zur startseite

zum archiv

zu den essays

 

Malick vs. Trier

 

 

Nichts, das ist kein schlechter Slogan

 Der Zufall wollte es, dass sie in Cannes gegeneinander antraten, Terrence Malicks "The Tree of Life" und Lars von Triers "Melancholia": zwei Filme, absolut heterogen, die sich doch auf irritierende Weise gleichen. Was unterscheidet den Hypersymbolismus eines Lars von Trier so radikal von Malick? – von Christina Striewski

Am fahlen Himmel der schwache Abglanz einer tiefstehenden Sonne, davor: frontal, überlebensgroß ein Gesicht. Kirsten Dunst schlägt in Zeitlupe die Augen auf, schaut ohne zu zwinkern. Wie lang eine Minute wird, wenn man unvermittelt auf ein starres Gesicht starrt. Was passiert hier? Was sieht sie? Blickt sie uns an? Sieht sie überhaupt etwas? Oder sieht sie vielleicht – nichts? Und wir, was sehen wir? Sicher ist nur: einen Film. Ein Traumgesicht. Dann eine Folge von ‘Gesichten’ – Bilder, die das Ansehen von Traumgebilden haben, von phantasmagorischen Erscheinungen, Hirngespinsten in slow motion, wie durchtränkt von einem irrealen Licht. ‘Visionäres Kino’ könnte man es vielleicht nennen, Kino im ursprünglich tautologischen Sinn dieses inzwischen so abgenudelten Ausdrucks. Die Ouvertüre, mit der Lars von Triers "Melancholia" anhebt, tut im Sinne des Wortes, was Kino im besten Falle eben tut: sie macht sehen.

Den wenigsten der Filme, die alljährlich an die Kinokassen kommen, wird man bei näherer Betrachtung dieses Prädikat ausstellen wollen. Umso bemerkenswerter, dass zwei der in diesem Sinne wohl visionärsten Filme der letzten Jahre in Cannes gegeneinander antraten. Auch Terrence Malicks "The Tree of Life", der Film, der letztlich als Sieger aus dem Wettbewerb hervorging, versteht es, den Zuschauer in eine Art cineastischen Rausch zu versetzen. Trunken vom Augenblick wie der Pinsel eines Monet schafft Malicks Kamera visuelle Ekstasen der Bewegung und des Lichts und wurde dafür zu Recht in den Himmel gelobt. Und doch, welch himmelweiter Unterschied zu "Melancholia"! Man dürfte schwerlich zwei andere Filme finden, die sich auf geradezu unheimliche Weise so gleichen und die dennoch so polarisieren. Malick und von Trier beherrschen nicht nur die Kunst des painting with light in atemberaubender Perfektion, sie teilen offenbar auch die megalomane Freude an der Inszenierung kosmischer Kataklysmen. Vor allem aber sind "The Tree of Life" und "Melancholia" beide hochpathetische und hochsymbolische Werke. Beiden geht es, um es auf den kürzest möglichen Nenner zu bringen, um nichts weniger als die Wahrheit, die Wahrheit über Gott und die Welt, über Gott und die Welt und den Menschen. Und doch, man muss es wiederholen, und doch, welch himmelweiter Unterschied!

Der amerikanische Film- und Kulturtheoretiker Steven Shaviro brachte den Sachverhalt unlängst auf Twitter auf den Punkt: "There are two types of cinephiles: those who love ‘The Tree of Life’, and those who love ‘Melancholia’." Ich würde mich ohne zu zögern seinem Urteil anschließen: "Evidently, I fall in the latter category." Und frage mich doch: wieso eigentlich und weshalb so entschieden? Warum stößt mich der Hypersymbolismus eines Malick ab, während mich der von Lars von Trier fasziniert? Reine Geschmackssache? Das wäre verwunderlich, denn die Parallelen zwischen "The Tree of Life" und "Melancholia" sind schon bei oberflächlicher Betrachtung irritierend: Hier wie dort geht die Welt bereits im Prolog zur Haupthandlung durch den Einschlag eines Himmelskörpers in majestätisch-schönen Bildern unter. Beide Filme sind zyklisch angelegt und kehren am Ende zum Anfang zurück, dem Ende der Welt as we’ve seen it. Der eine unterlegt seine kosmologische Passage mit dem Requiem, der andere lässt zum Slow-motion-Vorspann Wagners Tristan und Isolde erklingen. Bei Malick kündigt sich die Geburt der Menschheit im um Gnade flehenden Auge eines Dinosauriers an, bei von Trier erstirbt sie im sich brechenden Atem eines majestätischen Rappen, der ausgerechnet den Namen des alttestamentlichen Erzvaters Abraham trägt. Schließlich entfalten beide Regisseure zwischen Weltuntergang und Weltuntergang eine autobiografisch inspirierte Geschichte mit fast aufdringlich gesellschaftskritischem Einschlag – Malick einen Vater-Sohn-Konflikt im Texas der 50er-Jahre, von Trier den zeitgenössischen Fall einer depressiven Erkrankung -, deren vordergründig realistische Inszenierung von dieser Rahmung nicht unbeeinträchtigt bleibt. Der Zaunpfahl ragt, metaphorisch gesprochen, hier wie dort mit ins Bild.

Natürlich macht Lars von Trier im Gegensatz zum eschatologisch-tröstlichen Ende von "The Tree of Life" am Schluss wirklich Schluss mit dem Menschen, der Welt und Gott. Das ist eher ernüchternd als erbaulich, doch die Kluft, die den von Trier-Fan vom Malick-Liebhaber trennt, scheint nicht bloß eine weltanschauliche zu sein. Dann wäre alles weitere Nachdenken überflüssig. Um eine rein ästhetische Differenz kann es sich, wie die formalen Parallelen zeigen, aber auch nicht handeln. In beiden Fällen müsste und könnte man, wie das Sprichwort weiß, gar nicht erst anfangen zu streiten. Hier aber kann und muss gestritten werden, denn es steht – wie ich in einem anderen Essay in Bezug auf "The Tree of Life" bereits darzulegen versucht habe – mehr auf dem Spiel als bloßer Geschmack. Der Vergleich der beiden Filme zeigt, dass "The Tree of Life" und "Melancholia" eine ganz unterschiedliche, ja konträre Idee von Kunst zugrunde liegt. Ich widerspreche mit der hier verfolgten These aber auch der geläufigen Einschätzung, der sympathische "Spinner" Lars von Trier bewege sich inzwischen ohnehin abseits des aufgeklärt-rationalen Konsens und habe mit "Melancholia" nun auch den Moralismus seines erklärten Verwandten im Geiste, Andrej Tarkowski, hinter sich gelassen (vgl. z.B. die ansonsten ausgezeichnete Rezension von Andreas Busche im Freitag). Das ist nett gemeint, will sagen: so herablassend in der Geste wie verfehlt in der Sache. In der Tat nimmt Lars von Trier sowohl den Positivismus der Naturwissenschaften wie auch die naive Idee, es könne so etwas wie einen zwangfreien, rational begründbaren Konsens geben, direkt unter Beschuss. Aber nicht um des ästhetischen Spektakels willen oder weil dem Bipolaren der Weltuntergang gerade groß genug ist. Das wäre zynisch, Melancholiker sind aber in der Regel fürchterliche Moralisten. Wenn Tarkowski auch in "Melancholia" wieder die Reverenz erwiesen wird – Pieter Bruegels Jäger im Schnee spielen in "Solaris" eine Rolle – , dann ist dies keine leere Geste. Weit davon entfernt, einen "ästhetischen Totalitarismus" (Busche) zu vertreten, ist "Melancholia" vielleicht Lars von Triers bis dato moralischster Film – und zwar exakt deshalb, weil er keine ‘Moral von der Geschichte’ hat.

