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Tobende Ordnung
Bemerkungen
zu einer Szene der Marx Brothers
Nach den traditionellen Gesetzen
des filmischen Erzählens ist eine Schiffskabine, in der sich ein blinder
Passagier versteckt hält, ein Schauplatz, auf dem wir uns halbwegs auskennen
und ein vertrautes Schema mit kriminellen und erotischen Verknotungen erwarten
dürfen. Die Eskapaden der Marx Brothers in A Night at the Opera (Regie Sam Wood, 1935) sind von anderer Art. Eine Schiffskabine
erfüllt nach ihrem Weltverständnis dann ihren Zweck als sinnvolle
Einrichtung, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, die sich scheinbar
absurd, in Wirklichkeit folgerichtig miteinander verknoten und – zum Beispiel
– dafür sorgen, dass das zur Verfügung stehende Raumvolumen mit blinden
Passagieren, Gegenständen und Körpern unterschiedlichster Bestimmung,
kurzum: mit lebender und toter Materie so eindrucksvoll verstopft ist, dass
von einer Nutzung eben dieser Schiffskabine nach Maßgabe der gesellschaftlichen
Übereinkunft darüber, wie eine Schiffskabine zu nutzen sei, nicht
mehr die Rede sein kann.
Die Verknotungen, die sich aus
solchen (Un-)Glücksfällen ergeben, sind von leiblicher Unmittelbarkeit
– oder aber sie treten als Wort-Verknotungen in den Dialogen auf: Wenn Groucho
(vor allem er) oder Chico den Mund aufmachen, erwecken sie den Anschein, als
suchten sie mittels Kommunikation einen Anschluss an die Normalität, während
sie sich praktisch so verhalten, dass alles Normale (oder was man gemeinhin
so nennt) ohne Aussicht auf Rettung in den Orkus des Absurden stürzt.
Die Schiffskabine also – denn
von ihr allein sei hier die Rede – erweist sich in der Welt der Marx Brothers
erst dadurch als authentischer Handlungsort, dass sie Wort- oder Körperverknotungen
oder beides ermöglicht. Eine wesentliche Voraussetzung ist bereits erfüllt,
wenn die Kabine viel zu klein ist, um ihrem regulären Bewohner und drei
blinden Passagieren Platz zu bieten. Verknotungen jeglicher Art werden unvermeidlich,
wenn zudem ein überdimensionaler Schrankkoffer – dem eben jene drei blinden
Passagieren entsteigen – die gegebene Räumlichkeit nahzu vollständig
ausfüllt, so dass sich Groucho mit einigem Recht fragt, ob es nicht praktischer
sei, die Kabine im Koffer anstatt den Koffer in der Kabine aufzubewahren. Der
Schauplatz, der ja immer auch immer Raum ist oder sein sollte, damit sich in
ihm szenisch-filmisch entfalten kann, was wir Leben nennen, schrumpft dramatisch;
er wird zerquetscht von einem raumverdrängenden Hohlkörper (dem Koffer),
der geräumig genug ist, um den Raum des Schauplatzes (die Schiffskabine)
zu ent-räumlichen und in seinem hohlen Leib verschwinden zu lassen. In
dem Maße, wie der Raum sich füllt, wird er im buchstäblichen
Sinn evakuiert. Vor allen Körperverknotungen findet also eine Raumverknotung
statt, die zum Ergebnis hat, dass der Schau- und Ereignis-Raum, in dem sich
im Film wie im Theater (ebenso wie in der wirklichen Wirklicheit) lebende und
tote Körper begegnen und zueinander Beziehungen herstellen können,
nahzu auf Null reduziert worden ist.
Mit dem Verschwinden des konventionellen
Handlungsraums entsteht eine Mischung aus Platz-Angst und Atem-Not, jedenfalls
eine Situation, die sich als nützlich erweist, um einen Zustand herbeizuführen,
in dem man „den Schauspieler verrückt machen“ kann, wie es Antonin Artaud
für sein „Theater der Grausamkeit“ gefordert hat. Eine Situation, in der
es möglich ist, einen Ort zu schaffen, „wo die menschliche Anatomie begriffen
und durch diese das Leben geheilt und regiert werden kann. Das Leben mit seinen
Aufwallungen, seinem Gewieher, seinen Blähungen, seinen Verkehrsstockungen,
seinen mit Blut vermischten Maelströmen, seinen empfindlichen Blutstürzen,
seinen Temperamentsknoten, seinen Wiederholungen, seinem Zögern.“
Im Fall der Marx Brothers lässt
das Leben mit seinem Gewieher und seinen Blähungen nicht auf sich warten;
unmittelbar nach der Raumverknotung ereignen sich die Körperverknotungen.
