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Blick
voraus im Zorn
Schon
als Kritiker brachte François Truffaut die “Nouvelle Vague” ins Rollen
– obwohl ein kräftiger Gegenwind blies
Ein
Sonnenbad zu nehmen, erwies sich als keine gute Idee. In der Spätsommerhitze
des Jahres 1956 lag der Starkritiker François Truffaut ausgerechnet neben
einem jener Regisseure, die er in Zeitungen regelmäßig angriff. Die
zwei Herren in Badehosen zogen vor, sich nicht zu kennen, obwohl der für
Journalisten und Filmschaffende reservierte Strandabschnitt in Cannes sonst
gern als Schaukampfplatz genutzt wurde. Die Front verlief freilich nicht nur
zwischen Machern und Kritikern. Truffaut selbst war innerlich schon geteilt:
drei Jahre später sollte er als Regisseur für sein Spielfilmdebüt
“Les quatre cents coups”
gefeiert werden. Ein Wendepunkt im französischen Kino, auf den Truffaut
zwischen 1954 und 1958 als Kritiker bereits hin arbeitete.
Bezieht
man den Titel seines stark autobiographisch gefärbten Erstlings auf
Truffaut selbst, so weisen die “vierhundert Schläge” auf psychische Blessuren,
die er in seiner Kindheit erlitt. 1932 geboren, wächst er als missachtetes
Kind auf. Die Mutter ist überfordert, der Stiefvater schwankt zwischen
Laissez-faire und drakonischen Strafen. Nachdem sich der Sechzehnjährige
als Leiter eines Filmclubs schwer verschuldet und einen Diebstahl begangen hat,
beruft sich Roland Truffaut auf das so genannte “patriarchalische Gesetz”.
Als “Vater eines schwer erziehbaren Kindes” lässt er François
in eine Besserungsanstalt einweisen. Es folgt ein Jahr voller Demütigungen
im Heim von Villejuif. Auch das erklärt Truffauts späteren Zorn, mit
dem er die Adepten des “Cinéma du Papa” verfolgt.
Schon
bevor man ihn wegschloss, hatte François sich den Filmkritiker André
Bazin zum geistigen Ziehvater erkoren, der als Sprachrohr der gemäßigt-linken
“Nouvelle Critique” galt. Obwohl nur flüchtig mit ihm bekannt, bürgt
Bazin für ihn: Truffaut kommt vorzeitig aus der Anstalt frei. Ein Jahr
später lässt sein Vorbild ihn die ersten Rezensionen für
die “Cahiers du Cinéma” schreiben, die im April 1951 von Bazin mitgegründet
wurden. Erst in der Januarausgabe 1954 erscheint eine von der Chefredaktion
zunächst auf Eis gelegte, weil mit heftigen Angriffen gegen etablierte
Kräfte gewürzte Polemik: “Eine gewisse Tendenz im französischen
Film” – so die Überschrift – bestehe unter anderem in dem von Moralinsäure
triefenden Blick von Drehbuchautoren und Regisseuren auf ihre Figuren. In der
darauffolgenden, heftig geführten öffentlichen Debatte wird Truffaut
nun seinerseits ein vorlauter, sogar klerikaler Ton vorgeworfen. Das hält
ihn keineswegs davon ab, von nun an auf direkten Realismus statt Formelhaftigkeit,
auf Aufrichtigkeit anstelle von Selbstgerechtigkeit zu insistieren. In
diesen grundsätzlich ästhetischen Forderungen an das Kino spiegeln
sich gesellschaftliche Mangelerscheinungen. Nach dem Krieg feierte Frankreich
seine Widerstandskämpfer und vergaß die Kollaborateure.
Der
Blick auf das Zeitgeschehen durch die Brille der Filmästhetik bestimmt
fortan den Kurs der “Cahiers”. Im Verlauf des Jahres 1954 treten junge linke
Kritiker wie Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und vor allem Jaques Rivette in
die Redaktion ein, die später als Regisseure die “Nouvelle Vague” prägen.
Tagsüber geht die Clique um “Truffette und Rivaut” ins Kino, dann trifft
man sich in der Redaktion auf den Champs-Élysées zum Debattieren.
Geschrieben wird nachts, für mageren Lohn.
Truffaut
kann jedoch ab 1954 vom Journalismus leben, denn im finanzkräftigen,
politisch rechts stehenden Wochenmagazin “Arts” erscheinen bis 1959 zahlreiche,
noch bissigere Artikel von ihm, in denen er die Positionen von Bazins Fachzeitschrift
popularisiert. “Im Unterschied zum amerikanischen Kritiker versteht sich der
französische als Rächer,” umschreibt Truffaut nun sein journalistisches
Credo, “Er erniedrigt die Mächtigen und erhebt die Schwachen.”
Zu
diesem Zweck teilt er in einem “Arts”-Pamphlet am 30. März 1955 die “gegenwärtig
neunundachtzig französischen Regisseure” in fünf Kategorien ein.
