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Andrej Tarkowskij-
Der antiavantgardistische Avantgardist
1
Andrej Tarkowskij hat es niemandem
leicht gemacht. Sich selbst nicht mit einem ideo-ästhetischen Eigensinn,
der kompromißlos nach Wegen jenseits tradierter, gängiger Normen
und Erwartungen suchte. Aber auch denen nicht, die er mit den Ergebnissen seines
Suchens konfrontierte. Ganz sicher gilt das für jene beamteten Filmverwalter,
die in moskauer Ministerialbüros von Krasnye Kolokola (1) schwärmten, also von einem »sowjetischen Hollywood«,
das mit monumentalem Ausstattungspomp »politisch-erzieherisch« zu
sein vorgab (in Wirklichkeit aber nur noch einmal einen zynischen Ausverkauf
des avantgardistischen Revolutionsfilms der sowjetischen Frühzeit betrieb).
Ebenso gilt das aber auch für jene, die mit konträrem gesellschaftlichem
Pathos eine triviale Kommerzialisierung der Filmkulturen jenes »Westens«
fördern, dem Andrej Tarkowskij immer wieder »Verrat der Spiritualität«
an Konsum- und Machtdenken vorwarf.
Ganz gewiß nicht leicht
macht es der kreative Eigensinn dieses Regisseurs einem Publikum, das vom Kino
vor allem die verständnisleichten Bild- und Kompositionsstrukturen des
traditionellen Erzählkinos erwartet. Ebensowenig allerdings auch den Enthusiasten
einer experimentellen Neoavantgarde, die Andrej Tarkowskij mit Positionen, prämoderner
Ästhetik und Poetik provozierte: »Die Kunst der zweiten Hälfte
des 20.Jahrhunderts hat ihr Geheimnis verloren (. . .) Die sogenannte moderne
Kunst ist meist nur eine Fiktion, die von der fälschlichen Annahme ausgeht,
daß die Methode zum Sinn und Ziel der Kunst werden könne. Mit der
Demonstration dieser Methode – und das ist nichts weiter als grenzenloser Exhibitionismus
– befaßt sich die Mehrheit der zeitgenössischen Künstler (…)
Für mich ist der Begriff der Avantgarde ohne jeden Sinn.« (2)
Andrej Tarkowskij, dessen Filmsprache
und -dramaturgie als etwas zutiefst Innovatives rezipiert wird, präsentiert
sich in der
Versiegelten Zeit,
seinen 1985 zuerst in deutscher Übersetzung publizierten »Gedanken
zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films« als das Paradox eines
antiavantgardistischen Avantgardisten. Mehr noch: ebenso vehement wendet er
sich auch gegen jedwede rational-analytische Auseinandersetzung mit dem filmischen
Kunstwerk – gegen die von der kunsttheoretischen Avantgarde inspirierten strukturell-semiotischen
Ansätze ebenso wie auch gegen eher traditionell philologisch-kunstgeschichtliche
Symboldeutung: »Häufig wurde ich gefragt, was denn nun eigentlich
die >Zone< im STALKER symbolisiere. Eine Frage, mit der man dann auch gleich noch die
unsinnigsten Vermutungen verknüpfte. Derlei Fragen und Spekulationen bringen
mich jedesmal in Verzweiflung und Raserei. In keinem meiner Filme wird irgendetwas
symbolisiert. Und auch die >Zone< tut das nicht. Die >Zone< ist
einfach die >Zone<.«(3)
Filmwissenschaft und -kritik lehnt
Andrej Tarkowskij als etwas Sinnwidriges ab und fordert stattdessen einen »naiven«,
nicht analytisch fragenden Zuschauer, der sich kontemplativ auf die Filmbilder
einläßt: »Es befremdet mich immer wieder, wenn ich höre,
daß Menschen die doch keinesfalls gleichgültig ins Filmbild gebrachte
Natur nicht einfach genießen, sondern darin nach irgendeinem verborgenen
Sinn suchen … Wenn das Kino dem Zuschauer die tatsächliche Welt nahebringt
und es ihm ermöglicht, diese in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen, sie
gleichsam zu >riechen<, deren Nässe und Trockenheit auf der Haut
zu verspüren … dann stellt sich plötzlich heraus, daß der
Zuschauer inzwischen längst die Fähigkeit eingebüßt hat,
sich diesem Eindruck einfach emotional, in einem unmittelbar ästhetischen
Sinne hinzugeben. Stattdessen muß er sich einer ständigen Kontrolle
unterwerfen und prüfend nach dem >Warum<, >Weshalb<, >Weswegen<
fragen … «(4)
Kunstrezeption hat für Tarkowskij
dagegen sogar eher etwas mit Gottesdienst und religiöser Meditation zu
tun: »Unabdingbare Voraussetzung für die Rezeption eines Kunstwerks
ist die Bereitschaft und die Möglichkeit, einem Künstler zu vertrauen,
ihm zu glauben. Aber manchmal ist es schwierig, jenen Grad an Unverständnis
zu überwinden, der uns von einem rein gefühlsmäßig zu erfassenden
poetischen Bild trennt. Ebenso wie beim wahren Glauben an Gott setzt auch dieser
Glaube eine besondere seelische Haltung, ein spezielles, rein seelisches Potential
voraus.«(5)
Andrej Tarkowskij definiert das
Kunstwerk wieder als einen »Ausdruck des Idealen, des Strebens nach Unendlichkeit«,
als einen potentiellen »Vermittler ewiger Wahrheit«. Als etwas,
das »in der menschlichen Seele Glaube, Liebe, Hoffnung, Schönheit
und Andacht bestärken«, letztlich sogar Rettung für eine im
übrigen heillos in die Katastrophe steuernde Zivilisation bringen solle.