Sie ereignen sich in dieser Reihenfolge: Zunächst muss der schlafende Harpo,
der im Hemdenfach des Schrankkoffers aufgefunden wurde, um Chico herumgewickelt
und auf dem Bett abgelegt werden; sodann begehren zwei Zimmermädchen Einlass
in die als Raum nicht mehr vorhandene Kabine, um sie „aufzuräumen“; da
sie mit dem Bett beginnen, müssen sie sich mit Harpo verknoten; danach
arbeitet sich der Schiffsklempner samt Werkzeug zur Heizung durch, um die Wärme
zu regulieren; unmittelbar darauf stellt sich das Maniküremädchen
ein; Groucho bittet sie, seine Fingernägel in Anbetracht des zunehmenden
Platzmangels kurz zu schneiden; dem Mädchen folgt alsbald der Hilfsingenieur
mit dem Auftrag, dem Klempner zu assistieren, der seinerseits in den inzwischen
heftig wogenden Menschenverknotungen verschwunden ist; eine junge Dame schaut
zur Kabinentür herein und erkundigt sich, ob jemand ihre Tante Mimi gesehen
habe; da ihr niemand antwortet und auch Groucho sie nur freundlich willkommen
heißt, verknotet sie sich auf der Suche nach einem Telefon; danach kommt
noch die Frau mit dem Mop, um den nicht mehr auffindbaren Kabinenboden zu reinigen,
und am Ende drängen sich drei Kellner herein, um das von Groucho bestellte
Frühstück für die blinden Passagiere zu servieren. All dies geschieht
mit maschineller Planmäßigkeit: In einem unaufhaltsamen Automatismus,
wie ein Blutsturz, ergießt sich das wiehernde, aufgeblähte Leben
in Gestalt des Schiffspersonals in den Raum. In einen Raum, der sich schon zuvor
aufgelöst hat, der evakuiert wurde und der Verdrängung durch einen
Schrankkoffer mit drei blinden Passagieren weichen musste.
Wenn aber der Raum so unauffindbar
geworden ist, dass Groucho nicht weiß, ob der Schrankkofferdeckel, den
er öffnet, nicht tatsächlich die Kabinentür ist und umgekehrt,
müssen die Körper, die in ihn hinein quellen, sich notwendigerweise
unter-, mit- und ineinander verknoten. Sie bilden eine Körper-Masse, die
aussieht, als bestünde sie aus den Teilen eines einzigen zerfetzten Menschenkörpers,
der in dieser entsetzlichen Raumlosigkeit aus lauter Platzangst und Atemnot
explodiert ist. In Wirklichkeit aber hat eine Implosion stattgefunden: Der Raum ist „nach innen explodiert“, es gibt
keinen Raum mehr – nur noch die Menschen, die keinen Platz in ihm finden und
sich trotz dieser Misere so verhalten, als gebe es ihn noch.
Die Zimmermädchen krabbeln
übereinander hinweg, als wollten sie tatsächlich „das Bett machen“;
der Schiffsklempner und sein Hilfsingenieur schrauben sich halb an den Zimmermädchen
vorbei, halb durch sie hindurch zur Heizung, um die Wärme zu regulieren;
das Maniküremädchen sucht einen Spalt zwischen dem Schrankkoffer und
dem um die Zimmermädchen herumgewickelten, noch immer schlafenden Harpo,
um Groucho die Fingernägel zu schneiden; die junge Dame, die nach ihrer
Tante Mimi gefragt hat, windet und schlängelt sich aus einer Verknotung
in die andere, ohne jedoch das Telefon zu finden; die bärbeißige
Frau mit dem Mop konzentriert sich auf den mit Menschenleibern bedeckten Fußboden,
obwohl ihr Groucho empfohlen hat, sich zuerst um die Zimmerdecke zu kümmern,
und die drei Kellner jonglieren ihre Frühstücksplatten zielsicher
in die Lücken hinein, die zwischen den Wänden der Schiffskabine und
dem raumfressenden Schrankkoffer geblieben und nun mit Körperverknotungen
ausgefüllt sind.
Artaud beschreibt das Theater
als einen Zustand, „in dem man nicht existieren kann, wenn man nicht im voraus
zugestimmt hat, wie ein der Definition und dem Wesen nach definitiver Geisteskranker
zu werden“. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so stellt sich Theater dar
als „Bruch der geborstenen Glieder und Nerven“, „Brüche blutiger Knochen,
die protestieren, dass sie so aus dem Skelett der Möglichkeit gerissen
werden“: Theater als „unausrottbares und aufbrausendes Märchenspiel, das
zur Inspiration und zum Thema Revolte und Krieg hat“.
