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»Report About Myself« (1)

Selten denke ich an meine Jugend. Die Versuchung, einen Film auf dem Hintergrund jener Jahre zu machen, ist mir nie gekommen. Nur einmal bin ich in Gedanken so weit zurückgegangen, sogar noch weiter. Das Sujet trug den Titel Le allegre ragazze del ’24 (»Die munteren Mädchen von ’24«), aber da ging es um meine Kindheit, eine recht farblose Zeit meines Lebens, wenn man davon absieht, daß ich es entgegen den bürgerlichen Schicklichkeitsregeln, die damals noch sehr beachtet wurden, vorzog, mit Proletarierkindern befreundet zu sein statt mit Bürgerkindern wie mir. Vielleicht hing ich unbewußt an der einfachen Herkunft meiner Eltern, die sozusagen autodidaktische Bürger waren.

 

Ein anderes Mal war vor ein paar Jahren, in einer Stadt, die nicht jene ist, in der ich jetzt wohne. Ich kam an einem Blumenladen vorbei und wollte gerade eintreten, um ein paar Blumen zu schicken, als ein Mann, der ungefähr zehn Meter vor mir herging, plötzlich stehenbleibt und den rechten Arm hebt, um auf etwas zu zeigen. Ich bleibe ebenfalls stehen, um der Linie seines Fingers zu folgen, sehe aber nichts Zeigenswertes. An dem betreffenden Punkt sind keine Bäume und keine Hochspannungsmasten, wie man sie an der Peripherie stehen sieht, keine Telegraphenmasten, Randsteine, Müllhaufen, auch keine Autos, Trambahnen oder Fußgänger kommen vorbei. Nichts. Der Punkt ist ein leerer Zwischenraum zwischen zwei Häusern, leer von allem außer der Leere. Eben dies ist das Sonderbare, man hat nicht den Eindruck, daß dort, wo es effektiv ja der Fall ist, die Peripherie beginnt. Man hat den Eindruck einer Leere. Was zum Teufel will der Mann zeigen?

Er mag um die fünfzig sein, groß und kräftig, steht breitbeinig da, resolut, und die Mütze, die er auf dem Kopf hat, unterstreicht nur die drohende Reglosigkeit seines gestreckten Arms. Vielleicht ist er ein Verrückter, aus der Irrenanstalt entsprungen, kommt ja alle naselang vor in der Gegend. Oder einer, den man probeweise aus der Irrenanstalt entlassen hat (entlassen oder eingewiesen in eine andere Irrenanstalt?). Oder auch, einfacher, jemand, der etwas zeigt, was nur er sieht, oder die Geste ist ihm ganz unwillkürlich entschlüpft, ohne daß ein Befehl vom Gehirn ergangen wäre. Niemand weiß so genau, wie das Gehirn funktioniert und welche Interferenzen zwischen seinem Chemismus und unseren Verhaltensweisen bestehen.

 

Das Gebäude links von dem Zwischenraum ist niedrig und mindestens schon ein Jahrhundert alt. Es hat einen schmutzigweißen Verputz, der sich bei Postkarten-Sonnenuntergängen rosa färbt. »Oft dachten wir/Daß die Strahlen der Sonne, wenn sie durch die Wolken brachen am Abend/Auf einen Baum zeigten, aber es stimmte nicht« (Verse aus einem Gedicht von MacLeish). An jenem Abend zeigten sie auf jenes Haus.

 

Ein Laden ist da, ein einziger in dem ganzen Gebäude, mir scheint eine Drogerie. Rings um die Tür und das Schaufenster, einen Meter breit, ist die Wand frisch geweißelt, milchweiß, so daß die Tür, das Fenster und das geweißelte Mauerstück auf der Fassade ein Quadrat bilden, weiß auf weiß à la Malewitsch.

 

Eine Frau, die herauskommt, öffnet die Tür und schließt sie nicht wieder. Die Tür pendelt ein wenig, und in dem Winkel, in dem sie stehenbleibt, umrahmt sie den Mann, und der Finger des Mannes findet endlich sein Ziel. Findet mich. Ich bemerke es mit einem gewissen Unmut, als wäre der Finger wirklich auf mich gerichtet und würde nicht bloß durch die spiegelnde Glastür in eine andere Richtung gelenkt. Der Unmut bringt mich auf einen anderen Gedanken. Was interessiert mich so sehr an einem Individuum, das sich ungehobelt benimmt, gedrängt von wer weiß welchen Trieben? Ich bin direkt versucht hinzulaufen, um ihm den Arm herunterzureißen und womöglich gar, wie beim Arroseur arrosé, den Schlauch auf ihn zu richten, mit dem ein Ladengehilfe gegen den Gehsteig spült. Ich setze mich effektiv in Bewegung. Doch es gibt Techniken zur Bekämpfung perverser Gedanken. Eine davon ist, den Gedanken nicht in die Tat umzusetzen. Ich wende sie an. Behalte dabei aber seltsamerweise den Mann im Auge. Seine Gestalt bleibt weiter das einzige scharf fokussierte Motiv in der ganzen Umgebung. Vielleicht ist er einer, der jeden Tag um diese Zeit herkommt und den Finger erhebt gegen … was weiß ich? gegen die Welt, also die Leere hinter dem Zwischenraum? Aber diesmal ist etwas Neues in der Szene, etwas Zusätzliches, der Angeklagte bin ich. Und das Schöne ist, daß sich ein vages Schuldgefühl auf dem Grunde meines Bewußtseins regt, ich fühle es aufsteigen wie einen Schatten, einen hitchcockschen Schatten von Zweifel, der auf die Konsistenz meines Lebens fällt.