In jedem Fall aber ist für ihn die Arbeit des Künstlers etwas prinzipiell
Anti-Rationales: »Wenn ein Künstler ein Bild schafft, dann bezwingt
er immer auch sein eigenes Denken, das ein Nichts ist gegenüber einem emotional
wahrgenommenen Bild von der Welt, das für ihn eine Offenbarung ist. Denn
der Gedanke ist kurzlebig, das Bild aber ist absolut. Daher kann auch von einer
Parallele zwischen dem Eindruck, den ein spirituell empfänglicher Mensch
von einem Kunstwerk erhält, und einer rein religiösen Erfahrung gesprochen
werden. Die Kunst wirkt vor allem auf die Seele des Menschen ein und formt seine
geistige Struktur.« (6)
Die faszinierende Polyvalenz seiner
Bild- und Kompositionsstrukturen, seine meditativen Beschreibungen innerer Wirklichkeit,
die verrätselten Metaphern von Spiegeln, wallenden Nebeln und bewegtem
Wasser, die kontemplative Kamerafahrten und eine überaus differenzierte
Orchestrierung von Farben, Tönen und Geräuschen kreieren, erklärt
Andrej Tarkowskij damit zu Funktionsträgern der Spiritualität, eines
metaphysisch-moralischen Anspruchs. Nach Brecht und dem von Tarkowskij wiederholt
scharf (und ungerecht) attackierten Eisenstein, nach Benjamin und Adorno, nach
all dem, was die Dialektik der Aufklärung und materialistische Ästhetik,
was Formale Schule, Strukturalismus und Semiotik lehrten, klingt das wie ein
paradoxes Echo aus vormoderner Zeit, wie eine konservative Provokation.
Hierzulande irritierte das sogar
Enthusiasten der zunächst ausgesprochen kultischen Tarkowskij-Rezeption
und führte zu teilweise überaus ernüchterten Reaktionen auf Die versiegelte Zeit und dann insbesondere auch auf
den letzten Film OPFER. Es meldeten sich Stimmen zu Wort, die nach den längst
nicht nur cineastischen Ursachen der kultischen Tarkowskij-Rezeption fragten.
Danach, inwieweit sich hierin nicht gar eine generelle geistig-gesellschaftliche
Klimawende unseres Landes spiegele; eine neue Sehnsucht nach alten Mythen, nach
einer Wiederkehr des Irrationalen; jene Sehnsucht nach einer neuen Antiaufklärung,
die auch ein Echo auf die Enttäuschungen eines brüchig gewordenen
Fortschrittsglaubens und einer gar zu undifferenziert, vulgär propagierten
materialistischen Ästhetik ist.
Derlei Selbstbefragung ist schon
aus aktuellen Gründen ganz sicher überaus sinnvoll. Doch sie sagt
natürlich vor allem etwas über die Situation, die Voraussetzungen
und den Kontext hiesiger Rezeption aus. Die Evolutionsbedingungen der ideo-ästhetischen
Positionen von Andrej Tarkowskij sind demgegenüber ausgesprochen spezifisch.
Sie hängen ganz wesentlich mit Entwicklungen zusammen, die ein hierzulande
nicht erst seit 1933 oder 1945 virulenter antislawischer Kulturhochmut ausklammern
zu können meint. Manches Mißverständnis hiesiger Tarkowskij-Interpretation
hängt damit ebenso zusammen wie manches Spekulative, das zur Tragödie
von Tarkowskijs letztlich unfreiwilligem Exil geäußert wurde – denn
weder in Italien, Westberlin, noch in Paris wurde dieser sehr bewußt russische
Regisseur zu einem »Westler«. Im Gegenteil: gerade hier wurden seine
»slawophilen«, »östlich« orientierten Affinitäten
deutlicher als je zuvor:
»Der Osten war der ewigen
Wahrheit stets näher als der Westen. Aber die westliche Zivilisation hat
den Osten mit ihren materiellen Lebensansprüchen verschlungen. Man vergleiche
nur einmal die östliche und die westliche Musik. Der Westen schreit: Hier,
das bin ich! Schaut auf mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben verstehe!
Wie unglücklich und glücklich ich sein kann! Ich!! Ich!!! Ich!!!!
Der Osten dagegen sagt kein einziges Wort über sich selbst. Er verliert
sich völlig in Gott, in der Natur, in der Zeit. Und er findet sich in all
dem selbst wieder! Er vermag alles in sich selbst zu entdecken! Taoistische
Musik. China, sechshundert Jahre vor Christi Geburt! … «(7)
Auch der letzte, in Schweden realisierte
Film OPFER
ist deutlich von einer an slawophile Positionen erinnernde Kritik westeuropäischer
Zivilisation geprägt. Bereits in der Projektphase dieses Films schreibt
Tarkowskij unmißverständlich: »Hier im Westen beschäftigt
die Menschen vor allem die eigene Person. Wenn man ihnen sagt, daß der
Sinn ihrer Existenz doch eigentlich im Opfer für andere liege, dann lachen
sie vermutlich nur hell auf und nehmen einem das einfach nicht ab. Und ebensowenig
glauben sie einem, daß der Mensch nun doch ganz gewiß nicht nur
für das Glück geboren ist. Daß es doch schließlich noch
erheblich wichtigere Dinge gibt als persönlichen Erfolg und geschäftliche
Vorteile. Doch offenbar glaubt hier im Westen niemand mehr an die Unsterblichkeit
der Seele … «
2
Seinen Weg im Film begann Andrej
Tarkowskij in einer Zeit, in der noch etwas von der Aufbruchstimmung des Jahres
1956 zu spüren war, von den Hoffnungen eines antistalinistischen »Tauwetters«,
das auch die Künste ästhetisch wie inhaltlich zu einer neuen Aufrichtigkeit,
zu experimenteller Suche und bewußter Individualität ermutigte. Zu
dem, was beispielsweise in Michail Kalatosows Letjat shurawli (Wenn
die Kraniche ziehn)
zum Ausdruck kommt. Auch in der hier überaus kreativ agierenden »entfesselten
Kamera« Sergej Urussewskijs, von dessen Prinzipien sich Wadim Jusow, der
Kameramann der ersten Tarkowskij-Filme, inspirieren ließ. Doch das war
zugleich auch eine Zeit, in der eben diese Hoffnungen schon wieder vertrockneten
und von einer neuen dogmatischen Bürokraten-Arroganz verdrängt wurden.