Tatsächlich finden in der
Schiffskabinen-Szene von A Night at the Opera mehrere Kriege statt, ohne dass Blut fließen würde,
ohne dass wir geborstene Glieder und zerbrochene Knochen zu sehen bekämen.
Es gibt den Krieg zwischen dem Raum und dem raumfressenden Auftreten von Körpern
und Gegenständen. Es gibt den Krieg der Körper unter- und gegeneinander,
der – konsequent zu Ende gedacht – nur mit dem restlosen Verschwinden der Körper
enden kann, da in einem Raum, der sich aus irgend einem Grund aufgelöst
hat oder verschlungen wurde, auch keine Körper existieren können.
Schließlich gibt es den Krieg des automatischen Ablaufs, auf dem das Realitätsprinzip
beharrt, gegen den Wahnsinn, gegen die rebellische Geisteskrankheit der Marx
Brothers, die eine Verschwörung angezettelt haben, um das Realitätsprinzip
zu unterlaufen.
Groucho arbeitet in dieser Szene
wie ein stoisch-besessener Türöffner und Fallensteller: Unablässig
komplimentiert er das draußen tobende Leben mit seinen Aufwallungen, seinem
Gewieher und seinen Blähungen, mit seinen Prinzipien und automatischen
Abläufen zur Kabinentür herein, um es zur Hölle zu schicken.
Vielleicht hofft er, in dieser Hölle der Raum- und Körperverknotungen
der Realität ihre Prinzipien austreiben, die Körper von ihrem Automatismus
trennen zu können. Aber der Wahnsinn der einmal in Gang gesetzten Abläufe
setzt sich gegen den rebellischen Wahnsinn der Marx Brothers durch: Das Realitätsprinzip
triumphiert und decouvriert im Augenblick seines Triumphes, dass es an Wahnsinn
nicht zu überbieten ist.
Kurz bevor die Schiffskabine auseinander
fliegt, sieht man eine unbeirrbar arbeitende, mechanisch stampfende Maschine
aus verknoteten Menschenleibern, von der jedes einzelne Teil ohne Blick und
ohne Verständnis für das Ganze seine Arbeit verrichtet. Das Ganze
wäre ja nichts als das absolute Chaos, das jeden einzelnen Arbeitsgang
überflüssig, weil sinnlos machen würde – umgekehrt entsteht das
Chaos erst dadurch, dass die einzelnen Arbeitsgänge, stur dem Realitätsprinzip
folgend, sich gegenseitig bedrängen, sich übereinander werfen und
sich umeinander herumwickeln, bis sie sich so verknotet haben, dass ein weiteres
Arbeiten nicht mehr möglich ist.
Jenseits der Raum- und Körperverknotungen
lässt sich der Kampf, der sich in dieser Schiffskabine abspielt, als dialektische Verknotung beschreiben, als eine
Art metaphysischer Verstrickung der Realität mit dem realitätsnegierenden
Prinzip, das die Marx Brothers repräsentieren. Sie repräsentieren
es in dem Maße, wie sie sich auf Verwicklungen mit der Welt des Normalen
einlassen; in dem Maße, wie sie sich von der Realität der Zivilisation
und der Geschäftsleute, der Erbschleicher und Theateragenten – kurzum:
von jener Realität, in der man Schiffsreisen macht und Verträge abschließt
– „einwickeln“ lassen. Sie lassen sich von ihr einwickeln, um sich katastrophisch-konvulsivisch
aus ihr herauszuwickeln, so wie sich Chico und Harpo aus dem Schrankkoffer herauswickeln:
Diese ganze Realität der normal genannten Geschäftsbeziehungen, die
ganze Zivilisation der Theaterverträge und Überseereisen ist nur eine
lächerliche, wenn auch raumverdrängende Verpackung, die man für
etwas anderes benutzen kann.
Groucho lässt sich von einer
Millionärin aushalten und spielt sich als Theateragent auf; schon aus diesem
Grund ist er genötigt, nach Amerika zu reisen und sich den Anschein zu
geben, als sei er es nicht gewohnt, sich mit einer Schiffskabine zu begnügen,
in der gerade noch sein Schrankkoffer Platz finden kann. Weil Chico sich als
Manager eines Sängers ausgibt, schließt Groucho mit ihm einen Teilhabervertrag
ab, den allerdings beide nicht lesen können – ebenso wie sich beide mit
der Tatsache abfinden müssen, dass der Sänger, mit dem sie reich werden
wollen, sich seinerseits als blinder Passagier im Schrankkoffer verstecken muss.
