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Werner Schroeter Tribute

Viennale 2008

 

Was mich beim Werner anzieht, das ist dessen tolle Identität. So hatte ich vor dreißig Jahren mein Manuskript für den Hanser-Band („Werner Schroeter“) angefangen, und, so meine ich, genauso fängt man auch heute mit ihm an, will sagen seinen Filmen. Unmittelbar und unbefangen auf ihn, sein Werk zugehen zu können, – wo geht das sonst. Theoretische Vorarbeit ist nicht zu leisten. Eher wäre die Vereinnahmung durch mancherlei Filmtheorie der letzten drei Jahrzehnte abzuarbeiten gewesen. Aber nichts davon. Person und Werk gehen ineinander auf, so theatralisch es auch zugeht.

Ob Werner nun 1968 in den ersten 8 mm-Filmen im lockeren Gewand vor der Kamera agiert oder ob Magdalena Montezuma in Mexiko den wahren Glauben sucht („Der schwarze Engel“, 1973/74), gleich bleibt er Werner Schroeter, der mir nächtedurch (1978 in Bochum) von sich und allem anderen erzählte: von Erfahrungen, die sämtlich etwas unverantwortlich Einladendes an sich haben.

 

Nun ist mir schon klar, dass ich hier einen Essay schreiben soll, der sorgfältige, nachvollziehbare Formulierung verlangt. Des ungeachtet möchte ich aber auch durch die Schreibweise zum Ausdruck bringen, dass die Filme Werner Schroeters keine Materie sind, die sich mit dem üblichen intellektuellen Handwerkszeug behandeln ließen. Der direkte Appell seiner Filme liegt auf anderen Ebenen als denen des Worts. Wenn Carla Aulaulu zur Callas tanzt („Carla tanzt Callas“, 1968) oder wenn sie mit Magdalene Montezuma Rollen tauscht „Neurasia“ (1968), wird einem heimatlich ums Herz. – Tja, ich habs prima trainiert, mich verbal zu arrangieren und ohne schuldhaftes Säumen die sichersten Urteile zu fällen. Dass ich aber früher, als ich noch klein war, viel mehr erleben konnte, – dass der Raum um mich herum frei und groß war, – daran erinnern mich Carla und Magdalena. Sie erinnern an Sehsüchte und erträumte Welten, an Maria Callas und Caterina Valente. Keine nostalgischen Sentiments, sondern eigene, präsente, aber verkümmerte Gefühle. Sehnsüchte – Gefühle – Gemüt. Firmament und Sternenhimmel.

 

Ich bin noch nicht ins Schleudern gekommen. Doch verlangt diese irrationale Schiene nach einem verantwortlichen Zitat: „Kunst ist … ein Fernrohr unserer inneren Sinne, durch welches wir neue Sterne am Firmament unseres Gemütes entdecken wollen“, schrieb Tieck am 24. Februar 1804 an Runge. Jetzt müsste ich begründen, warum ich von Schroeter ausgerechnet auf Tieck komme. Das werde ich freilich erst später tun, um mich nicht zu verhaspeln. Immerhin finde ich das Zitat schon an dieser Stelle passend. Es soll mir helfen auszudrücken, dass die Schroeter-Stars, ob Carla, ob Callas, helfen, unsere Sinne aufs eigene Gemüt zurichten. Die schroetersche Kunst ist uns, wie die tiecksche, Vehikel zum Transport ins Vertikal-Irrationale: in tiefere oder, um im Bild zu bleiben, höhere Gefühlsschichten.

 

Verzückter Tod und knospende Körper

 

Was Tieck und Schroeter erfahren haben, lässt sich von jedem nachvollziehen, der, Musik hörend, sich auflöst. In „Der Tod der Maria Malibran“ (1968) hat Schroeter ins Bild gesetzt, was auf der Tonspur seiner Filme inbrünstig (und das heißt doch wohl: mit geschlossenen Augen) gehört werden kann: Verdi, Donizetti, Bizet, Schlager der 50er und 60er Jahre. Das Unverwechselbare seiner Filme ist das Archaische, Unkontrollierte und Triebhafte des Hörens. Und des Vergehens. „Und mein Stamm sind jene Asra, welche sterben, wenn sie leben“ („Der Tod der Maria Malibran“, 1971). Marias Tod sterben alle Darsteller, ihre Rolle an- und ablegend. Zwei schöne Frauen drücken einander die Pistole in den Bauch. Den Schuss lösend, sinken sie in glutvoller Umklammerung zu Boden.