Fangen wir bei den antithetischen Enden an. Mit genüsslich-grimmiger Gründlichkeit erstickt Lars von Trier noch den blassesten Hoffnungsschimmer auf ein außer- oder überirdisches Leben in der finalen Schwärze der Leinwand. Es läge also nahe, in "Melancholia" das Manifest eines antihumanistischen Nihilismus zu sehen. Um die schnöde hiesige Welt tut es beiden Regisseuren offenbar nicht sehr leid, aber wo Malick seinem Protagonisten heimleuchtet ins immerwährende lux aeterna des Jenseits, da negiert von Trier auch noch diesen tröstlichen Glauben an die Ewigkeit der Vernunft und ein wie auch immer geartetes höheres Prinzip der Gnade oder Gerechtigkeit. "Leben gibt es nur auf der Erde, und das auch nicht mehr lange", weiß seine Heldin Justine: "Wir sind allein." Diese Aussage bleibt aber nicht allein stehen. Im Licht des auf die Erde zurasenden Schicksalsplaneten, welcher dem Film den Namen gegeben hat, zeigen die letzten Filmminuten von "Melancholia" eine humane Handlung. In Anbetracht des unmittelbar bevorstehenden Endes aller Menschen und Werte ist diese Tat Justines nichtig: vergeblich, sinnlos und doch nicht nichts: sie ist im emphatischen Sinn menschlich. Gerade im Vergleich zu Malick ist es nun bezeichnend, dass sich Justines Menschlichkeit – und das darf man auch buchstäblich nehmen: sie wirkt in den 115 Filmminuten davor oft eher unter- oder übermenschlich, fast monströs -, dass sich ihre Menschlichkeit just in dem Moment zeigt, da alle wissenschaftlichen Wahrheiten und religiösen Gewissheiten versagt haben. Dass Lars von Trier den Totalausfall der Transzendenz als Voraussetzung einer freien Tat zeigt, ist mehr als die Mucke eines Spinners. Es ist, philosophisch betrachtet, absolut konsequent, denn nur eine Handlung, die sich nicht auf übergeordnete Prinzipien berufen kann, sondern sich grund-, halt- und bedingungslos, gewissermaßen ohne Boden unter den Füßen und ohne Dach über dem Kopf vollzieht, verdient es im Sinne des Wortes autonom genannt zu werden. Gilt das vielleicht auch für die Freiheit der Kunst?

Tritt man noch einen Schritt zurück, werden von ‘oben’, aus der überzeitlichen Perspektive betrachtet, tatsächlich überraschende geistige Affiliationen und Bruchlinien erkennbar. Malicks Filmerzählung liegt – wie in meinem oben genannten Essay ausführlicher begründet – eine theologische Matrix zugrunde, die eng dem Katechismus der Episkopalkirche folgt, in deren Glauben Malick erzogen wurde. Der freie Wille spielt in "The Tree of Life" wie auch im Book of Common Prayer den bad cop: "From the beginning, human beings have misused their freedom and made wrong choices. […] Sin is the seeking of our own will instead of the will of God." Das ist die Geschichte von Jack, der sich gegen seinen übermächtigen Vater auflehnt. Da er sich nicht einfach als Individuum am Willen des Vaters vergeht, sondern als exemplarischer Vertreter seiner Gattung im Zeichen der Erbsünde keine Wahl hat, ist die Erlösung ebenfalls nicht aus eigener Kraft möglich – good cop Jesus muss die Chose für uns regeln: "By his resurrection, Jesus overcame death and opened for us the way of eternal life. […] Jesus took our human nature into heaven where he now reigns with the Father and intercedes for us." Stephen, der jüngste Sohn in "The Tree of Life", interveniert nicht nur bei Tisch zugunsten des Bruders beim Vater, sein Tod ist die Voraussetzung dafür, dass Jack am Ende den Weg ins wahre Leben finden kann: "Behüte uns, führe uns bis ans Ende der Zeit" lautet das Gebet des reuigen Sünders. Doch auch die Gnade gibt es nicht ganz umsonst. Wer des Sieges Jesu über die Sünde teilhaftig werden möchte, muss sich in die christliche Gemeinschaft aufnehmen lassen: "We share in his victory when we are baptized into the New Covenant and become living members of Christ."

Lars von Trier entwirft dagegen ein völlig anderes Bild von Freiheit, im und unter dem Namen einer anderen, säkularen Gerechtigkeit. Justine (von lat. iustitia: "die Gerechte") ist Melancholikerin – ‘depressiv’, wie man heute sagen würde -, was allein sie schon für die Rolle als Antichrist zu Stephen in "The Tree of Life" prädestinierte. Gerade die protestantische Tradition, der auch Malick entstammt, brachte nämlich in der Nachfolge Luthers die Melancholie stets mit Satan in Verbindung ("Wo ein melancholisch- und schwermütiger Kopf ist […], da hat der Teufel ein zugericht Bad."), und noch für Kierkegaard drückt sich in der Schwermut der existenzielle Schmerz des Menschen aus, der sich seiner Gottesferne inne wird. Doch kommt Justine als Alter Ego des Regisseurs zunächst eher einer anderen Traditionslinie nahe. Der Begriff ‘Melancholie’ bezeichnet nämlich nicht nur einen abnormen, krankhaften Zustand. Seit der Antike galt das melancholische Temperament auch als Kennzeichen außergewöhnlicher Menschen: "Warum sind alle hervorragenden Männer", lautet die kanonische Frage in den Problemata physica, "ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?" Neben dem Hang zu tiefsinnigem Denken bekundet sich nach diesen Lehren die melancholische Genialität besonders im Divinatorischen. Wahnsinn und Genie, trübsinnige Gottesferne und göttliche Inspiration gehören in der komplexen Geschichte der Melancholie zusammen wie die zwei Seiten eines Blattes Papier (vgl. das Standardwerk Saturn und Melancholie von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl).