Altmeistern wie Jean Renoir oder Max Ophüls, beide unter Zeitgenossen
umstritten, räumt Truffaut einen Sonderplatz ein. Berühmtheiten wie
René Clair, Marcel Carné und Claude Autant-Lara schickt er in
die zweite Reihe, weist sie mit ironisch-abschätziger Formulierung dem
“französischen Qualitätskino” zu.
Im
Frankreich der Nachkriegszeit gibt die intellektuelle Linke den Ton an, Truffaut
reizt das zu noch heute befremdlichen Provokationen, die ihm in der Zeitschrift
"Positif" regelmäßig das Etikett "Faschist"
einträgt. Man kann das nachvollziehen, wenn man erfährt, dass Truffaut
Ende 1955 mit demonstrativer Freundlichkeit einen Tag mit dem Filmkritiker Lucien
Rebatet verbringt. Rebatet hatte während der Okkupationszeit dazu aufgerufen,
alle Juden aus Frankreich zu vertreiben.
Im
Vergleich dazu nimmt sich jenes Lob harmlos aus, das Truffaut 1958 dem antisowjetischen
"Jet Pilot" von Josef von Sternberg zollt. Zwar hält er den Streifen
für durchaus "dumm und propagandistisch", erblickt aber in den
Flugsequenzen pralle Erotik: “Ja, in diesem Film schlafen die Flugzeuge miteinander.”
Hier spricht der Erotomane mit Hang zum Fetischismus.
Es
ist eine Sinnlichkeit mit Sinn, die Truffaut praktiziert. Über den
Texten wölbt sich die "Autorentheorie", die Truffaut zusammen
mit André Bazin und den Kritikerkollegen der “Cahiers” entwickelt
hat. Das Prädikat “Auteur” gebührt nur einem Regisseur mit persönlicher
Handschrift. Die Aufnahme in den Olymp der “Cahiers” garantiert auch, dass das
gesamte Werk eines Sacha Guitry, Orson Welles oder Howard Hawks praktisch sakrosankt
ist. In Zweifelsfällen muss sich Truffaut mit Euphemismen helfen:
”`La Tour de Nesle´ ist, wenn man will, unter den Filmen von Abel Gance
der am wenigsten gute”.
Um
den Menschen hinter dem Werk zu sichtbar zu machen, greifen Truffaut und Rivette
im Januar 1954 auch zu einer radikal neuen Methode. Für ein Gespräch
mit dem Regisseur Jacques Becker bringen die Redakteure ein vier Kilo schweres
Grundig-Tonbandgerät mit und veröffentlichen fast das komplette Transkript
der Aufnahme. Was beim Radio bereits üblich ist, wird von Pressekollegen
als Innovation gewürdigt.
Auf
diese Weise führt Truffaut 1962 auch sein berühmtes 50-Stunden-Interview
mit seinem Hausgott: “Le Cinéma selon Hitchcock” erscheint 1966 als Meilenstein
der Filmliteratur. Truffauts letzte Großtat als Journalist, seine erste
als Filmbuchautor. In den Siebzigerjahren ediert er Sammelausgaben seiner eigenen
Rezensionen und Schriften, in denen einige Kritiken abgemildert werden.
Wo Truffaut retuschiert hat, erfährt der Leser nicht. Seine siebenundzwanzig
Hymnen über den Meister der Angst bleiben unangetastet. “Man hat Hitchcock
lange nach den Blumen beurteilt, die er in die Vasen stellte,” erläutert
Truffaut Hitchcocks – und sein eigenes – Desinteresse gegenüber ambitiösen
Inhalten, “heute merkt man, die Blumen waren immer dieselben, und seine Anstrengungen
galten der Form der Vase, ihrer Schönheit.”
Eine
seiner vielen Reden zu Hitchcock muss Truffaut im Winter 1983 absagen “Kaum
dem Nachtzug entstiegen, würde ich im Schnee versinken und verschwinden,
bevor ich nur den Namen des Meisters `Alfreddd´ gestammelt hätte…”
An dem Hirntumor, der ihm bereits Kraft raubt, stirbt François Truffaut
am 21. Oktober 1984.
Die
“Cahiers du Cinéma" leben noch, im Elfenbeinturm ihrer eigenen
Legende, anstatt der McDonaldisierung des Kinos kritisch zu begegnen. Schließlich
geht das Soufflé “amerikanische Filmkultur” – von Truffaut und Co einst
zu Recht aufgewertet – seit den siebziger Jahren in demselben Maß
ökonomisch auf, in dem es künstlerisch zusammenfällt. Trotz der
Steilvorlagen aus Hollywood lassen die Service-Rezensenten von heute das Gebiss
lieber im Glas. François Truffaut hat bewiesen, in welchem Maß
ein Kritiker geschmacksbildend wirken kann, wenn er Zähne zeigt.
Jens
Hinrichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen 2004 im Online-Magazin „Kulturen“
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