Für die noch von der Aufbruchstimmung geprägten Künstler und
Intellektuellen bedeutete das eine einschneidende Identitätskrise und den
Wiederbeginn zermürbender, aufreibender Grabenkämpfe mit Kultur- und
Filmverwaltern, die immer willkürlicher auch in ästhetische Fragen
eingriffen, und die kreatives Arbeiten zunehmend behinderten und so eine künstlerisch-kulturelle
Stagnation, nicht zuletzt eine Fülle trivial-schematischer Filme förderten.
Andrej Tarkowskij geriet bereits 1960 bei den Arbeiten zu seinem Diplomfilm
KATOK I SKRIPKA (Die
Straßenwalze und die Geige) in Auseinandersetzungen mit schematischen Forderungen seiner
Studioleiter. Doch schon damals reagierte er darauf mit jener kompromißlosen
Entschlossenheit, die auch für seine weitere Entwicklung charakteristisch
bleiben wird: »Wir brauchen kein Herumgefasel, sondern die Wahrheit (…)
Eine dogmatische Sprache aber kann ich nicht sprechen.«(8)
Die Grabenkämpfe der folgenden
Jahre mußte Tarkowskij – und mit ihm zusammen zahlreiche andere Filmkollegen
– bereits mit einer höheren Instanz, mit Goskino, also dem Staatskomitee
für Kinematografie beim Ministerrat der UdSSR ausfechten. Typisch für
diese Situation ist das Schicksal des ANDREJ RUBLJOW, der bereits im August 1965 Rohschnittabnahme hatte, aber erst
im Oktober 1971 in die Kinos kam. Über sechs Jahre mußte dieser Film
auf dem berühmt-berüchtigten Eis liegen, weil Filmadministratoren
etwas gegen dessen Geschichtsbegriff, gegen die Darstellung von »Grausamkeiten«
und »Nacktheit« hatten, weil sie hier »Optimismus« und
das Pathos des »Humanistischen« vermißten. Nicht zuletzt aber
auch, weil das für sie ein »schwieriger«, »unverständlicher«
Film war. Gegen die immer wieder – und von durchaus unterschiedlichen Seiten
– erhobenen Vorwürfe der »Unverständlichkeit« erklärte
Tarkowskij bei einer internen Studio-Debatte über SERKALO (Der Spiegel): »Da der Film immer eine Kunstform ist, braucht
er nicht in höherem Maße verständlich zu sein als es die übrigen
Künste sind … In der Popularität eines Filmes bei den Massen vermag
ich keinen Sinn zu entdecken. Inzwischen existiert ein regelrechter Mythos des
Hermetischen und Unverständlichen meiner Filme. Ohne Differenzierung des
Publikums kann ein Künstler aber unmöglich die eigene Originalität
bewahren.«(9)
Eine solcherart formulierte Position,
die Tarkowskij an anderer Stelle durch Sätze von der »prinzipiell
aristokratischen Natur« künstlerischen Schaffens radikalisierte,
war für die Filmverwalter seines Landes auch schon deshalb eine geradezu
provokative Herausforderung, weil sie in dogmatischer Verdrehung eines Lenin-Satzes
über die »Massenwirksamkeit des Kinos« derzeit gerade eine
»Massenkultur« förderten: schulmeisterlich definierte »Allgemeinverständlichkeit«
und der Pomp monumentaler Ausstattungsfilme wurden zur Norm erhoben, was zur
Folge hatte, daß innovatives Suchen im Ästhetischen wie Inhaltlichen
immer mehr in die Randzone suspekter »Abweichung« gedrängt
wurde. Damit sahen sich zahlreiche der besten sowjetischen Filmregisseure in
zunehmendem Maße Behinderungen und Verhinderungen ihrer Arbeit ausgesetzt.
In dieser Situation entschloß sich der besonders kompromißlos rigorose
Tarkowskij, nach Abschluß des immerhin noch als sowjetisch-italienische
Koproduktion entstandenen Filmes NOSTALGHIA nicht mehr nach Moskau zurückzukehren. In einem Brief an
das Zentralkomitee der KPdSU begründete er diesen Schritt mit der unerträglichen
Bürokraten-Arroganz des Goskino-Vorsitzenden Filip T. Jermasch.
Das hatte zunächst einmal
zur Folge, daß nunmehr sämtliche Tarkowskij-Filme aus dem Verleih
gezogen wurden und sogar die längst überfällige Neuauflage der
Film-Enzyklopädie (Kinoslowar) eingestampft werden mußte,
weil hier Sachdaten über Andrej Tarkowskij zu lesen waren. Und in den als
Sprachrohre der offiziellen Goskino-Linie fungierenden Fachzeitschriften Iskusstwo kino und Sowetskij ekran, wo früher immerhin verschiedene Beiträge Tarkowskijs
erschienen waren, war sogar die Erwähnung seines Namens tabuisiert. Eine
Auseinandersetzung mit Tarkowskijs Entscheidung konnte hier nicht stattfinden,
obwohl sie für viele seiner Kollegen eine deutliche Signalwirkung hatte.
Statt dessen hatten diese Zeitschriften die monumentalen »Massenfilme«
offiziöser, »unberührbarer« Regisseure zu propagieren,
beispielsweise den Ausstattungs-Pomp Sergej Bondartschuks, des intriganten Gegners
von Tarkowskij.