 

Der Film war für den Philosophen Michel Foucault eine Offenbarung. In einem Gespräch mit Gérard Dupont, erschienen in der Nummer Dezember 1975/Januar 1976 des Cinématographe, Paris, beschrieb er die „sehr neue Art, wie man heute im Film mit dem Körper umgeht. Sie brauchen sich nur die Küsse, die Gesichter, die Lippen, die Wangen, die Wimpern und die Zähne in einem Film wie Werner Schroeters „Der Tod der Maria Malibran“ anzugucken, – diese Art, die Körper und ihre Wunder singen zu lassen. Aus einem Gesicht, einem Backenknochen, aus Lippen oder dem Ausdruck der Augen das zu machen, was Schroeter daraus macht, … (ist) ein Vervielfältigen und Knospentreiben des Körpers, um eine gewissermaßen autonome Steigerung seiner kleinsten Partien. Dabei vollzieht sich eine Anarchisierung des Körpers, in der die Hierarchien, die Verortungen und Benennungen, das Organische, wenn Sie so wollen, in Auflösung begriffen sind, … ein durch die Lust völlig plastisch gewordener Körper, etwas, das sich öffnet und spannt, das zuckt, schlägt und klafft. Auf welche Art küssen sich die beiden Frauen in „Der Tod der Maria Malibran“, was geschieht da? Sanddünen, eine Karawane in der Wüste, eine fleischfressende Pflanze, die vordringt, Kinnladen eines Insekts, eine Mulde im Gras“.

 

Angesichts Schroeters Film moniert Foucault, „wie arm ist doch unser Bildervorrat! Und wie dringlich ist es, einen neuen anzulegen.  … Mit dem Körper und seinen Elementen mit seinen Oberflächen, Volumen und Verdichtungen muss man eine nicht-disziplinierte Erotik erfinden, eine Erotik des Körpers im fliegenden und verschwimmenden Zustand, mit seinen zufälligen Begegnungen und seinen unberechenbaren Lüsten“.

 

Ein Manifest. Von Peter Gente ins Deutsche übersetzt, erschien es 1984 im Merve Verlag Berlin („Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch“). Fünfzehn Jahren nach den ersten Filmen, war nun auch für deutsche Leser Schroeters Körper-Kunst philosophisch abgesegnet und als Vorbild vorgestellt worden. Die achtziger Jahre waren in Deutschland die der Foucault-Rezeption gewesen. Doch schon 1969 war ein Schroeter-Film eine Offenbarung gewesen. In Hamburg. Auf der legendär gewordenen Filmschau. In der Zeit der Manifeste machten die Zuschauer, noch nicht Philosophen, aber Leute im Studentenalter, ungeahnte Erfahrungen mit Körper-Manifestationen in Schroeters Film „Argila“ (1968), ihrerseits empfänglich für die sehr neue Art, wie man heute im Film mit dem Körper umgeht. Das Idol verhält sich rezeptiv. Es hört, nämlich erstens „Wo meine Sonne scheint“ von Caterina Valente, „Lucia di Lammermoor“ von Donizetti und das Klavierkonzert Nr. 5 von Beethoven, auch Partien von Vivaldi, Meyerbeer, Verdi, Liszt und Bruch, und zweitens lässt es sich herantragen, was drei Frauen an expressiver Gestik ihm gegenüber entfalten (visualisiertes Hören). Wer aber bezeugt was? Gram und Trauer der Jüngerin, der Geliebten, der Schwester, der Mutter. Das Gefühl für die Zeit geht verloren, dafür stellt sich die Intensität des augenblicklichen Genusses ein, und das nimmt der Zukunft den Schrecken. „Wie blass du bist! Bevor der Abend zuende geht, wird ein Unglück uns alle drei in den See der Verzweiflung stürzen!“ Es steht dahin, was kommen wird, und es zählt nicht, woher die Worte kommen (Schroeter zitiert, wie häufig, Lautréamont).