 

Ein kleines Mädchen kommt vorbei und fragt mich, wie spät es ist. Ich sage es ihr. Sie guckt mich erstaunt und ein bißchen vorwurfsvoll an, als ob es meine Schuld wäre, daß es schon acht ist.

»So spät?«

Sie faßt sich mit einer Hand an die Stirn, schlägt sie dagegen, läuft davon und verschwindet. Der kleine Vorfall dient wenigstens dazu, mich etwas abzulenken. Ich drehe mich um und betrachte den Blumenladen. Das Schaufenster ist überfüllt mit antik aussehenden Blumen und jenen schlanken, spindelförmigen Vasen, die bis zu zwei Meter hoch werden können (nach solchen hatte ich lange während der Dreharbeiten zu BLOW-UP gesucht, um sie in der Sequenz mit den Modellen zu verwenden, aber in ganz London war nicht eine aufzutreiben).

Aus dem Laden dringt das leise Geräusch von plätscherndem Wasser, vermutlich von einer kleinen Fontäne, vermischt mit dem Geruch der Blumen. Nicht mit dem Duft, mit dem Modergeruch der Blätter und Stengel, die vom vielen Gießen schon fast verfaulen. Ein Hauch von Tod weht mich an. Ich drücke das Gesicht an die Scheibe, es ist, als starrte ich durch das Glas auf Schreine, die in gewissen Kirchen die Gebeine der Heiligen bergen. Der Anblick ist ebenso abstoßend wie der Geruch. Ich sehe uralte Greise, ausgemergelt und blutleer, die auf kleinen grünen Korbsesseln hocken und plaudern. Doch ihre Stimme ist das Geplätscher der kleinen Fontäne.

An einem Plastikhaken auf der Innenseite der Glastür hängt ein kleines Pappschild. Ich hatte es schon bemerkt und gedacht, es gebe die Öffnungszeiten des Ladens an, doch nun sehe ich, daß da etwas geschrieben steht: »Die Überlebenden der vierten Aushebung treffen sich Sonntag, den 18. d. M., zu fröhlichem Beisammensein in einem Restaurant im Zentrum. Die Angehörigen des Jahrgangs 1882 werden gebeten, sich bei Bertini, dem Blumenhändler in der Via del Convento, bis spätestens nächsten 12. zu melden

 

Eine Woche zuvor war ich aus Paris zurückgekehrt, wo Roland Barthes mir eine ziemlich beunruhigende Sache erzählt hatte, die mir ein vages Gefühl von mentaler Klaustrophobie verursachte, wie eine Situation ohne Ausweg. Vom Sekretariat des College de France, wo er seine exquisiten Vorlesungen hielt, hatte er eine Liste sämtlicher Professoren des College bekommen, säuberlich aufgeführt nach den Daten ihrer jeweiligen Pensionierung. Für einen von ihnen, den jüngsten, war das Jahr seiner Pensionierung 2006.

»Das ist das erste Mal, daß sich das Jahr Zweitausend bei mir meldet«, war Barthes’ Kommentar. Und in seiner Stimme lag die ganze Ironie, die er gewöhnlich hatte, aber auch ein bißchen Melancholie, die er jedoch bemüht zu verbergen trachtete, als wäre sie gleichsam eine ungebührliche Anwandlung.

Ich weiß nicht, warum mir diese Geschichte in jenem Moment vor dem Blumenladen erneut in den Sinn kam. Ich las noch einmal das Pappschild mit der Aufforderung zum fröhlichen Beisammensein, und plötzlich fühlte ich mich beengt, eingezwängt zwischen diesen zwei Zeitangaben: 1882 und 2006. Und das war der Augenblick, da ich an meine Jugend dachte, und mich überkam eine wilde Lust, einen Film darüber zu machen, genau über mich, den Unterzeichneten von damals, dem ich mit den Jahren – unfreundlicher- und vielleicht unvernünftigerweise – den Rücken gekehrt hatte.

 

Sie dauerte einen Moment, diese Lust. Und sie kann wohl auch nicht so unwiderstehlich gewesen sein, wenn sie bei Lichte besehen, also während ich jetzt von ihr spreche, nicht wiederkommt.

 

Michelangelo Antonioni

 

(1) Der Titel ist mir auf englisch eingefallen, ich weiß nicht warum. Italienisch könnte er heißen Resoconto su me stesso, häßlich. Oder Racconto personale, unklar. Lassen wir ihn, wie er ist. M.A.

 

Dieser Text ist im Original erschienen in: Michelangelo Antonioni, Quel Bowling sul Tevere. Racconti, Torlno, Einaudi 1983. In der deutschen Übersetzung (Aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber)

zuerst in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1987. Diese Zweitveröffentlichung des deutschen Textes in der filmzentrale wurde ermöglicht mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.

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