Erste Hoffnung auf Veränderung
dieser für die sowjetische Filmentwicklung immer verhängnisvoller
werdenden Situation kam mit dem XXVII. Parteitag der KPdSU auf, wo Generalsekretär
Michail Gorbatschow »glasnost«, »perestrojka« und »demokratisatsija«,
also »Transparenz«, »Umgestaltung« und »Demokratisierung«
für eine Überwindung deutlich gewordener gesellschaftlicher Stagnation
forderte. Damit kamen Erinnerungen an die nicht eingelösten Hoffnungen
des Jahres 1956 auf, an die beispielsweise der Bühnen- und Drehbuchautor
Michail Schatrow auf dem Schriftstellerkongreß von 1986 anknüpfte:
»Ich erinnere mich an den Frühling des Jahres 1956, an den XX. Parteitag,
an den gigantischen Aufbruch eines Landes, das sich von antileninschen Fesseln
freimachte. Aber ich erinnere mich auch daran, wie wir dann allmählich,
Schritt für Schritt, wichtige Positionen aufgaben. Ich erinnere mich daran,
wie ich selbst in einem bestimmten Moment nicht aufgestanden bin, als wir uns
wieder dem Alten zuwandten. Die Geschichte gibt uns nunmehr zum zweitenmal eine
Chance. Und unser aller Aufgabe, die Aufgabe der Schriftsteller, der Kunst-
und Kulturschaffenden ist es, diese Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen
. . .» (10)
Nachdem bereits in den überregionalen
sowjetischen Medien überaus offene und heftige Kritik an den Filmadministrationen
geübt worden war, nutzten die sowjetischen Filmemacher im Mai 1986 die
neue Chance und lösten auf ihrem V. Verbandskongreß eine Leitung
ab, die in jahrelanger Passivität immer mehr zu einem bloßen Erfüllungsgehilfen
der ministeriellen Goskino-Bürokratie verkommen war. Mehr noch: zum neuen
Ersten Sekretär wählten sie geradezu programmatisch einen Regisseur,
der Behinderungen, Verhinderungen und Verbote von Filmen aus eigener schmerzlicher
Erfahrung kannte: Elem Klimow, einen Freund Andrej Tarkowskijs, dessen Filme
Agonija, Idi i srnotri! (Komm
und sieh!)
und Proschtschanie
(Abschied von Matjora) mit jahrelangen Produktions-,
Vorführ- und Exportverboten belegt worden waren.
Erstaunlich schnell – nämlich
schon zwei Tage nach Abschluß ihres Verbands-Kongresses – ging die neue
Verbandsleitung einen geradezu historischen Schritt weiter: sie etablierte eine
»Konfliktkommission«, die künftighin die Rechte der Filmemacher
gegen ministerielle Bürokratenwillkür duchsetzen soll, und die sogleich
daran ging, die »Tresore« bisher verbotener und behinderter Filme
zu öffnen. Unter den überaus zahlreichen Filmen, die dabei ans Licht
der Öffentlichkeit kamen, waren beispielsweise auch Arbeiten des von Andrej
Tarkowskij überaus hoch geschätzten Aleksandr Sokurow, dessen experimenteller
Dokumentarfilm Elegija die postume Rückkehr des
im pariser Exil verstorbenen Sängers Fjodor Schaljapin in seine russische
Heimat zum Anlaß eines differenzierten Nachdenkens über das tragische
Problem der Emigration nimmt. Daß dieses Thema inzwischen nicht mehr tabuisiert
wird, dokumentierte auf den 37. Berliner Filmfestspielen (Februar 1987) auch
die Vorführung des sieben Jahre »auf Eis gelegten« Gleb-PanfilowFilms
Tema (Das Thema), wo ohne diskriminierende Untertöne von einem Schriftsteller
ohne Publikationschancen erzählt wird, der nach Israel auswandern will.
Damit waren Voraussetzungen auch
für eine neue Haltung gegenüber dem jetzt in Paris lebenden Tarkowskij
gegeben. Seit Oktober 1986 werden seine Filme wieder in sowjetischen Kinos gezeigt,
wo der Publikumsandrang nunmehr derart groß ist, daß etwa die moskauer
Kinos mit Tarkowskijs »schwierigen«, »unverständlichen«
Filmen ihr Plansoll erfüllen.
Die Kritik an der Amtsführung
des Goskino-Vorsitzenden Filip T. Jermasch hat inzwischen zu einer Situation
geführt, daß er im Dezember 1986 vom Zentralkomitee der KPdSU abgelöst
wird, am Tag übrigens, bevor Andrej Tarkowskij am 29.12. 1986 in Paris
seinem Krebsleiden erliegt, worin viele eine tragische Ironie des Schicksals
sehen. Was für ein Prozeß des Umdenkens stattgefunden hat, dokumentiert
der vom Verband der Filmschaffenden der UdSSR und von Goskino gemeinsam unterzeichnete
Nachruf auf Andrej Tarkowskij:
»Nach langer, schwerer Krankheit
verstarb Andrej Tarkowskij, der bekannte Filmkünstler, Volkskünstler
der RSFSR, Mitglied des Verbandes der Filmschaffenden der UdSSR. Sein Schaffen
entwickelte sich auf heimatlichem Boden zur vollen Blüte: die Filme IWANOWO
DETSTWO,
ANDREJ RUBLJ0W, SOLJARIS, SERKALO und STALKER gingen in die sowjetische Filmgeschichte als maßstabsetzende,
tiefe und innovatorische Werke ein, die vom Stempel des Talents und unnachahmbarer
Individualität geprägt sind … Das Schaffen Andrej Tarkowskijs ist
untrennbar verbunden mit dem Kino der sechziger Jahre und mit der Suche und
den Entdeckungen der nachfolgenden Jahrzehnte. Hinwendung zu den Erfahrungen
und Lehren der Geschichte, zur Erkundung der im Volke gründenden Wurzeln
des Nationalcharakters, zum Thema des Großen Vaterländischen Krieges
und tragisches Nachdenken über das Schicksal der Welt und ihrer Zukunft
verbindet sich in Tarkowskijs Kunst mit dem Streben nach philosophischer Verallgemeinerung,
nach einer humanistischen Reflexion des Lebens. Die letzten Jahre, die für
ihn eine schwere, krisenhafte Zeit waren, lebte und arbeitete Tarkowskij fern
der Heimat, woran mit Schmerz und Bedauern gedacht werden muß. Dem konnte
nicht zugestimmt werden, damit konnte man sich nicht abfinden. Ein früher
Tod verhinderte die Möglichkeit eines abschließenden Ergebnisses
seines Lebens- und Schaffensweges. Doch das Gedächtnis an Andrej Tarkowskij
ist der sowjetischen Kinematografie, seinen Schülern und Kollegen teuer.«
(11)
Inzwischen werden auch die in
diesem Nachruf noch nicht erwähnten Filme NOSTALGHIA und OFFRET
in sowjetischen Kinos gezeigt. In den Zeitungen und Zeitschriften erscheinen
überaus positiv, ja enthusiastisch gestimmte Beiträge. Die maßgebende
Fachzeitschrift Iskusstwo
kino bereitet
sogar ein Sonderheft über diesen früher schon einmal publizierten
und debattierten, dann aber lange ignorierten Regisseur vor. In Arbeit sind
Buchprojekte mit Texten von und über Tarkowskij.