 

1969, in „Eika Katappa“, seinem ersten langen Film (144 Minuten), wird das deutsche emotionale Defizit geografisch behoben. Der Film ist in Italien gedreht, dem „Reich der Freiheit“ (Schroeter lebte eine Zeitlang in Neapel). Es triumphiert das gesticolare und parlare. Der Nibelungen-Mythos trifft auf das italienische Opernpathos. Magdalena Montezuma spielt die Therese von Konnersreuth, eine Tangotänzerin, die Callas, Elvira, Kriemhild, Rigoletto, eine Liebesmörderin, Tosca und eine Filmschauspielerin, die von Werner Schroeter Regieanweisungen erhält. In der Rollenvielfalt wird Magdalena Montezuma komplett. Sie nahm vorweg, was Foucault die Identitätenvielheit nannte (multiplicité d’identité). Schroeter bekam auf dem Filmfest in Mannheim für den Film den Josef von Sternberg-Preis. Er war damals der erste, der aus unserem Kulturschutt heraussuchte, was auf den Sperrmüll geworfen war und was doch fehlte.

 

Drum ist in der ersten, der klassischen Form gehorchenden Arbeit – „Salome“ (1971) nach dem Stück von Oscar Wilde – neben Richard Strauss („La Paloma“) Rosita Serano zu hören, neben „Heras Muertas“ von Conchita Supervia libanesische Folklore und neben Isoldes Liebestod ein Walzer von Johann Strauß. Das Ohr empfängt nicht selektiv. Es nimmt auf, was kommt. Der Blick konzentriert sich auf die Einheit des Ortes. Es ist die Freitreppe im Tempelbezirk von Baalbek. Schroeter ist auf der Bühne. „Schroeters absolut geschlossenste und virtuoseste Arbeit“ (Sebastian Feldmann 1984). Der Film geht den im Jahr drauf folgenden Theaterinszenierungen voraus. Die „Salome“ ist schon 1973 dabei (Bochum, Intendant Peter Zadek).

 

„Tanze allein, deinem Bild zu gefallen, so wird es dein Bild sein, das für dich tanzt“ (Jean Genet)

 

Zurück zur „Salome“ von Baalbek. Man könnte auch folgendes sagen. Die Freitreppe wird von Schroeters Truppe besetzt. Sie wird gebraucht. Von Robert von Ackeren (Kamera), Elfi Mikesch (Kostüme und Maske), Harry Baer (Regie-Assistent), Mascha Elm-Rabben (Salome), Magdalena Montezuma (Herodes), Ellen Umlauf (Herodias), Thomas von Keyserling (Jochanaan) und den libanesischen Laien.

 

Schroeter weiß aber nicht nur den Ort Baalbek zu nutzen, sondern auch die öffentliche Einrichtung Fernsehen. 1972 bekommt er Geld, um in Kalifornien einen Film über Marilyn Monroe zu drehen. Aber „an sich hatte ich überhaupt keine Lust, einen Film zu machen zu dem Zeitpunkt, sondern musste nur einen machen, um das abzubezahlen was von der „Malibran“ noch übriggeblieben war an Schulden. Und da hatte ich dem ZDF eben diesen Monroe-Film vorgeschlagen, so eine strukturalistische Arbeit über die Bilder von Warhol, über die Monroe und mit Presley-Musik und allem möglichen, aber die Idee hat mir überhaupt nicht mehr gefallen nach einiger Zeit, und da hab ich gedacht, fahr ich doch mit der Ila, der Magdalena und der Christine (Kaufmann) einfach nach Los Angeles und guck mir das mal an, wies da ist, … und dann hab ich angefangen in Amerika, mich hauptsächlich um mich selber zu kümmern, Führerschein zu machen … Und dann habe ich mir die billigste Geschichte, die ich mir zusammenbauen konnte an einem reduzierten Drehort, eben diesem kleinen Dörfchen da in der Wüste oder besser Steppe bei Los Angeles genommen, wir sind hingegangen und haben es so gemacht“. So Schroeter 1973 in der Septembernummer der Zeitschrift Filmkritik.

 

Je t’aime

 

Drehort: Willow Springs. Eine leerstehende Baracke. Ein Müllhaufen mit noch lesbaren Briefen. Schroeter arrangiert daraus sein Seelendrama. Gesendet am 3. April 1973 vom ZDF. In Toulon bekommt der Film den Grand Prix. Die (äußere) Realität ist Ausgangspunkt irrealer Reisen auf der Emotionsvertikalen. Text macht Sinn, wenn er als Geste erfahrbar wird. Zwischen Lautréamont und Papier aus der Tonne gibt es in „Willow Springs“ keinen Unterschied, sofern die Gebärde des Textes die gleiche ist. Auch hier achtet Schroeter keine Hierarchien. Magdalena Montezuma macht Sinn, indem sie übergangslos eine Landkommunardin spielt, ein Kraftweib, eine Lesbierin, eine Mutter, eine Sektenführerin, eine Heilige. Und akustisch machen Sinn die Andrew Sisters neben Saint-Saëns.

