zur startseite
zum archiv
zu den essays
Lee
Marvin
19.2.1924
– 29.8.1987
Ob
das noch ein Gesicht war oder schon eine Fresse, die Raubtieraugen, die nach
innen und nach außen gleichzeitig gericht sind, diese sonderbare Knollennase
eines amerikanischen Prototypen, der seine Gewaltausbrüche stets als Ritual
inszeniert, der Mund, der zum Schnappen und Schreien besser geeignet ist als
zu sonstigen kulturellen oder emotionalen Gesten, von einem Grinsen abgesehen,
das die Niederlage eines Gegners begleitet, und der stierhafteste aller Stiernacken
des Westens, den selten nur wallenderes Haupthaar verdeckte? Ob das noch Sprache
war, oder schon die Kombination der tierhaften Laute von Bedrohung, Gier, Befriedigung?
Egal, die größte Bedrohung von Heavy Lee Marvin ging sowieso von
seiner Bewegung aus. In allen seinen großen, gewalttätigen Filmen
bewegt er sich schneller als alle anderen und unterscheidet sich dadurch schon
einmal grundsätzlich von seine Mitmenschen, egal auf welcher Seite des Rechts sie stehen. Die
Diskrepanz ließ ihn unwirklich erscheinen, seine Bösartigkeit aber
gleichzeitig durch und durch körperlich.
Dieser Mann machte nichts Böses,
er war das Böse. Es gab Gangster außer ihm, es gab andere Outlaws.
Aber die waren entweder neurotische Sadisten, oder sie hatten nichts anderes
im Sinn, als eine Bank zu überfallen oder sonstwie an das schnelle Geld
zu kommen. Marvin überschritt statt
dessen die Grenzen der psychologisch erklärbaren
oder materiell motivierten Gewalttätigkeit. Dieser Mann kannte buchstäblich
keine Gnade; es war nicht vorstellbar, daß er sich, in aller Schurkischkeit,
einem Ehrenkodex der Unterwelt oder den ungeschriebenen Gesetzen des Western
unterwarf. Frauen und Kinder durften sich vor ihm nicht sicher wähnen.
Wie eine Art Spuk suchte er die Welt der amerikanische Träume von Freiheit auf, demontierte Gestalten wie den Gangster
und den Westerner und zeigte das gehetzte Triebwesen in ihnen.
Die Welt der Stars betrat Marvin
gleichsam als böser Geist des rechten Amerika; Schauspieler wurde er, mehr
zufällig, als eine Verwundung ihn im Zweiten Weltkrieg in die Heimat zurückverbannte.
Ein
Marine blieb er,
im Herzen immer, nach seinen stolzen Bekundungen, und wie kein zweiter verkörperte
er das erzamerikanische Problem, sich nach Autorität, väterlicher
Führung und Ordnung zu sehnen, und zugleich beständig dagegen zu rebellieren.
Der Vater, ein harter, selbstgerechter Richter, dem er es nie wirklich recht
machen konnte, und der sich nur erreichen ließ durch Beweis von Härte,
wurde abgelöst von den Vorgesetzten in der Armee und schließlich
von den Filmregisseuren. Unter denen schätzt er die Diktatoren wie Lang
oder Ford. Und es war immer das gleiche Spiel, dasselbe unlösbare Problem.
Er konnte diesen Konflikt nur in körperlicher Gewalt lösen, in seiner
mythischen Schöpfung des absoluten tough guy auf dem Set und außerhalb. Er schuf eine Gestalt, die ohne
soziale Herkunft schien, autark in ihrer Brutalität, als sei sie, wie es
einmal im „Rolling Stone" hieß, „von der Welt ausgekotzt worden".
Seine Legende beginnt damit, daß
er die Schule verlassen muß, weil er einen Mitschüler aus dem Fenster
wirft, sie reicht über die Sauf- und Prügelgeschichten, Streitereien
mit berühmten, aber nicht seinem Vater-Ideal entsprechenden Regisseuren,
bis hin zu heftigen, öffentlichen Scheidungskämpfen. Dazwischen steht
die Pistole, die ihm sein Vater gab, mit der er einen Japaner erschoß,
dessen Leiche er die Zähne ausbrach, um sie seinem Vater als Souvenir zu
überbringen. „Das war meine Beziehung zu meinem Vater. Durch die Waffe.
Immer die Waffe. Erklärt das LIBERTY VALANCE?"
Zum Teil jedenfalls, schätze
ich. Andererseits war Marvin auch ein C.G. Jung-Leser und wußte, daß
seine Gestalt ihren Erfolg dem kollektiven Unterbewußtsein seines Publikums
verdankte. Wie alle großen Heavies hat Marvin seinen Typ in zahlreichen
Filmen, schließlich auch in einer Fernsehserie mit 117 Folgen entwickelt.