3
Noch intensiver als hierzulande
trägt die sowjetische Tarkowskij-Welle Züge einer durchaus verständlichen
kultischen Verehrung. Die jahrelangen Behinderungen und der Tod im Exil
haben einen Mythos geschaffen, in jedem Fall aber ein Zeichen von überaus
gesellschaftlicher Relevanz: für eine breite sowjetische Öffentlichkeit
ist das Schicksal Andrej Tarkowskijs und seiner Filme zu einem Gradmesser aktueller
Gesellschaftsprozesse, also auch der neuen »perestrojka«-Hoffnungen
geworden.
In dieser Situation ist eine analytische
Auseinandersetzung mit der ideo-ästhetischen Evolution Andrej Tarkowskijs
sicher vorerst kaum zu erwarten. Dennoch wird sie für die sowjetische Gesellschaftsdebatte
nicht weniger wichtig sein als die kritische Beschäftigung mit der kultischen
Tarkowskij-Rezeption in westlichen Ländern. In jedem Fall sind davon spannende
Einsichten in die Folgen der enttäuschten Hoffnungen von 1956 zu erwarten,
die seinerzeit viele sowjetische Intellektuelle und Künstler in eine überaus
tiefe Identitätskrise stürzten und nach Alternativen in tabuisiertem
und konträrem Gelände suchen ließ: man begann Dostojewskij,
Lew Tolstoj und Puschkin aus neuer Sicht zu lesen, entwickelte ein intensives
Interesse für Religion und Religionsphilosophie, für Anthroposophie
und Parapsychologie, für alles Mystische und Mythologische, für die
Philosophie und Kunst der deutschen Romantik und der russischen Neoromantik
der Jahrhundertwende, aber auch für die kontemplative Geistigkeit Asiens,
für Laotse und Taoismus, für die Kunst Japans. Nicht zuletzt für
jene metaphysische Ästhetik des russischen Symbolismus, gegen den die Linksavantgarde
der Revolutionszeit mit dem dialektisch-materialistischen Konzept einer operativen
Kunst angetreten war.
Von diesen neuen Affinitäten,
von diesem Klima einer intellektuell-kulturellen Gegenbewegung nach all den
enttäuschten Hoffnungen des Jahres 1956 wurde Tarkowskijs Entwicklung ganz
entscheidend geprägt. Die versiegelte Zeit belegt das recht anschaulich mit zahllosen Zitaten eben solcher
Lektüre und Debatte. Ohne diesen Hintergrund ist deshalb die ideo-ästhetische
Entwicklung Tarkowskijs nicht zu klären. Ohne all dies bleiben die Widersprüche
und das vielfältig aktuelle Paradox dieses antiavantgardistischen Avantgardisten
unbegriffen.
Die resignierte Abkehr von den
in Mißkredit gebrachten Versprechungen materialistisch-dialektischer und
rational aufklärerischer Gesellschaftsideale ließ mit durchaus auch
reichlich unkritischem Eklektizismus Alternatives selbst da aufgreifen, wo es
in sich kontrovers war. So finden sich etwa bei Tarkowskij neben Positionen
traditionell-orthodoxer Religiosität letztlich blasphemische Sätze
von der Kunst als einem »Gralskelch absoluter Wahrheit«, als etwas
»fast Religiösem«, ja »Theurgischem«. Ja mehr noch:
es kommen sogar intensive Affinitäten zur Anthroposophie Rudolf Steiners
und zum Taoismus auf. Harsche Ablehnung westlicher Musik geht einher mit einer
fast kultischen Begeisterung für Johann Sebastian Bach und Giuseppe Verdi.
Die slawophile Religiosität Fjodor Dostojewskijs und der rigoros antiästhetizistische
Moralismus Lew Tolstojs werden zusammengebracht mit Positionen eines programmatisch
aristokratischen Kunstbegriffs und dem ausgesprochen elitären Ästhetizismus
russischer Symbolisten.
Die Liste der Widersprüche
ließe sich fortsetzen. Doch erheblich wichtiger ist sicher die Frage nach
deren gemeinsamem Nenner, nach der Synthese, die Tarkowskijs Eigensinn aus all
dem produziert. Als zentrales Stichwort hierfür kristallisiert sich der
Begriff der »duchownost«, der Spiritualität und mystischen
Geistigkeit, heraus. In der Versiegelten Zeit wird dieser Begriff mit Zitaten unterschiedlichster Provenienz
zum Schlüsselwort für all das, was vor allem die westliche Zivilisation
und unter deren Einfluß auch die seiner russischen Heimat an »Materialismus«,
»Machtstreben« und »Egozentrik« »verloren«
und »verraten« haben. Der Künstler als ein Verwandter des Priesters
hat nunmehr die Aufgabe und Verantwortung, diesen verloren gegangenen Einklang,
diese verratene Harmonie wiederherzustellen: »Ungeistige Kunst trägt
die eigene Tragödie bereits in sich. Selbst die Erkenntnis der Ungeistigkeit
seiner Zeit fordert vom Künstler eine bestimmte Spiritualität. Denn
der wirkliche Künstler steht immer im Dienst der Unsterblichkeit: er versucht,
diese Welt und die in ihr lebenden Menschen unsterblich zu machen. Wenn er sich
dagegen nicht auf die Suche nach der absoluten Wahrheit begibt, dieses globale
ZieI vielmehr gegen Nichtigkeiten eintauscht, dann bleibt er lediglich eine
Eintagsfliege.« (12)
Andrej Tarkowskij versteht seine
Filmarbeit also weit über nur Cineastisches hinaus als eine Korrektur fehlgeleiteter
Zivilisation mit durchaus quasi-religiösem Anspruch. Das kann in Beziehung
gesetzt werden zu religiösen Bindungen der Kunst und zur slawophilen Ideologie
Fjodor Dostojewskijs, Dmitrij Mereshkowskijs und Wladimir Solowjows, vor allem
aber mit der Ästhetik und Poetik russischer Symbolisten und Akmäisten.
