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Die Welt als Probebühne
Nachruf auf Jacques Rivette
Kaum ein Filmemacher war so offen für die Inspiration
der Darstellerinnen: Zum Tod des französischen Regisseurs Jacques Rivette.
Julie sitzt auf der Bank in einem Park in Paris. Sie liest ein Buch über Magie, da eilt Céline vorbei, sie lässt etwas zu Boden fallen und es beginnt eine Verfolgung, die eine Verführung ist, eine spielerische Jagd hoch nach Montmartre, dann eine langsame Annäherung der beiden Frauen. So beginnt eine Geschichte, die von "Céline und Julie fahren Boot", Jacques Rivettes vielleicht schönstem Film. Es ist eine eigentümliche Geschichte, eine, die immer wieder an ihren Anfang springt, eine Geschichte, in der sich alles als bloße Setzung erweist. Nicht nur das Kennenlernen vollzieht sich wie ein ritualisiertes Spiel, am Ende wird sich der Kreis schließen, Céline wird auf der Bank sitzen und Julie hastet vorbei. Die Dinge im Fluss zu zeigen, das war die große Kunst Jacques Rivettes. Das Leben als Spiel zu inszenieren, als Improvisation, als fortwährende Kollaboration und Konfrontation und Konfabulation zwischen Individuum und Gruppe, aber auch zwischen Regie, Kamera, Darstellerinnen, Buch und dem umgebenden Raum. Dabei war Rivette bei aller Liebe zum Spielerischen ein intellektueller Regisseur, wenn es je einen gab, aber es fehlte, anders als etwa dem Freund und Mitstreiter Jean-Luc Godard, seinem Intellekt alle Bösartigkeit, es fehlte das Besserwissen und das Streberhafte und das explizit und überdeutlich Politische.
Dabei war es ja Rivette, der, mit ausdrücklichem Hinweis auf Godard, einen der berühmtesten Sätze zum Verhältnis von Politik und Film schrieb, 1961, in den Cahiers du Cinema, über Gillo Pontecorvos Konzentrationslagerfilm "Kapo": „Sehen Sie sich in Kapo die Einstellung an“, heißt es da, „in der Riva sich umbringt, indem sie sich in den elektrischen Stacheldraht stürzt; der Mensch, der sich in diesem Augenblick zu einer Kamerafahrt vorwärts entschließt, um den Kadaver in Aufsicht zu rekadrieren, wobei er es sich angelegen sein lässt, die erhobene Hand in einem bestimmten Winkel seiner endgültigen Kadrage zu fixieren, für diesen Menschen kann man nur tiefste Verachtung empfinden.“ Die Politik des Filmischen war für Rivette, davon spricht dieses Verdikt, notwendig gegründet auf eine Ethik der Darstellung. Worauf es ihm selbst immer ankam, war Bewahrung des Lebendigen, Widerstand gegen jede Fixierung, ständige Bewegung in einem immer offenen, immer sich neu öffnenden Möglichkeitsraum. Kaum ein Regisseur war je so wenig Diktator, kaum einer so offen für das Tun und die Inspiration und Improvisation der – zumeist – Darstellerinnen und KoautorInnen, aber auch seines regelmäßigen Kameramanns William Lubtchansky. Nur auf den ersten Blick erstaunt dabei die große Affinität von Rivettes Kino zum Theater. Wieder und wieder suchen seine Filme das Theatermilieu, wieder und wieder zeigen sie Schauspielgruppen bei den Proben, als Spiel, als Streit, als Aushandlung. Wenn in Rivettes Filmen die Welt eine Bühne ist, dann eine, auf der nie eine fertige Inszenierung, sondern immer nur deren Entstehen zu sehen ist.
Wie Godard, Rohmer, Truffaut und Chabrol gehörte der 1928 in Rouen geborene Rivette von Anfang an zum engsten Kern der Pariser Nachkriegs-Cinephilie, aus dem erst die legendären Cahiers du Cinéma und dann die Filme der Nouvelle Vague hervorgingen. Rivette war einer der brillantesten Kritiker der Zeitschrift, geriet in Konflikt mit dem Konservativen Eric Rohmer und war ab 1963 zwei Jahre lang ihr Chefredakteur. Als Regisseur stand Rivette von Anfang an für die breitere Öffentlichkeit im Schatten seiner Mitstreiter. Zwar hatte er als zweiter nach Chabrol, 1958 nämlich, einen Langfilm zu drehen begonnen, "Paris gehört uns". Die ironische Pointe war nur, dass in Truffauts Erstling "Sie küssten und sie schlugen ihn" die Familie ins Kino geht, um diesen in Wahrheit wegen Geldproblemen noch gar nicht fertiggestellten Rivette-Film zu sehen. In dem übrigens Jean-Luc Godard mitspielt, dessen "Außer Atem" mehr sogar noch als Truffauts Debüt Epoche machte, während Rivettes auf ganz andere Art faszinierender Erstling wenig Aufmerksamkeit fand. In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern entstanden mit "L’amour fou", "Out 1" und "Céline und Julie fahren Boot" jene Filme, die Rivettes Ruhm begründeten. Einen Ruhm allerdings, der bis heute seltsam unsichtbar ist; sogar "Céline und Julie" von 1974, ein Film, der auf kaum einer Bestenliste der Filmgeschichte fehlt, ist hierzulande nicht gerade allseits bekannt.