Lars von Triers Figur der Justine mit ihrem seherischen Gebaren und ihrer Affinität zur Kunst ließe sich hervorragend in diese Ahnenreihe stellen, doch der ihr eigentümlichste Zug ist damit noch nicht erfasst: ihr unbedingter Wahrheitsanspruch. Der erste Teil von "Melancholia" zeigt, wie Lars von Trier in einem Interview auf der offiziellen Webseite zum Film erläutert, Justines Versuch, aus der Depression zurück ins Leben zu finden: "She thinks, now I’m forcing my way through the rituals and some truth may issue from it." Doch ihr Verlangen nach Wahrheit sei "too colossal", und von Trier fügt hinzu: "I think that goes for "Melancholia" in general. We have high demands on truth." Interessanterweise war es der Vollender der Aufklärung, Immanuel Kant, der – selbst Melancholiker – als erster und, soweit ich sehe, bis dato einziger in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen ebenfalls die Verbindung zwischen Melancholie und einem solchen unbedingten Streben nach geistiger und moralischer Freiheit hervorgehoben hat: "Der Mensch von melancholischer Gemüthsverfassung bekümmert sich wenig darum, was andere urtheilen, was sie für gut oder für wahr halten, er stützt sich desfalls blos auf seine eigene Einsicht. […] Er erduldet keine verworfene Unterthänigkeit. […] Alle Ketten von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich." Eine solche unbändige Unbedingtheit zeichnet auch Lars von Triers Figur aus. Justine, der Melancholikerin, ist der gläubige Sprung in die Gemeinschaft verstellt, den Jack am Ende von "The Tree of Life" vollbringt (Malick zeigt die Konversion seiner Leitfigur buchstäblich als Sprung an den Strand des ewigen Lebens). Sie ist offenbar nicht willens oder nicht imstande, sich den Bestimmungen durch andere – den Normen und Gesetzen von Religion, Tradition, Konvention oder Naturwissenschaft – zu unterwerfen, und erlangt deshalb die ersehnte Freiheit erst einmal nur negativ, durch die radikale Infragestellung eines jeden, sei es alten oder neuen covenant (Bund, Pakt, Vertrag). Dies ist das zentrale Thema des ersten Teils von "Melancholia". Erst im zweiten Teil, wenn alle Ketten gesprengt sind, wird sie ihrem Temperament und ihrem Namen vollends gerecht werden.

Der erste der beiden auf den Vorspann folgenden Teile von "Melancholia" zeigt in einer fast klassischen Manier, die an Visconti, den Antonioni der Trilogie ("L’avventura", "La notte", "L’eclisse") und Vinterbergs "Das Fest" gemahnt, eine aus dem Ruder laufende Hochzeit. Justine (herausragend: Kirsten Dunst), die diesem Teil den Titel gibt, trifft mit ihrem frischgebackenen Ehemann Michael (mehr Smoking als Mann: Alexander Skarsgard) volle zwei Stunden zu spät auf dem eigenen Hochzeitsfest ein, das von ihrer Schwester Claire (schön streng: Charlotte Gainsbourg) auf dem Anwesen ihres Schwagers, einem malerisch in den schwedischen Schären gelegenen Schloss, ausgerichtet wird. Die (auf Veranlassung der Braut!) extra angemietete Stretchlimo – man hört den Motor heulen, bevor sie in der ersten Einstellung ins Bild ruckelt – war sehr zu Justines Erheiterung nicht um die enge Kurve des Anfahrtswegs gekommen. Wie sie die letzten Meter zum Schloss zurücklegt, barfuß, die Schuhe in der Hand, mit gerafftem Hochzeitskleid, sieht man Justine das letzte Mal ausgelassen lachen. Sobald die Schwelle überschritten ist und sich die Hochzeitsgesellschaft um das Paar schließt, legt sich so etwas wie ein Schatten über ihre Züge, den auch ihr habituelles Lächeln nicht zu überspielen vermag, der Schatten der Melancholie. Das Fest, das Justine den Weg zurück ins Leben bahnen sollte, wird zur Tortur, da ihr die Rituale bedeutungslose Leerformen sind und bleiben – schön anzusehen, aber im Innern so hohl wie die gigantische Hochzeitstorte. Kommentierend flankiert wird die Figur Justines von den großartig überzeichneten Porträts ihrer Eltern, die in ihrer Haltung gegenüber der Hohlform ‘Hochzeit’ jeweils ein Extrem zum Ausdruck bringen: Zynismus und kindisch-regressiven Hedonismus. Narzisstisch sind beide. Die Mutter (wunderbar giftig: Charlotte Rampling) glaubt weder an die Kirche noch an die Ehe und nimmt an den "Scheißritualen" als Außenstehende teil, ohne so konsequent zu sein, der Gesellschaft gänzlich den Rücken zu kehren. Der Vater (wunderbar verkommen: John Hurt) macht sich auf Kosten der Bediensteten lustig über die Etikette und hält ansonsten hartnäckig und gegen alle Evidenz am Bild der glücklichen Braut fest, um weiter dem traurigen Amüsement der Verdrängung frönen zu können. Beide stehlen sich, von ihrer leiblichen Tochter um Hilfe gerufen, aus der Verantwortung.

Die Personifikation der blinden Konventionalität hat ihren Auftritt in der Figur des Hochzeitsplaners (mit dem Mut zur Lächerlichkeit: Udo Kier), welcher den Party-Parcours entworfen hat, dessen Stationen das Paar durchlaufen muss wie Jesus die via dolorosa des Kreuzwegs. Als Justines verzweifelte Versuche, dem Martyrium wenigstens für einige Minuten zu entkommen, den Abend zu sprengen drohen, reagiert er mit entschlossener Verleugnung: "Sie hat mir meine Hochzeit zerstört. Ich werde sie nicht mehr ansehen." Die groteske Vertauschung des Possessivpronomens macht klar, wer hier von wem abhängt: die Hochzeit ist nicht um der Braut willen da, vielmehr ist Justine Braut nur, insofern sie sich in den – man möchte fast sagen: Heilsplan schickt. Lars von Trier geizt nicht mit Hinweisen, dass es dabei um mehr als ein ‘standesgemäßes’ Fest geht. Der Plan hat die Form eines Vertrags, eines pervertierten Gesellschaftsvertrags, der von den Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie regiert wird. "Wir hatten eine Abmachung", wird Justine von ihrem Schwager John ("24"-Held Kiefer Sutherland als Einsatzleiter der anderen Art) ermahnt, nachdem er ihr die Kosten für das Fest vorgehalten hat, "du solltest glücklich sein!" Die Teilnahme am Ritual der Gemeinschaft ist, mit anderen Worten, eine zu tätigende Investition, Glück der abschreibbare Nutzwert. Derselben Logik zeigt sich auch Justines Ehemann verpflichtet, der ihr in der Hoffnung, sie aufzuheitern, stolz verkündet, er habe "unser Stück Land gefunden und gekauft". Das Foto, das er ihr als Unterpfand künftigen Familienglücks anvertraut, zeigt Apfelbäume der Sorte "Empire": willkommen im Reich käuflicher Paradiese!