Das Interesse für die Philosophie und Ästhetik der deutschen Romantik,
das für Felicitas Allardt-Nostitz so überaus zentral ist (13) und
in Tarkowskijs letztem Arbeitsprojekt Hoffmanniana zum Ausdruck kommt, wird in der Versiegelten Zeit mit keinem einzigen Zitat signalisiert, scheint also doch eher
allgemeiner und über symbolistische Quellen vermittelter Art zu sein. In
jedem Fall sind Parallelen zwischen der Ästhetik und Poetik des russischen
Symbolismus und der Evolution tarkowskijscher Positionen überaus evident.
Dort etwa, wo Tarkowskij vom Kunstwerk als einer rationaler Analyse letztlich
unzugänglichen »Offenbarung« spricht und ihrem Wesen, ihrem
Sinn religiöse Dimensionen zuerkennt, also dem nahekommt, was Andrej Belyj
in Smysl
iskusstwa. Simwolism
(Der Sinn der Kunst. Symbolismus) formuliert: »Die Kunst hat überhaupt
keinen besonderen Sinn außer dem religiösen; in den Grenzen der Ästhetik
haben wir es nur mit der Form zu tun. Wenn wir uns von dem religiösen Sinn
der Kunst lossagen, entleeren wir sie jeden Sinnes: ihr Los ist es dann, zu
verschwinden oder sich in Wissenschaft zu verwandeln; aber die Kunst als Wissenschaft
verstanden, wäre die nutzloseste aller Wissenschaften, die je existiert
haben oder existieren könnten.« (14)
Parallelen zum russischen Symbolismus
kommen da zum Ausdruck, wo Tarkowsidj in Analogie zu dem mystischen Symbolisten
Wjatscheslaw Iwanow von künstlerischem Schaffen als einer »Theurgie«
ausgeht und seine Funktion darin sieht, »den Mythos wiederzubeleben«
und eine »Katharsis der menschlichen Seele« zu ermöglichen
(für Wjatscheslaw Iwanow ist in Mysli o simwolizme. Borozdy i meshi [Gedanken über den Symbolismus. Furchen und Wegraine] die
Katharsis überhaupt das eigentliche Ziel der Kunst, jene Läuterung,
die nach Andrej Belyj als »Verklärung des Lebens« den religiösen
Sinn der Kunst ausmacht). Auch die symbolistischen und akmäistischen Bestimmungen
der Kunst als eines »Schlüssels zum Geheimnis« und eines »Fensters
in die Ewigkeit« bilden charakteristische Parallelen zu tarkowskijschen
Positionen. Nicht zuletzt der in der Versiegelten Zeit immer wieder betonte Gegensatz von Wissenschaft und Kunst, von
Rationalem und Emotionalem verweist auf symbolistische Quellen. So schreibt
etwa Tarkowskij:
»Kunst und Wissenschaft
sind also Formen der Weltaneignung, Erkenntnisformen auf dem Wege zur sogenannten
absoluten Wahrheit. Doch damit endet auch schon die Gemeinsamkeit dieser beiden
Äußerungsformen des menschlichen Geistes, wobei – ich wage es, darauf
zu bestehen – Schöpfertum nichts mit Entdecken, sondern mit Erschaffen
zu tun hat. Hier, an dieser Stelle, kommt es vor allem auf den prinzipiellen
Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und der ästhetischen Form des
Erkennens an. In der Kunst eignet sich der Mensch die Wirklichkeit durch subjektives
Erkennen an. In der Wissenschaft folgt das menschliche Wissen den Stufen einer
endlosen Treppe, wobei immer wieder neue Erkenntnisse über die Welt an
die Stelle der alten treten. Dies ist also ein stufenförmiger Weg mit einander
aufgrund objektiver Detailerkenntnisse folgerichtig aufhebenden Einsichten.
Die künstlerische Einsicht und Entdeckung entsteht dagegen als ein neues,
einzigartiges Bild der Welt, als eine Hieroglyphe der absoluten Wahrheit. Sie
präsentiert sich als eine Offenbarung, als ein jäh aufblitzender,
leidenschaftlicher Wunsch des Künstlers nach intuitivem Erfassen sämtlicher Gesetzmäßigkeiten
der Welt – ihrer Schönheit und ihrer Häßlichkeit, ihrer Menschlichkeit
und ihrer Grausamkeit, ihrer Unendlichkeit und ihrer Begrenztheit. All dies
gibt der Künstler in der Erschaffung eines Bildes wieder, das auf eigenständige
Weise das Absolute einfängt. Mit Hilfe dieses Bildes wird die Empfindung
des Unendlichen festgehalten (…) Man könnte sagen, daß die Kunst
ein Symbol dieser Welt ist, die mit jener absoluten geistigen Wahrheit verbunden
ist, die eine positivistisch-pragmatische Praxis vor uns verborgen hält.«
(15)
Eine Parallele zu dieser Position
findet sich in Andrej Belyjs Emblematika sm ysla (Emblematik des Sinns): »Wenn Wissen auch noch das Wissen
vom Sinn des Lebens ist, dann ist die Wissenschaft noch kein Wissen. Die Wissenschaft
schreitet von Nichtwissen zu Nichtwissen, die Wissenschaft ist die Systematik
des Nichtwissens.«(16) Für Symbolisten wie Walerij Brjusov – und hier könnten
nun ganz sicher Parallelen zur deutschen Romantik und vor allem zu Novalis gezogen
werden – ist Kunst überhaupt die einzige »wahre Erkenntnis der Dinge«.