Für die mangelnde Popularität gibt es viele, nur keine guten Gründe. Zum einen sind bei Rivette Handlung und Plot niemals der Dollpunkt. Oft sieht, was geschieht, aus, als würde es gerade im Geschehen verfertigt. Wieder und wieder drehen sich ganze Filme, "Céline und Julie" ebenso wie "An der Nordbrücke" (1981) um die Suche nach Spielregeln fürs Weitermachen, statt sich nach den Regeln strikter Drehbuchdramaturgien von geschürzten Knoten zu deren Auflösung zu bewegen. Typischerweise gibt es in Rivette-Filmen einen vagen, nie wirklich sich aufklärenden Verschwörungshintergrund. Ersatzweise Götter und/oder Magie. Gerade dieses Hereinragen von etwas, das dem Geschehen bis zuletzt als Andeutung eines Zusammenhangs äußerlich bleibt, macht die offenen Strukturen, das zentrumsfreie Spiel und Zusammenspiel als Handlungsprinzip überhaupt möglich. Stets geht es viel mehr darum, überhaupt etwas zu setzen, um dann zu sehen, was daraus wird. Nicht die Intrige interessiert, sondern der Umgang mit ihrer Möglichkeit.
Es kommt – vielmehr es gehört notwendig – dazu: Die Filme Jacques
Rivettes sind im Vergleich immer recht lang. Heraus ragt dabei das ursprünglich
fürs französische Fernsehen gedrehte, von diesem aber brüsk zurückgewiesene
Dreizehnstundenwerk "Out 1", in dem eine Gruppe eng und lose verbundener
Theatermenschen sich wie ein hochkompliziertes Mobile durch Paris bewegen und,
sehr frei nach Balzac, Teil einer großen Verschwörung sind oder auch
nicht. In "Céline und Julie fahren Boot" erfinden sich zwei
Frauen, sehr gleichberechtigt mit Buch und Regie, eine richtige Räuberpistole,
die sich als Henry-James-Verfilmung in einem rätselhaften Haus dann tatsächlich
abspielt. Sie lutschen am Lutscher, sie kucken zu wie im Kino und zuletzt greifen
sie in die Geschichte ein, die sich längst verselbständigt hat. Klingt
nach einem labyrinthischen Spiegelkabinett? Gewiss, das sind Rivettes Filme
immer auch, aber doch auf höchst unanstrengende, sogar euphorisierende
Weise.
Ein Comeback in der größeren Filmöffentlichkeit erlebte Jacques Rivette mit "Die schöne Querulantin" Anfang der neunziger Jahre. Man sieht, frei wiederum nach Balzac, Michel Piccoli als Maler, der dem nackten Körper und dem eisernen Willen Emmanuelle Béarts ein Meisterwerk abzuringen versucht, das bis zuletzt unbekannt bleibt. Dieser Film, von dem eine Vier- und eine Zweistundenversion existiert, brachte den Namen Rivette wieder in Umlauf. Es folgten weitere beglückende Werke wie das Musical "Vorsicht, zerbrechlich!" oder die Geistergeschichte "Geschichte von Marie und Julien", mit der der Regisseur ein in den Siebzigern abgebrochenes Projekt wiederaufnahm. Als federleichter Epilog zum Werk entstand mit "36 vues du Pic Saint-Loup" sein kürzester Film. Eine Zirkuserzählung mit Clowns, eine Meditation über Erinnerung, Liebe, Alter und Abschied. Wie auch Rohmers letzter Film "Les amours d ’Astrée et de Céladon" eine in der Distanz von Paris entstandene Pastorale.
Und wie bei Rohmer ein schwereloser Schlussstein ohne falsche Versöhnung, ein Rivette-Film in nuce, des einzigartigen Werks dieses Regisseurs sehr würdig. Am Freitag [den 29.01.2016] ist Jacques Rivette im Alter von 87 Jahren gestorben.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen am 29.1. 2016 in der
taz
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