Ihren emblematischen Ausdruck findet diese Geisteshaltung in Justines Vorgesetztem Jack (ein Schleimpaket vor dem Herrn: Stellan Skarsgard), dem Leiter einer Werbeagentur, der auch ihr Mann Michael angehört. Als dessen Trauzeuge darf Jack auf der Feier als erster das Wort ergreifen. Ehefrau und Angestellte, das sind die ihm zur Auswahl stehenden Kategorien, aber Jack kennt ohnehin nur einen Modus der Rede: shop talk. Als gäbe es auf einer Hochzeit nichts Wichtigeres zu sagen, verkündet er Justines Beförderung zur Art-Direktorin und fordert gleichzeitig für eine ausstehende Kampagne die tagline ein – übersetzt mit ‘Slogan’, im Englischen aber auch terminus technicus für die kurzen, einprägsamen Titelzusätze von Filmen, die Plot, Thema oder Stimmung andeuten sollen und im Marketing zum Einsatz kommen. Das Foto zur Kampagne, das kurz auf dem Bildschirm über der Hochzeitsgesellschaft aufleuchtet, auf dem sonst die Programmpunkte des Abends zu sehen sind, zeigt drei auf dem Boden um einen undefinierbaren Gegenstand hingruppierte Frauen mit dekorativ verrenkten Gliedmaßen. Dem aufmerksamen und zudem kunstgeschichtlich bewanderten Zuschauer wird vielleicht auffallen, dass Justine später im Film einen Bildband mit Pieter Bruegels Gemälde Schlaraffenland aufschlägt, das mit drei wie leblos um einen ‘Tischlein-deck-dich-Tisch’ herum liegenden Männern das genaue ikonographische Gegenstück zum Werbefoto darstellt – ein weiterer zynischer Hinweis von Lars von Trier, wie es um die versammelte Gesellschaft bestellt ist: gesucht ist der Slogan für das Schlaraffenland der Hochglanzmagazine, zu vermarkten das Konsumieren selbst. Das ist das Paradies – es gibt nichts Wichtigeres zu sagen!

Justine müht sich redlich, ihren Teil des Vertrags zu erfüllen und gemäß der schwesterlichen Direktive "Wir waren uns doch einig: kein Theater heute!" das elende Theater mitzuspielen. Ihre Reaktion auf die Ermahnung Claires offenbart aber schon das Kapitalvergehen: "Ich habe doch nichts gemacht!" Jacks Dreistigkeit oder die Borniertheit des Hochzeitsplaners, ja sogar das lächerliche Statusbewusstsein von Schwager John könnte man noch als typenbedingte Überzeichnung verstehen, Claires Strenge wie auch die Hilflosigkeit des Ehemanns – zwei Figuren immerhin, die sich durchaus um Justine bemühen – weisen dagegen auf einen die individuelle Rollenzuschreibung übersteigenden systemischen Zwang. Ablaufplan und Werbebild prangen nicht umsonst wie die Mosaischen Steintafeln über dem Fest, sie stellen das quasi-religiöse Gesetz dar, dem sich alle Versammelten zu beugen haben. Die Gäste – alles aufgetakelte, aber gesichts- und charakterlose Statisten – folgen denn auch der Zeremonienmeisterin Claire wie willig-willenlose Schafe dem Hirten. Das Treiben der von Lars von Trier inszenierten Gesellschaft erinnert an die schöne Formulierung aus Walter Benjamins Analyse des Kapitalismus als Religion: gezeigt wird die "Zelebrierung eines Kultes sans reve et sans merci" ("Hör auf zu träumen!" befiehlt die Mutter Justine umbarmherzig). Da der Kapitalismus als eine solche "reine Kultreligion" sich nicht über eine spezielle Dogmatik oder Theologie definiert, sondern allein durch seinen Anspruch auf Universalität, kommt Justines Verweigerung der aktiven Teilnahme denn auch dem Sündenfall gleich, einem Sündenfall, der paradoxerweise darin besteht, nicht in den Kreislauf der Schuld(en): der Verbindlichkeiten und Rückzahlungsverpflichtungen einzutreten. Justine macht nichts, und das ist ihr Vergehen: Das Foto der Paradiesäpfel, das ihr von Michael wie ein Schuldschein aufgedrängt wird und das immer bei sich zu tragen sie verspricht, bleibt geknickt auf dem Sofa liegen. Das ebenfalls in der Mitte geknickte Foto der Werbekampagne, das der inmitten der Gäste wie betäubt vor sich hin Starrenden von Jacks Handlanger Tim (dreist-pickelige Beflissenheit: Brady Corbet) zur Erinnerung an ihren Auftrag auf den Schoß (!) gelegt wird, fällt unbeachtet zu Boden. Justine will weder Kinder noch sonstigen Mehrwert produzieren. Die Symbole des käuflichen Glücks haben ihr nichts zu sagen.

 

Es ist schließlich der ihr angetraute Ehemann, der in seinem Drängen auf Erfüllung des Plans – die Braut ist über die Schwelle getragen, nun muss die Ehe vollzogen werden -, Justine in die Flucht treibt. Spätestens an dieser Stelle scheint durch, wie sehr offenbar auch Lars von Triers Film von einer allegorischen Grundstruktur getragen ist. Der das ‘buchstäbliche’ Geschehen überlagernde ‘andere’ Sinn lässt sich anders als bei Malick allerdings nicht einfach von den Bildern ablösen (oder wenn, nur als hohler Allgemeinplatz); vor allem aber stehen die Zeichen hier radikal anti-heilsgeschichtlich. Malick weist seinem Sünder Jack und damit uns mit Hilfe der Jakobsleiter den Ausweg der höheren Bedeutung: nach oben, dorthin, wo die Hoffnung haust und die allegorische Auslegung: die Anagogie seit der Zeit der Kirchenväter hinstrebt. Justine blickt mehrmals sehnsüchtig und traumverloren in den Nachthimmel, aber da ist (noch) nichts, was sie retten könnte. Das System lässt in seiner erbarmungslosen Immanenz niemanden entkommen, deshalb bleibt ihr nur der katagogische, um nicht zu sagen kakagogische Ausweg: noch tiefer hinunter und hinein in die Scheiße.