Vor dem Hintergrund solcher Positionen
wird verständlich, warum Tarkowskij in Opposition zu all jenen geraten
muß, die als Künstler oder Kunstinterpreten einen »rationalen«
Zugang zum »Geheimnis künstlerischen Schaffens« suchen. Gegen
intellektuell-analytische »Symboldeuter« setzt sich Tarkowskij ebenso
vehement zur Wehr, wie dies einst die Symbolisten taten – Andrej Belyj zum Beispiel,
für den Wort und Bild Träger einer letztlich nicht rationalisierbaren
»dynamischen Energie« waren. Und in diesem Zusammenhang wird in
der Versiegelten
Zeit auch
geradezu programmatisch Wjatscheslaw Iwanow zitiert: »Das Symbol ist nur
dann ein wirkliches Symbol, wenn es in seiner Bedeutung unerschöpflich
und grenzenlos ist. Wenn es eine dunkle, erratische und magische Sprache spricht.
Wenn es etwas Unausdeutbares lediglich antippt und suggeriert, etwas, das dem
natürlichen Wort inadäquat ist. Das Symbol ist vielgesichtig, vieldeutig
und in seiner letzten Tiefe stets dunkel … Wie ein Kristall ist es ein organisches
Gebilde … Es ist sogar eine Monade und unterscheidet sich dadurch von der
komplexen und gegliederten Struktur einer Allegorie, eines Gleichnisses oder
eines Vergleichs … Symbole sind etwas Unaussprechliches. Der Gesamtheit ihres
Sinns stehen wir hilflos gegenüber … «(17)
Aus derlei Gründen, nicht
etwa nur aus »ideologischer Opposition«, mußte Andrej Tarkowskij
auch in entschiedene, prinzipielle Gegnerschaft zu jener Avantgarde geraten,
die eben gegen jenen symbolistischen Irrationalismus den Zeichencharakter, die
»Machbarkeit« des Kunstwerks betonte und Kunst zu einem »verändernden
Faktor einer sich verändernden Wirklichkeit« machen wollte, also
deren operative Dimensionen betonte. Tarkowskij hält dem entgegen: »Ich,
zum Beispiel,- bin, prinzipiell nicht damit einverstanden, wie Sergej Eisenstein-mit
seinen intellektuellen, in der Einstellung verschlüsselten Formen arbeitete.
Meine Art, dem Zuschauer Erfahrungen zu vermitteln, unterscheidet sich grundsätzlich
von Eisenstein. Sicher muß man der Gerechtigkeit halber hinzufügen,
daß dieser Regisseur nicht einmal den Versuch machte, irgend jemandem
eigene Erfahrungen weiterzugeben. Er wollte stattdessen Gedanken und Ideen in
Reinform vermitteln. Dahinter steckt ein Filmverständnis, das mir absolut
konträr ist. Und Eisensteins Montage-Diktat scheint mir überhaupt
die generelle Grundlage filmspezifischer Wirkung zu beeinträchtigen …
Es nimmt seinem Zuschauer das größte Privileg, das ihm das Kino aufgrund
der ihm eigenen, von Literatur und Philosophie unterschiedlichen Rezeptionsweise
bieten kann – die Möglichkeit nämlich, das, was sich auf der Leinwand
ereignet, als eigenes Leben zu empfinden, also eine zeitlich fixierte Erfahrung
als eigene, zutiefst persönliche Erfahrung zu übernehmen, das eigene
Leben zu dem auf der Leinwand gezeigten in Beziehung zu setzen.(18)
Der erste Teil dieses Zitates
geht sicher von einem weitverbreiteten Mißverständnis des eisensteinschen
Konzepts einer »intellektuellen Filmkunst« aus. Denn diese zielte
ja nicht etwa auf illustrierte Abstraktheit, sondern vielmehr auf filmsprachlich
vermittelte Einsichtnahme in die Produktionsprozesse von Gedanken und Ideen,
was für Eisenstein nicht weniger als filmische Wiederherstellung der ursprünglichen
Einheit von »bildlichem» und »begrifflichem Denken«,
von »Intellekt« und »Emotion« bedeutete.(19) Doch im
zweiten Zitatteil macht Tarkowskijs Insistieren auf »persönlicher«
Filmerfahrung (auf der Grundlage eines »gläubigen Vertrauens«,
einer fraglosen Versenkung) den Unterschied, den prinzipiellen Gegensatz zu
Eisensteins episch-dialektischem, programmatisch konzeptionellem, also von kollektiven
Erfahrungen ausgehenden Prinzip deutlich.
Das ist der springende Punkt für
Tarkowskijs antiavantgardistische Polemik: es geht um die grundsätzliche
Kontroverse zweier Weltsichten, um die Kontroverse von dialektischer Aufklärung
und antirationaler- Subjektivität. Tarkowskijs Spott über Aktionskunst
und neoavantgardistische Experimentalspiele ist demgegenüber überaus
marginal. Und selbst die konkrete Bedeutung des Avantgarde-Begriffs relativiert
sich letztlich. Tarkowskijs Polemik ist eine Polemik gegen den »Verlust
des Geheimnisses« in der Kunst, gegen die Demonstration von strukturellem
Materialbewußtsein und gegen konzeptionelle Verfahrensweisen. Es ist eine
Polemik, die demgegenüber einen grundsätzlich »spirituellen«
und metaphysischen Charakter der Kunst postuliert.