 

Sinn. Das schreibt sich so dahin. Vier Jahre nach „Willow Springs“ äußert sich Schroeter zum Sinn seiner Arbeit und zum Hör- und Tastsinn. Anlass ist der Tod von Maria Callas, der seine ersten Filme gegolten hatten. „Unter allen weiblichen Interpreten, die ich kenne, war Maria Callas diejenige, die in ihrer Ausdruckskraft die Zeit solange stehen lassen konnte, bis jede Angst verschwand, auch die vor dem Tode selbst, und ein dem, was man Glück nennen sollte, ähnlicher Zustand erreicht wurde. Wie  ein Blinder seinen Hörsinn und Tastsinn besser entwickelt als ein Sehender, so war Maria Callas ein Beweis dafür, dass man aus sich heraus, ohne die Befolgung stupider Vorschriften in einem eingeengten System – sie war zu kurzsichtig, um überhaupt von der Bühne her den Taktstock des Dirigenten sehen zu können – Schwächen unbesehen zur eigener Kreativität verwandeln kann“ (Schroeter, Der Herztod der Primadonna, in: Der Spiegel 40/1977).

 

Der Blick geht in die Vertikale. Hoch oben der Seiltänzer. Schroeter lässt für sich Jean Genet sprechen. Das Credo: „Die Liebe – obschon hoffnungslos, so doch voller Zärtlichkeit – die Du Deinem Seil entgegenbringen musst, wird ebensoviel Kraft haben wie das Eisenseil, das Dich trägt. Ich kenne die Dinge, ihre Tücke, ihre Grausamkeit und auch ihre Dankbarkeit. Das Seil war tot – oder wenn Du willst stumm, blind – Du erscheinst: es wird lebendig, es spricht. Du wirst es lieben, mit einer beinahe fleischlichen Liebe … Du bist ein Artist – leider -, Du kannst Dich nicht mehr vor dem ungeheuren Abgrund Deiner Augen verschließen. Narziss tanzt? Aber es handelt sich um ganz andere Dinge als um Koketterie, Egoismus oder Eigenliebe. Wie, wenn es der Tod selbst wäre? Tanze also allein. Blass, fahl, ängstlich bedacht, Deinem Bild zu gefallen: so wird es schließlich Dein Bild sein, das für Dich tanzt“.

 

Also aufs Hochseil. Das bekanntlich horizontal gespannt ist. Wie balanciert Schroeter durch seine Bildabgründe und Höhenflüge, wenn eine narrative Schiene eingebaut wird, die von A nach Z verläuft, montiert auf einem Ausgangs- und einem Endpunkt? Wir reden vom Filmplot. Schon gleich nach dem Genet/Schroeter-Credo folgen erzählende Filme: „Regno di Napoli“ (1977/78) und „Palermo oder Wolfsburg“ (1979/80). Ich war darüber so erschrocken, dass ich mich in meinem Text für das Cinegraph-Lexikon zu den Sätzen verleiten ließ: Das Narrative hält Einzug. Man sieht es mit gemischten Gefühlen. Schroeter wird Mann. Der Schmelz der frühen Filme ist fortan aufgehoben – auf einer Basis der Reife. Ich ergreife die Gelegenheit, das zurechtzurücken. Dumm tüch, war das, wie man bei mir zuhause sagt. Denn wer auf dem Hochseil ist, muss balancieren und innehalten können.

 

Die – sozialrealistische – lineare Erzählung (Co-Autor: Wolf Wondratschek) in „Regno die Napoli“ (1977/78) will von der schroeterschen Theatralik weg. Ida di Benedetto und Antonio Orlando bringen jedoch in die Geschichte der Pagano-Sippe individuelles Pathos ein. Ihre großen Gebärden illustrieren zunächst das narrative Geschehen. Doch das Gemeinsame dieser (und der anderen) Nummern funktioniert. Schroeters Emotionsstrom überschwemmt das Wondratschek-Libretto, etwa wie die politische Oper des 19. Jahrhunderts sich über die Musik mitteilte. Die Schroeter-Oper ist es, die Mitleid und Trauer erweckt: die Anteilnahme an einem Proletariat, dessen Existenz vom politischen Wechsel vom Faschismus zum Kommunismus (1978 bekam Neapel einen kommunistischen Bürgermeister) unberührt, d.h. elend bleibt. Der Text weicht vor  der Emotion zurück. Schroeter aber machte den sozialen Appell, den theoretischen Diskurs zur musikalischen Sache. Er erreichte mit dem Film ein großes Publikum, und es gab den Deutschen Filmpreis (Filmband in Gold).