Justine verlässt also das Hochzeitsgemach, reißt sich das Zeichen der Unschuld, den Schleier, vom Kopf und legt Tim – man kann es schwerlich präziser fassen als mit diesem Klischee -, legt diesen erbärmlichen Knappen des Kommerzes flach – auf dem Golfplatz! Im Raster des bürgerlich-psychologischen Romans wäre die Szene so glaubhaft wie ein Goldfisch im Tuxedo. Und das ist ihr Witz: Mit vollendeter Ironie – die ‘Vergewaltigung’ findet an einem putting hole statt – betont Lars von Trier hier, dass es sich um einen rein formalen Akt handelt. Dass der Bund der Ehe gelöst wird, ist entscheidend, nicht warum. Tim, diese Karikatur einer Kreativagenturkreatur, ist der ‘Auserwählte’, weil er so eine hohle Nuss ist. Allegorisch-formal gelesen markiert die Szene einen Moment, den man mit Benjamin "den apokalyptischen ‘Sprung’" nennen könnte: Justine vollzieht die "Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit". Sie macht sich schuldig und gemein mit der Kreatur, um sich im "Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung", wie es in Kapitalismus als Religion so passend heißt, zu einer ersten, wenn auch noch rein negativen Tat im eigenen Namen aufzuraffen. Justine (iustitia!), die den ganzen ersten Teil hindurch passiv und so gut wie stumm blieb, nennt schließlich – und zwar, das ist entscheidend, als Entgegnung auf die von Jack mit gottgleicher Willkür verkündete Entlassung Tims – den Allmächtigen beim Namen wie die Müllerstochter das Rumpelstilzchen: "Am Anfang hatte ich nichts", erklärt sie ihrem Chef, dann sei ihr eine Idee für die Kampagne gekommen: "Was, wenn wir stattdessen dich der Öffentlichkeit verkaufen. Doch das brachte mich zurück an den Anfang, zu: nichts … Nichts ist noch zu viel für dich."

Die himmlische Hochzeit wäre damit in der Tat gesprengt, ebenso die goldenen Ketten des Hofzeremoniells und die eisernen des Angestelltendaseins. Ex-Adept Tim darf noch den passenden Untertitel liefern: "Nichts, das ist kein schlechter Slogan." Nichts, das ist aber gleichzeitig die tagline, die Thema und Stimmung von "Melancholia" auf den Punkt bringt: als Nichts und nichtig offenbart sich die Welt, wie wir sie kannten, unterm Blick der Melancholie. Nichts, das muss man erst einmal schaffen! Dass und wie es Lars von Trier mit Hilfe der großartigen schauspielerischen Leistung von Kirsten Dunst gelingt, die unsägliche und unsagbare, weil heil- und restlos vereinzelnde Erfahrung der Depression in sprechende Bilder zu übersetzen, macht das Faszinosum insbesondere des ersten Teils von "Melancholia" aus. Justine rückt damit in schwesterliche Nähe zu Dürers berühmter Melancholia I. Die letzte Einstellung des ersten Teils zeigt sie allein, noch im Brautkleid, erhaben auf einem Stapel von Stühlen im sonst leeren Festsaal: "Die Melancholia", wie es in einer Interpretation des Dürerschen Kupferstichs allegorisierend heißt, "nachgrübelnd über das Rätsel, daß alles auf der Welt ins Nichts zurückkehrt und kein Bauwerk Bestand hat und unsere Füße überall an einen Friedhof stoßen […]."

Der zweite Teil von "Melancholia" ist überschrieben mit dem Namen von Justines Schwester Claire. War es im ersten Teil die ‘helle’ Justine, die an der ‘Lügenprüfung’ der Konvention scheiterte und in diesem Scheitern ihrem Namen allererst gerecht wurde, so ist es nun umgekehrt die ‘dunkle’ Claire (von lat. clara: "die Leuchtende, Helle"), die an der Wahrheitsprüfung scheitert und darüber doch so etwas wie Klarheit erlangt. Dass die Zeit des Lügens vorbei ist, wird schnell deutlich. "Ich lächle, lächle, lächle …", hatte Justine auf dem Hochzeitsfest beteuert und war von Claire mit einem "Du lügst uns alle an!" Lügen gestraft worden. Nun kommt sie schwerst depressiv zurück auf das Schloss, wo Claire der kaum Bewegungsfähigen beizustehen sucht. Angedeutet hatte sich diese Wendung früh im ersten Teil, als Justine bei ihrer Ankunft am Schloss mit divinatorischem Gespür einen rötlich schimmernden Stern bemerkt, dessen Verschwinden aus dem Sternbild des Skorpion bald darauf anzeigt, dass der Planet "Melancholia" aus dem ‘Rücken’ der Sonne getreten ist und sich in rasender Geschwindigkeit der Erde nähert. Antares, der ‘Gegenmars’, ist verschwunden, nun hat Mars – das römische Pendant zum griechischen Kriegsgott Ares – das Übergewicht. Es beginnt, so könnte man Justines Beobachtung deuten, die entscheidende Phase des Spiels.

Das passende Stichwort gibt Leo, der kleine Sohn von Claire, der gleich zu Beginn des zweiten Teils beim Boule-Spielen mit großen Murmeln gezeigt wird – eine nur auf den ersten Blick ‘unbedeutende’ Szene, die einmal mehr die irritierende Nähe von "Melancholia" zur ebenfalls überdeterminierten Bildsprache von "The Tree of Life" belegt. Leo ist es auch, der als einziger Justines ‘wahres Wesen’ zu ahnen scheint, wenn er sie mit dem rätselhaften Spitznamen "Tante Stahlbrecher" anspricht. Der Name Steelbreaker nämlich stammt wohl – odd as it may seem – aus dem Online-Rollenspiel World of Warcraft. Diesen Namen trägt dort einer der drei "Eisengiganten", welche die alte Titanen-Festung Ulduar bewachen. Diese Festung, die schon äußerlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit Lars von Triers düsterem Schloss aufweist (es gibt in Ulduar u.a. ein "himmlisches Planetarium"), war von den – ich referiere, was im Netz darüber zu finden ist – offenbar ‘guten’ Titanen über dem Kerker des bösen urzeitlichen Gottes des Todes, Yogg-Saron, errichtet worden, der jedoch – ironischerweise ausgerechnet durch die Wurzeln eines "Weltbaums", dem Blizzard-Entertainment-Plagiat des biblischen "The Tree of Life" – wieder aufgestört wurde und die Wächter, darunter Steelbreaker, auf seine Seite gebracht hat. Dieser Yogg-Saron bedroht nun die ganze, Azeroth genannte Welt des Phantasie-Universums. Steelbreakers Allianz mit dem Gott des Todes offenbart sich u.a. in seiner für die ‘normalsterblichen’ Rollenspieler tödlichen elektrischen Aura. Es müsste schon mit dem Lieben Gott zugehen, sollte unter die Szenen des Vorspanns rein zufällig das oft reproduzierte Bild der ‘elektrisierten’ Kirsten Dunst geraten sein. Justines ‘Liaison’ mit dem todbringenden Planeten "Melancholia" wird zwar auch ohne dieses Zusatzwissen deutlich: das Bild spricht für sich. Dass es das Kind ist, das diese Verbindung (nichts)ahnend benennt, stellt das Bild jedoch in einen größeren thematischen Zusammenhang, den von Schuld und Unschuld. Für die Gesellschaft, die nur den "verschuldenden Kultus" (Benjamin) der Teilhabe am Spiel kennt, ist Justine schlicht krank. Leo spürt in seiner kindlichen Unschuld den tieferen Grund von Justines Exzentriziät.