Ein Ozeandampfer, eine Schiffskabine, ein überdimensionaler Koffer: Das
sind Behältnisse, die man wie unterschiedlich große Schachteln je
nach Bedarf auch gegen ihren ursprünglichen Bauplan verwenden kann. Man
kann blinde Passagiere im Koffer und das halbe Schiffspersonal in der Kabine
verschwinden lassen, bis die ganze buchstäblich verschachtelte Realität
wie ein Kartenhaus zusammen bricht und, falls erforderlich, neu zusammen gesetzt
werden kann.
Die Raum- und Körperverknotungen,
die in dieser Szene zu besichtigen sind, finden also zusätzlich in einem
Tornado komplizierter metaphysischer Verschachtelungen statt. Der Raum verschwindet
dabei, und ganz am Ende, wenn das Raumvolumen dieser Kabine vor lauter Fülle
und Verknotungen nahezu auf Null geschrumpft ist, geschieht eine fürchterliche
Explosion. Die Millionärin, die von Groucho zum Rendez-vous bestellt wurde,
öffnet von außen die Kabinentür, der evakuierte, verschachtelte
und verknotete Raum zerbirst, und alles fliegt der Dame um die Ohren: Groucho
Marx, seine drei blinden Passagiere Chico, Harpo und der begabte, aber noch
unentdeckte Sänger, die beiden Zimmermädchen, das Bett, der Schiffsklempner
samt Werkzeugkasten, sein Hilfsingenieur, das Maniküremädchen, die
junge Dame, die ihre Tante Mimi sucht, die Frau mit dem Mop, die drei Kellner
mit ihren Frühstücksplatten und vermutlich auch (was in der Abblende
nicht mehr zu sehen ist) der Schrankkoffer, mit dem schon zuvor demonstriert
worden war, was geschehen kann, wenn ein Behältnis gegen seinen ursprünglichen
Sinn benutzt wird. Nach der Explosion zeigt sich: Auch eine Schiffskabine ist
ein Behältnis, das man für verschiedenste Verrichtungen und nicht
zuletzt für Verknotungen benutzen kann, bis es unmöglich geworden
ist, sie von außen zu betreten, ohne Gefahr zu laufen, von den Verknotungen
überrollt zu werden.
Ist dieser Punkt erreicht, so
hat sich ein Traum Antonin Artauds erfüllt, der 1947 seinem berühmten,
damals vom französischen Rundfunk abgelehnten Hörspiel Pour en finir avec le jugement
de dieu
die Regieanweisung beigab, alles müsse „haargenau in eine tobende Ordnung
gebracht werden“. In der Schiffskabinen-Szene von A Night at the Opera haben die Marx Brothers mittels der Verschachtelung und Entdimensionierung
des Räumlichen und mittels der Verknotung des Körperlichen eine tobende
Ordnung hergestellt, die „haargenau“ die Ordnung der alltäglichen Abläufe
abbildet: haargenau und überscharf, weil alles konzentrisch in einen kleinen
harten Kristall zusammen schießt, in dem kein Platz mehr für Unschärfen
oder vage Bedeutungen geblieben ist. „Das wahre Theater“, sagt Artaud, „ist
mir immer wie die Übung einer gefährlichen und schrecklichen Handlung
erschienen, wo übrigens die Idee des Theaters und des Schauspiels ebenso
verschwindet wie die jeder Wissenschaft, jeder Religion und jeder Kunst.“ Worum
es gehe, sei „die wahre organische und psychische Transformierung des menschlichen
Körpers“. Vermutlich haben die Marx Brothers in ihren Shows und in ihren
Filmen sehr zielstrebig an dieser Transformation gearbeitet. Sie haben dabei
den grenzenlosen Schrecken und die grenzenlose Heiterkeit des Körperlichen
entdeckt, sie miteinander verknotet und von innen nach außen gekehrt.
Klaus Kreimeier
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Roland Herzog und Jürgen Hillmer (Hrsg.): NRW feiert 100 Jahre Kino,
Bielefeld 1995
Skandal
in der Oper
A
NIGHT AT THE OPERA
Die Marx Brothers in der Oper
USA – 1935 – 90 min. – schwarzweiß – Erstaufführung:
23.3.1950 (WA 1973)/10.8.1968 ARD/1.7.1989 DFF 1 – Produktionsfirma: MGM – Produktion:
Irving Thalberg
Regie: Sam Wood
Buch: George S. Kaufman, Morrie Ryskind, Al Boasberg, Bert Kalmar,
Harry Ruby
Vorlage: nach einer Erzählung von James Kevin McGuinness
Kamera: Merritt B. Gerstad
Musik: Herbert Stothart
Schnitt: William LeVanway
Darsteller:
Groucho Marx (Otis B. Driftwood)
Chico
Marx (Fiorello)
Harpo
Marx (Tomasso)
Kitty
Carlisle (Rosa Castaldi)
Allan
Jones (Riccardo Baroni)
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