Eine Polemik gegen Innovation
ist das aber ganz sicherlich nicht. Im Gegenteil: gegenüber den etablierten
Normen ist Tarkowskijs Arbeit ganz überaus innovativ, und zwar nicht nur
auf filmsprachlich-formaler Ebene. Er ist avantgardistisch im funktionalen Sinne
dieses Begriffs, der Widerstand gegen die Versteinerungen eines offiziellen
Kunst- und Kulturbetriebs meint.
Überhaupt sollte man sich
daran erinnern, daß es neben aufklärerisch-avantgardistischen Konzepten
auch immer wieder solche gab, die statt
dessen auf eine irrationale Entgrenzung der
Wirklichkeit setzten. Und die kamen bezeichnenderweise gerade in Zeiten nichteingelöster
Aufbruchstimmung, enttäuschter gesellschaftlicher Hoffnungen auf, im deutschen
Expressionismus etwa, den Siegfried Kracauer auch als einen Reflex der nicht
verwirklichten Revolution von 1918 deutet. Ähnliches gilt auch für
die deutsche Romantik, die philosophisch und stilgeschichtlich eine wichtige
Inspirationsquelle sowohl für den deutschen Expressionismus als auch für
Andrej Tarkowskij war. Nicht nur wegen der leitmotivischen Bedeutung der Spiegel
und Nebel beispielsweise. Auch das ist ein Hinweis auf die Bedeutung einer kritischen
Analyse nicht nur der ideo-ästhetischen Positionen Andrej Tarkowskijs,
sondern auch der kultischen Rezeptionsformen – wo immer sie auch auftauchen.
Tarkowskij war ganz sicher ein
Künstler der Krise, der aber zugleich die Chance dieser Krise begriff:
»Für mich ist eine >geistige Krise< immer ein Zeichen von Gesundheit.
Denn meiner Meinung nach bedeutet sie einen Versuch, zu sich selbst zu finden,
einen neuen Glauben zu erlangen. In den Zustand einer geistigen Krise gerät
jeder, der sich geistigen Problemen stellt. Wie sollte das auch anders sein?
Schließlich dürstet die Seele nach Harmonie, während das Leben
voller Disharmonien ist. In diesem Widerspruch liegt das Stimulans für
Bewegung, zugleich aber auch die Quelle unseres Schmerzes und unserer Hoffnung.
Er ist eine Bestätigung unserer geistigen Tiefe, unserer spirituellen Möglichkeiten.«
(20)
PS
Es war von Andrej Tarkowskijs
Konflikten mit moskauer Filmverwaltern die Rede, von Behinderungen und Verhinderungen,
die immer wieder auch mit Hinweisen auf die »Unverständlichkeit«
seiner »schwierigen« Filme begründet wurden. Doch machen wir
uns keine Illusionen: einem hierzulande geborenen Tarkowskij hätten hiesige
Filmproduzenten ganz gewiß nicht größere Chancen eingeräumt,
wenn sie das überhaupt getan hätten. Und daß Andrej Tarkowskij
– wie immerhin in Moskau geschehen – STALKER nach einem
gravierenden Schaden der ersten
Nullkopie ein zweites Mal drehen konnte, wäre unter unseren Bedingungen
sicher kaum vorstellbar. Für Andrej Tarkowskij war die »kommerzielle
Geburt des Kinos« ganz schlicht ein »Sündenfall«. Moralische
Entrüstung hilft nun ganz sicher nicht weiter, und die Behinderer innovativer
Filmarbeit wird hier auch kein Filmemacher-Kongreß absetzen können.
Bleibt die Frage, wieviele kleine Tarkowskijs eigentlich bei uns noch verhindert
werden …
Hans-Joachim Schlegel
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Andrej Tarkowskij; Band 39 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser Verlags.
1 Sergej Bondartschuks monumentaler Revolutionsfilm KrasnUe koloka
(Rote Glocken, 2 Teile, 1982-84) wird in den kritischen Debatten nach dem V.
Filmverbands-Kongreß als besonders typisches Ergebnis der attakierten
alten Goskino-Linie zitiert. Bondartschuk selbst trat wiederholt in der Rolle
eines intriganten Tarkowskij-Gegners auf.
2 Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst,
zur Ästhetik und Poetik des Films. Aus dem Russischen von Hans-Joachim
Schlegel. Berlin, Frankfurt: Ullstein 1985, S. 112
3
a.a.O., S.225
4
a.a.O., S.237
5a.a.O., S.47
6
a.a.O., S.46
7a.a.O., S.250
8
Maja Josifowna Turowskaja, Felicitas Altardt-Nostitz: Andrej Tarkowskij. Film als Poesie
– Poesie als Film. Bonn: Keil 1981
9 a.a.O., S. 66 (Tarkowskij-Zitat)
10 zit. n. Hans-Joachim Schlegel: Abrechnung mit den toten Seelen.
Theaterreform in der UdSSR. in: Die deutsche Bühne, 58.Jg., H.2, Februar
1987, S. 29
11 Diesem u.a. in der Literaturnaja gazeta veröffentlichten
Nachruf folgten inzwischen weitere in iskusstwo kino (etwa in Heft 3/1987 von
Gleb Panfilow).
12 Tarkowskij, a.a.0., S.194
13 Felicitas Allardt-Nostitz: Spuren der russischen Romantik in
den Filmen Andrej Tarkowskijs. in: Turowskaja. Allardt-Nostitz, a.a.0. S.101ff.
14 Andrej Belyj: Smysl iskusstwa, in: Simwolizm. Kniga statej.
Moskau 1910, 5.223
15 Tarkowskij, a.a.0., S.42
16 Andrej Belyj: Emblematika smysla. in: Simwolizm. Kniga statej.
-Moskau 1910, S.429
17 Tarkowskij, a.a.0., S.120
18 a.a.O., S. 210 f.
19 vgl. Hans-Joachim Schlegel: Eisensteins dialektisch-visuelle
Demonstration der weltgeschichtlichen Oktoberwende und der »Kinematograph
der Begriffe«. in: Eisenstein Schriften, Bd. 3, München: Hanser 1975,
S.7ff.
20 Tarkowskij, a.a.0., S.220
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