Zweierlei tritt außerdem deutlicher zu Tage, nimmt man den versteckten Hinweis ernst. World of Warcraft ist ein sogenanntes Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel, das man seiner atavistisch-simplen, von zwei Grundkategorien bestimmten Logik – Handel treiben und kämpfen -, als retrojektive Pseudomythologisierung des Kapitalismus begreifen könnte – Abhängigkeitspotenzial inklusive. Das moderne ‘Schicksal’ trägt den Namen ‘(Mit-)Spielsucht’. Man streiche das "Online" und erhalte eine treffliche Bezeichnung der Hochzeitsgesellschaft mit ihren maskenhaften Avataren. Zum zweiten und damit zusammenhängend wird klar, dass es Lars von Trier wie Malick letztlich nicht um eine realistische Schilderung zu tun ist, weshalb es auch wenig von Belang ist, ob der "Todestanz Melancholias mit der Erde" astronomisch-physikalisch betrachtet Humbug ist oder nicht. Ulduar ist ein sogenannter dungeon, ein vom Rest der Spielwelt abgespaltenes Gebiet. Ebenso isoliert Lars von Trier seine Figuren im zweiten Teil auf dem Schloss und unterzieht sie einer Mission: der Konfrontation mit dem Tod. 

War es im ersten Teil die quasi-religiöse Gemeinschaft mit ihrem Allmächtigen, dem Werbeleiter Jack, die in ihrer Armseligkeit gnadenlos ausgestellt wurde, so ist es nun die blinde Arroganz der Wissenschaft, die mit dem Auftauchen Melancholias im Sinne des Wortes unter Beschuss gerät. Ihr Protagonist ist Claires Ehemann John mit seinem schicken Teleskop. John "geht den Dingen auf den Grund" und verspricht doch im Namen der "wahren Wissenschaft" das Blaue vom Himmel. Erst schwarz, nun blau, nähere sich der Planet der Erde, um in einem ästhetischen Spektakel ohnegleichen an ihr vorbeizufliegen: "dann sehen wir ihn nie wieder". "Versprochen?" fragt die verängstigte Claire. "Du hast mein Wort", antwortet ihr Mann. In der Tat erlebt Claire, die John gerne Glauben schenken würde, hellsichtig wider Willen aber zur Sicherheit Schlaftabletten besorgt, ihr blaues Wunder. Als ein Blick durchs Teleskop offenbart, dass die wahre Wissenschaft sich geirrt hat und der Planet die Erde doch noch treffen und vernichten wird, stiehlt sich John ohne ein Wort davon. Er lässt Frau und Kind im Stich und bringt sich mit Claires Pillen um. Soviel zur Kompabilität von Moral und Wissenschaft. Krasser könnte der Gegensatz zu Malicks Versuch, Religion und Wissenschaft mit den Mitteln der Kunst zu versöhnen, kaum ausfallen.

Erst an ihrem scheinbaren Konvergenzpunkt aber zeigt es sich, dass Terrence Malick und Lars von Trier verschiedenen Sonnensystemen angehören. Je näher mit "Melancholia" das Ende rückt, desto mehr verdichten sich auch bei von Trier die symbolträchtigen Momente. Bei Malick war es der Fisch, das Symbol der christlichen Urgemeinde, welches den Erlösertod des ‘Gekrönten’ (Stephen) andeutete, bei von Trier trägt das Pferd mit dem Namen Abraham (hebräisch "Vater der Völker") die Last der Menschheit. Dass auch von Trier den Zaunpfahl nicht scheut, zeigt das Zurückscheuen des Tieres vor der Brücke, diesem Klischee der Passage ins Jenseits, das auch bei Malick einen prominenten Platz einnimmt. Bedeutsamer scheint jedoch, dass Justine am Ende Abrahams Herrin ist. John hatte, als Justine ihrem Mann in einer der ersten Szenen des Films Abraham präsentierte und sich zu dessen alleiniger "Herrscherin" erklärte, murmelnd Einspruch erhoben: auch er reite das Pferd in ihrer Abwesenheit. In einem Film, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Konventionalität wortwörtlich zu sprengen, muss Justines Wortwahl hellhörig machen. Gottes Bund (convenant) mit Abraham war schließlich der erste verbindliche ‘Vertrag’ der christlichen Abendlandes, und dieser Bund wurde durch den Opfertod Christi und das Versprechen ewigen Lebens erneuert. Wenn Lars von Trier Justine zu Abrahams Herrin macht, kündigt er neben der Wissenschaft auch der Religion das Vertrauen. Gegen den Tod gibt es keine Absicherung, noch nicht einmal eine Umgehungsklausel. Man kann ihn höchstens akzeptieren so wie die Pferde – in der Traumdeutung oft auch als Symbol der Triebe und Instinkte verstanden – ihre neue Gebieterin: Sobald John sich (im Stall!) das Leben genommen hat, sind die zuvor unruhigen Tiere so gelassen wie Justine selbst.

Mit John verstummt nun nicht nur die Wissenschaft, die im Angesicht des sicheren Todes keinen Halt mehr findet und bietet. John war auch Familienoberhaupt und Gastgeber, der Herr über das Schloss und seinen, wie er in den unpassendsten Momenten zu betonen nicht müde wurde, 18-Loch-Golfplatz. Es ist wohl nicht nur von Triers schräger Ironie geschuldet, dass der Golfplatz im Film ein 19. Loch hat. Da die Anzahl der Spielbahnen in realiter meist durch neun teilbar ist, darf man vermuten, dass auch dieses Detail über die realistische Ebene hinausweist. Bloß wohin? Der ‘Wink mit dem 19er-Fahnentuch’ ist so explizit, dass man sich den Hochzeitsgästen gleich, welche die Anzahl der Bohnen in einer Flasche erraten sollen, geradezu aufgefordert fühlt, das Zahlenrätsel zu lösen. Doch Lars von Trier ist nicht Malick, seine Zaunpfähle lassen sich nicht so einfach zu Leitern zusammensetzen. Der Hochzeitsplaner kann nach gewissenhafter Bohnenzählung das Ergebnis "678" bekannt geben. Zu einer vergleichbaren Eindeutigkeit wird man als Zuschauer glücklicherweise nie kommen. Die Tatsache, dass niemand der Gäste richtig geraten hat, ist allerdings nur auf der Plotebene "unglaublich trivial", wie Claire feststellt. Strukturell bildet das Zahlenspiel ein wichtiges Scharnier. Als nämlich Justine behauptet, es sei nicht weiter schade um die bevorstehende Auslöschung allen menschlichen Lebens, ist dies kein Glaubens-, sondern ein Wissensbekenntnis. Was sie so sicher mache, fragt Claire. Manche Dinge wisse sie einfach, antwortet Justine, und spuckt ihr zum Beleg eine Zahl an den Kopf: "678". Gibt es also irgendeinen Zusammenhang, zwischen den hervorgehobenen Zahlen oder sind es beliebige Zeichen? Folgende Überlegung ist immerhin für den Vergleich mit Malick erhellend: Wenn man das ‘überzählige Loch’ nicht von der 19 abzieht, sondern einfach von der Flagge streicht, so wie Lars von Trier John, den stolzen Besitzer des Golfplatzes, ohne viel Federlesens aus dem Spiel eliminiert, bleibt die 9 übrig, deren Quadratwurzel ebenso wie die Quersumme von 678 die 3 ist: Zahl der Dreifaltigkeit. Absicht oder nicht, der Wimpel bzw. Zaunpfahl weist auf die Schlusskonstellation.