 

Palermo oder Wolfsburg“ (1979/80), die Geschichte des jungen Arbeiters Nicola, wurde mit dem Goldenen Bären der Berlinale belohnt. Palermo gegen Wolfsburg ist gemeint. Der Stil wechselt mit dem Ort. Die Beschreibung der Heimat des Gastarbeiters ist semi-dokumentarisch. Die Wolfsburger Szenen sind durchstilisiert und ins Satirische und Groteske gesteigert. Auf dem Weg von Süd nach Nord wird dem jungen Mann die Realität zur Fratze. Er verliert die Balance. Er stürzt. Die Bilder, die Schroeter dafür findet, jagen einem Schauer über den Rücken. „Palermo oder Wolfsburg“ spricht das Gemüt an.

 

Zwischen diesen Filmen erfüllte sich Schroeter einen Wunsch, der ihn wieder zur Nähe von „Argila“ (1968) brachte. „Die weiße Reise“ (1980) verfilmt das Skript „Die Matrosen dieser Welt“, das er im Juni 1972 in der Zeitschrift Filmkritik veröffentlicht hatte. Das Budget von  70.000 schweizer Francs erlaubt eine Drehzeit von sieben Tagen – in der Schweiz. Motiv ist ein Privathaus. Das Land wird nicht verlassen, soviel auch von fremden Ländern und Meeren die Rede ist. Die Reise ist auf der Heim-Bühne zu fixieren. Den Titel gibt eine Eisenbahnfahrt. Schroeter hielt auf der Fahrt nach Zürich die Kamera aus dem Fenster und filmte den sehr weißen Schnee, der auf die sehr dunkle Landschaft fiel. Die autobiografische Schneespur folgt den Spuren des Matrosen-Liebespaars. Die Gleise nach Zürich gehen gleichsam in die weiße schaumige Kielspur des Schiffes über, das die Liebenden in dunkle Weiten: in den Liebestod führt. Aus Biografischem, Dokumentarischem, Kino-, Lese- und Theatererfahrung reichert sich der Film an. Er bewegt sich auf tausend Plateaus: er fährt wie ein wahnsinniger Fahrstuhl auf der Senkrechten gleichzeitig nach oben und unten. Neben Hölderlins „Aber silbern an reinen Tagen“ werden die Rock- und Pop-Texte „At the time you’ll get this letter“ und „Should I tell him“ zitiert. Zu hören ist die Stimme von Bulle Ogier. Sie spricht alle Personen des Films, halb ironisch, halb ernsthaft im Tonfall eines vertraulichen Bekenntnisses.

 

Im selben Jahr folgt „Die Generalprobe“ vom Theater-Festival in Nancy. Schroeter sucht die Gemeinsamkeit der fremden und mit den eigenen Nummern heraus, und er erklärt seine Liebe. Das ist wörtlich zu verstehen. Das Je t’aime gibt dem Film die repetitive Struktur. Die Liebeserklärung gilt dem Clochard, dem alten Mann, dem schönen jungen Marokkaner Mostefa Djadjam und der starken Persönlichkeit Catherine Brasier. Die äußerste Trauer über den Verlust eines geliebten Wesens bewirkt den Verlust des Interesses an den äußeren Dingen, an der Außenwelt. Pina Bauschs Tanz gibt dem Rückzug in die Dimension der Innenwelt die expressive Antwort: Liebe und Wahrheit versprechen Rettung, für jeden Tag.

 

Ähnlich, wenn auch als großer Spielfilm, antwortet „Tag der Idioten“ (1981) auf Weltschmerz und Realitätsverlust. In den Mauern eines Irrenhauses verlieren Carole Bouquet und Magdalena Montezuma in schöner Unerbittlichkeit das Interesse an der äußeren Welt. Doch so sehr sie sich auf der Vertikalen ihrer ausgedehnten Innenwelten bewegen, Schroeter stellt ihnen in einem märchenhaften Akt äußerster Zuwendung den totalen Ausweg offen. Die undurchdringlichen Mauern stellen sich im Finale als Kulissen des tschechischen Studios dar. Nach allen Seiten kippen die Wände nach außen. Licht dringt rundum ein. Die dichte Montage gehorcht keineswegs der Logik einer Handlung. Sie folgt den Gefühlen der handelnden Personen, obsessiv.