In der von 1957 bis 1960 produzierten Krimiserie M-SQUAD (deutsch: DEZERNAT
M) spielte er den bulligen Lieutenant Ballinger.
In den fünfziger Jahren ist
er der Heavy, der in Filmen wie THE BIG HEAT (1953) oder THE WILD ONES (1954)
durch seine bedrohliche physische Präsenz der Hauptfigur Profil verleiht.
Die Apotheose seines mittleren Western-Heavies schuf Marvin, indem er das Prinzip
des zu schnellen Handelns auf das Genre anwendet, das eigentlich nach der Abwechslung
von Ruhe und Bewegung verlangt, in drei Filmen der frühen sechziger Jahre.
In Michael Curtiz’ THE COMANCHEROS (1961) ist seine Bösartigkeit fast bis
zur Groteske gesteigert (und aus
unerfindlichen Gründen läßt ihn der Film viel zu früh sterben).
Gewissermaßen die Zusammenfassung aller seiner bisherigen Schurkenrollen
in ihrer Mischung aus polternder, faszinierender Anarchie und Grausamkeit lieferte
Lee Marvin dann in John Fords THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (1962). Als er da erschossen wird, ist auch die Ära des „wilden"
Westens zu Ende. Und die Parodie auf diese Figur spielte Marvin in Elliott Silversteins
CAT BALLOU (1965) gleich selber; er ist hier der bösartige Killer Tim Strawn
und auch Kid Sheleen, ein Revolverheld aus den besseren Zeiten des Westens,
der zum Helden von Groschenheften gemacht worden ist, selbst aber ziemlich heruntergekommen
und dem Trunk verfallen war, bevor er sich noch einmal aufraffft, der schönen
Cat Ballou wegen, und seinen schrecklichen „Zwilling" erledigt. Danach
greift er wieder zur Flasche, und sogar sein Pferd ist sturzbesoffen.
Überhaupt gelingt seine Vermenschlichung
hauptsächlich dort, wo sich sein Verhalten zum großen Teil durch
den Suff erklärt, wie in Fords DONOVAN’S REEF (1963).
Natürlich gibt es auch noch
einen anderen Lee Marvin, einen, der „richtige" Menschen spielt. Aber in
drei Filmen am Ende der sechziger Jahre ist er noch einmal ganz er selbst, in
Robert Aldrichs THE DIRTY DOZEN (1966), in Richard Brooks’ sonderbarem Western
THE PROFESSIONALS (1966) und schließlich in John Boormans furchtbarem
Gangsterfilm POINT BLANK (1967), in dem Marvins Gewalt durch keine moralische
Konstruktion mehr aufgefangen wird.
Doch der Umschlag ist unvermeidlich;
die guten Heavies müssen früher oder später Helden werden, und
wenn sie schon so alt sind wie Marvin zu diesem Zeitpunkt, so werden aus ihnen
kauzige und melancholische Typen, so in Western wie PAINT YOUR WAGON (1968),
wo er sogar etwas tut, was man mit gewissem Recht „singen" nennen könnte,
oder in MONTE WALSH (1970), wo er als wandelnde Legende durch die letzten Tage
des alten Westens taumelt, bis schließlich nur noch die Komödie,
wie THE SPIKE GANG (1974), übrigbleibt.
In Sam Fullers THE
BIG RED ONE
(1979) zeigt Marvin noch einmal den gewalttätigen, fiebrigen Impuls, der
in seiner Figur steckt. Da erschießt er Stunden nach dem Waffenstillstand
im Zweiten Weltkrieg einen deutschen Soldaten, der ihm mit erhobenen Händen
entgegentritt und ihn bittet „Nicht schießen!".
Im letzten Abschnitt seiner Karriere
ist viel Zitat und viel Variation im Spiel, während die körperliche
Präsenz naturgegeben weniger wird. In THE BIG RED ONE ist es fast schon
wieder Langsamkeit, was seine Rolle ausmacht: die Mühe, die eine Bewegung
macht. Seine Gangster werden eleganter, weniger körperlich; seine autarken
Gestalten nachdenklicher. In Peter Hunts YUKON (1980) läßt er Charles
Bronson als den Mann, den er zuvor gnadenlos gejagt hat, schließlich in
die Freiheit entkommen. Da waren zu viel Leben, zu viele Katertage, zu viel
Selbsterkenntnis in sein Gesicht gegraben, als daß er noch das Böse
verkörpern konnte. Seinen Platz nahmen blonde Bestien wie Rutger Hauer
und die Zombies des neuen Horrorfilms ein.
Lee Marvin war der Böse,
der tief in seiner Seele unheilbar verwundet war. Der Heavy einer vergangenen
Zeit.
Georg Seeßlen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd Film 10/87
zur startseite
zum archiv
zu den essays