Drei Personen sind es, die zuletzt übrig bleiben: Justine, Claire und Leo. Justine rückt in dieser Konstellation in die Position des Vaters: des Familienvaters, aber auch des Vaters des ‘Vaters der Völker’, und dies nicht nur nominell. Claire unternimmt mit ihrem Sohn auf dem Golf-Cart noch einen so heroischen wie sinnlosen Fluchtversuch ins Dorf, doch dem Club Car geht mitten auf der Brücke der Saft aus – indem er den Schriftzug ins Zentrum der Einstellung rückt, betont von Trier noch einmal, dass dieser Club kein Außen kennt, deshalb aber auch vor der dem Leben immanenten Grenze: dem Tod, notwendig versagt. Nun ist auch die Mutter am Ende, mit letzter Kraft schleppt sie sich und das Kind zurück. In der – soweit ich mich erinnere – einzigen Einstellung des ganzen Films, die eine Figur aus der Froschperspektive zeigt, sieht man Justine, wie sie oben am Schloss, auf einer Mauer sitzend, die beiden erwartet. Wir blicken mit Claire zu ihrer Schwester auf. Als Justine dann tatsächlich die Verantwortung übernimmt, tut sie dies gerade nicht auf der Basis einer ihr vorgeschriebenen natürlichen oder gesellschaftlichen Rolle – derjenigen der Mutter beispielsweise – und auch nicht aufgrund positiv bestimmter und bestimmbarer ethischer Normen oder Werte. Wie sehr sie jenseits solcher Kategorien ist, zeigt ja gerade Justines schockierend harsche Reaktion auf den Wunsch der Schwester, zusammen zu sein, "wenn es passiert". "Bei einem Glas Wein?" kommentiert sie ätzend die Vorstellung Claires von diesem Moment. "Vielleicht singen wir noch ein Lied, Beethovens Neunte, wir drei zusammen (!). Das wäre doch passend."

Doch das ist nicht ihr letztes Wort. In der entscheidenden Szene sieht man zunächst Leo allein auf der Terrasse. Lars von Trier lässt der Kamera in einer langen Einstellung Zeit einzufangen, was Leo sieht. Es ist Abraham, gesattelt, ohne Reiter. Claire hatte das Pferd, nachdem sie John tot aufgefunden hatte, als Alibi in voller Montur losgeschickt, um das Kind vor der grausamen Wahrheit schützen und das Ausbleiben Johns zu erklären: er sei noch einmal ins Dorf geritten. Jetzt sieht Leo das Pferd und begreift. Justine tritt von hinten hinzu, sieht Leo, sieht das Pferd und begreift, dass Leo begriffen hat – all dies vollzieht sich wortlos, vermittelt nur über Blicke und die Hand, die Justine ihrem Neffen auf die Schulter legt. Als Leo sich dann in seiner Angst an sie wendet, ist es Justine, die zu einer Lüge greift – sie, die einige Szenen zuvor Leo gegenüber noch nicht einmal zu einem banalen Lippenbekenntnis bereit war und lieber den Blick senkte: Papa habe etwas übersehen, in der magischen Höhle sei man sicher. "Kannst du so eine Höhle bauen?" fragt Leo. Und Justine, die Kalte und Zynische, umarmt ihn mit schmerzlich verzogenem Gesicht, schließt die Augen und antwortet: "Ja, Tante Stahlbrecher kann das."

Dies ist meines Erachtens nicht nur eine, wenn nicht die Schlüsselszene für das Verständnis von "Melancholia". An dieser Szene zeigt sich auch in nuce, was Lars von Triers Ästhetik von der Malicks trennt. Man versteht sie ohne Worte. Und man versteht mehr als Worte. Wo Malick alles mit seinen Stimmen aus dem Off übertüncht, die von Natur, Gnade und höheren Dingen zu fisteln wissen, lässt von Trier die Bilder und vor allem die Blicke seiner Figuren sprechen – allen voran die der ‘Seherin’ Justine. Die Kamera, die bei Lars von Trier stärker als vielleicht bei jedem anderen der technisch simulierte Blick des Regisseurs selbst ist, zeigt ihre Figuren oft als Schauende – Justine, das Gesicht zum Himmel erhoben, Claire, wie sie ihre Schwester betrachtet, Michael mit gesenktem Kopf am Fenster – und folgt dann dem Blick selbst, gewissermaßen auf der Suche nach dem, was sich im schauenden Auge spiegelte – das Leuchten der Sterne, der Abglanz des Planeten auf einem Gesicht oder auch das Nichts, die Leere, Justine im hellen Brautkleid, kurz bevor sie sich umwendet und geht. Während im ersten Teil das Wegsehen ein Leitmotiv bildet – der Hochzeitsplaner, der sich die Hand vor das Gesicht hält, um Justines Anblick nicht mehr ertragen zu müssen, steht pars pro toto für die ganze Gesellschaft, die Nichtswürdigkeit und Tod verdrängt -, wird im zweiten Teil mit dem Teleskop und einem einfachen Gerät, das Leo zur Abstandsmessung des Planeten erfunden hat, das Hinsehen selbst zum Thema. Die Wissenschaft, das Kind und natürlich Justine, die "Melancholia" unvermittelt schaut, werden durch ihre unterschiedlichen Weisen, das Nichts ins Auge zu fassen, gekennzeichnet. Am schlechtesten weg kommt dabei John, der glaubt, den "Vorüberflug" Melancholias als ästhetisches Spektakel betrachten zu können. Dafür wird klar, warum Claire dem zweiten Teil den Titel gibt, wenn man der ungeheuer dichten Blickchoreografie Aufmerksamkeit schenkt. Claire möchte der Wahrheit ins Angesicht sehen, schafft es jedoch nicht ohne Justines Hilfe. Sie sieht durch das Teleskop ihres Mannes und durch das Gerät ihres Sohnes und flüchtet dann doch auf dem Club Car. Als ihr auf dem Weg zurück zum Schloss die Kräfte versagen, entlässt sie ihren Sohn aus der Umklammerung wie eine Pieta, die den Glauben verloren hat, blickt zur Seite – das Kind rutscht aus dem Bild – und schlägt die Hände vor die Augen. Ebenso hält Claire die Augen geschlossen, als sie ihrer Schwester, die während der ganzen Szene dagegen kaum blinzelt, ihre ‘Vision’ des letzten Augenblicks bei einem Glas Wein darlegt. Doch in der wirklich allerletzten Filmsekunde wird Claire den Kopf herumreißen und mit schreckgeweiteten Augen dem Tod entgegen blicken.