 

Mit dem Film „Der lachende Stern“ (1983) antwortet Schroeter auf das von der Gattin des Präsidenten Marcos in Manila veranstaltete Filmfestival. Sein Fazit: „Reform und Terror werden die Situation nicht verändern, wenn sie nicht auf die Massen eingehen. Die werden das System selber verändern“ (Off-Kommentar). Gewissheit verschafft ein junger Filipino, der auf einer Glasplatte – sie wird von unten fotografiert – einen sechszackigen Streichholz-Stern legt; ein Tropfen Flüssigkeit bringt den Stern spielerisch-geheimnisvoll zum Pulsieren. Das Ritual wiederholt sich im Film. Es ist die Antwort auf die offizielle Politik. Lachen und Weinen. Vorm Altar liegt, gläubig aufschauend, ein Junge in hot pants und geißelt seinen zarten Körper.

 

Die Veredelung. „Der Rosenkönig“ (1984/86) züchtet. Dem schönen jungen Mann schlitzt er die Adern auf und pflanzt Zuchttriebe in den begehrten Leib. Dass er knospe. Schroeter verzichtet auf das Camp- und Szenemäßige und lässt sich ganz vom Tieckschen Pathos des 19. Jahrhunderts ergreifen. Ein Bild-Musik-Gesamtkunstwerk. Verschwinden und Wiedergeburt. In einem. In einer Vertikalen. Das ist auch das Bild  der Tiefe und Höhe in „Malina“ (1990), der Verfilmung und Transponierung des einzigen Romans von Ingeborg Bachmann, gespielt von Isabelle Huppert (Die Frau) und Matthieu Carrière (Malina). Georg Seeßlen befand: „Schön fremd in unserer Filmkultur“. – „Der Film geht nah“, fanden Brigitte Kausch und Monika Treut. In Tränen aufgelöst. Gelöst. Erlöst, die Zwei. Tears of Love.  

 

Poussierès d’amour“ (Abfallprodukte der Liebe. Tears of Love, 1996).  Auf der steilen Treppe der Abtei von Royaumont purzelt mitten in der Arie ein Tafelbild die Stufen herunter und trifft die beiden grandiosen (Mezzo-)Sopranistinnen Kristine und Katherine Ciesinski ins Kreuz. Da die Sängerinnen auch begnadete Schauspielerinnen sind, versuchen sie weiter zu spielen (Berlioz); denn die Perfektion ist es nicht (allein), die zum höchsten Ausdruck verhilft. Schroeter, inzwischen auch Opernregisseur („Tosca" in der Bastille) hatte Sängerinnen, die er liebt, in die Abtei eingeladen. Wo kommt sie her, die Expressivität, der Ausdruck der großen Stimme? Was jagt den Schauer über den Rücken? Ist es die Intensität „unserer Suche nach einer größeren Annäherung mit dem Anderen, nach der Liebe und sämtlichen denkbaren Liebesfähigkeiten" (Schroeter)? Die Sängerin: „Ich habe gelernt mit den Eierstöcken zu singen, und zwar mit zehn Paar gleichzeitig." Große Gefühle, große Musik – und wieder weggeblasen, mit leichter Hand, einige Male auch mit gnädig entlassender Geste. Schroeter ist Hausherr und Regisseur Er bringt die Gäste dazu sich zu öffnen (und den Zuschauer auch).

 

„Deux“ (Zwei, 2002), die surrealistische Autobiographie, entfaltet Schroeters Welt. Wieder geht der Weg zwischen Identitäten hin und her, nämlich vom einen Zwilling zum anderen, beide gespielt von Isabelle Huppert. Die Schwestern wachsen getrennt von einander auf. Sie sind denkbar verschieden konditioniert. In den Augen Schroeters sind sie eine Einheit,  sein Leben. „Mein wichtigster Film“ (Schroeter). Auseinanderhalten und gleichwohl zusammenbringen, das ist seine, unsere Lust. Schroeter läßt die Körper und ihre Wunder singen, ihre Wunder und Wunden. Seit vierzig Jahren. 2008 wird sein neuer Film, „Nuit de chien“ (Diese Nacht), im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig gezeigt.

 

Dietrich Kuhlbrodt

 

Dieser Text ist ein Beitrag für den Katalog der Viennale 2008 

 

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