 ein Autodafé bereiteten, haben den Regisseur vielleicht nicht mehr als Repräsentanten der Gegenkultur erkannt, weil er einmal zu oft in Talkshows aufgetreten ist. Wahrscheinlicher aber möchte es sein, daß ihnen einfach das Kreuzberger Sputnik-Kino näher lag als der Zoo-Palast oder das Europa-Center, wo zur gleichen Zeit vermutlich Bodyguard lief.

 

Sabine Horst

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 05/1993 

 

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