Lars von Triers Bildern eignet deshalb bei aller thetischen Symbolik, die er mit Malick teilt, eine zutiefst persönliche, beunruhigende Dimension, die Letzterem völlig abgeht. Malick fängt den Effekt der Fragmentierung und der scheinbaren Subjektivierung, der durch seine schnellen Schnitte zustande kommt, auf, indem er an einer Identifikationsfigur (Jack) festhält, die den Zuschauer, oft aus der Rücken- und Froschperspektive, stark aufgebrochen zwar, letztlich aber doch linear durch die Geschichte führt. Die Kamera gibt ihre auktoriale Perspektive nie auf. Bei Lars von Trier haben die einzelnen Szenen dagegen im Verhältnis nicht nur mehr Zeit, eine visuelle Eigenwirkung zu entfalten. Die bis auf wenige Ausnahmen mit der wackeligen Handkamera gefilmten Szenen und oft scheinbar willkürlichen Schwenks vermitteln eine existenzielle Unsicherheit, die keine eindeutige Zuschreibung des Blicks zulässt und keine konstante Richtung vorgibt. Außerdem stehen die beiden Teile und ihre Hauptfiguren, Justine und Claire, gleichberechtigt nebeneinander. Auch wenn Lars von Triers Sympathie klar seinem Alter Ego Justine gilt, macht er strukturell keine der beiden Frauen zu einer Identifikationsfigur. Die Kamera ist zumeist mitten im Geschehen, sie hält sich, psychologisch gesprochen, zwischen den Figuren.

Lars von Trier versucht sich also im Gegensatz zu Malick gar nicht erst an einer irgendwie mitteilenden oder kommentierenden Übersetzung des Unsagbaren. Der Tod folgt keiner Liturgie. Er ist nicht objektivierbar. Illustrationen der Art, wie Malick sie für Sterben, Tod und Auferstehung aufbietet – Türen, Tore, Brücken, aus Gräbern ragende Hände, Jungfrauen mit Kerzen … -, sind deshalb notwendig zum Scheitern verurteilt, grauenvoller Kitsch. Doch der Tod ist auch nicht subjektivierbar. Der Versuch, den Zuschauer durch Identifikation zur Empathie zu zwingen, muss ebenfalls scheitern, weil der Tod unvertretbar ist, die absolute Grenze des Mitleids. Lars von Trier ist der Trick nicht unbekannt – das Ende von "Dancer in the Dark" kam dieser Art Kitsch gefährlich nah. Das Geniale an "Melancholia" ist nun, dass der Film keine Sekunde vorgibt, etwas anderes als ein Film zu sein. Malicks Ästhetik ist zwar ebenfalls hochartifiziell, aber er übersetzt das Transzendente in eine realistische Szenerie, hinter der das Mittel selbst dienend zurücktritt. Die Camouflage ans Natürliche macht Szenen wie die in "The Tree of Life", in der die Mutter plötzlich zu schweben beginnt oder in einer Art Schneewittchensarg zu liegen kommt, so befremdlich: sie fallen aus dem Rahmen, ohne dass der Rahmen Thema werden dürfte. Lars von Trier verbirgt dagegen die Gemachtheit seiner Bilder nicht – im Gegenteil. So sind beispielsweise in der Szene, in der Melancholia erstmalig als zweiter ‘Mond’ am Nachthimmel erscheint, in den unteren Bildhälfte kurz zwei blaue Lichtpunkte zu sehen, bei denen es sich offensichtlich um lens flares – Reflexionen des Mondlichts in der Kameralinse – handelt. Das Medium der Darstellung interferiert mit dem Dargestellten, es stellt sich aus. Der Film reflektiert sich selbst beim Filmen. Auch die Bildbände, die Justine im ersten Teil in der Bibliothek des Schlosses aufschlägt, haben eine ähnliche Funktion. Sie zeigen nicht nur Reproduktionen von Gemälden quer durch die Jahrhunderte (hier eine verdienstvolle Übersicht), die auf geistesverwandte Werke verweisen oder Motive des Films widerspiegeln – allem voran gesellschaftskritische -, die Gemälde werden in den Film zurückgespiegelt. Teils direkt, wie mit dem Schlaraffenland oder Millais’ Ophelia, der Braut im Wasser aus der Ouvertüre. Teils indirekt: Wenn Justine ein Bad im Licht des Planeten "Melancholia" nimmt, gewinnt die Szene durch die Kunstgeschichtszitate und verstärkt durch die Anwesenheit von Claire als Beobachterin selbst einen gemäldeartigen Charakter. Die Rahmung stellt den Film für einen Moment still und hebt hervor: Justine ist eine Gestalt der Kunst, nichts anderes.

Hier kommen schließlich die ästhetische und die ‘weltanschauliche’ Matrix zur Deckung. Es macht die über jedes wissenschaftliche und religiöse Dogma erhabene Größe von Justine aus, dass sie in der entscheidenden Szene der Unschuld des Kindes gewahr wird und sich, indem sie zur Lüge greift, zu einer letzten, wahrhaft humanen Handlung aufschwingt. Im Angesicht des Todes, da die Konventionen nachgeben wie der Rasen des Golfplatzes, in dem Claire mit dem Kind im Arm in einer der Slow-motion-Szenen der Ouvertüre knietief versinkt (neben dem 19er-Wimpel!), handelt Justine allein aus eigener Einsicht und Entscheidung. Aber mehr noch: der Tod ist zwar unabwendbar und unvertretbar – das Ende kann niemandem abgenommen werden -, aber indem Justine die Verantwortung für Kind und Schwester auf sich nimmt, leuchtet im Widerschein des sich nahenden Planeten für eine Sekunde die Idee einer anderen, freien Gemeinschaft auf. Einer Gemeinschaft, deren Bild vielleicht nur die Kunst stiften kann.

Das Bild, das Lars von Trier dafür findet, sprengt wahrhaftig den Himmel – vor allem den von Malick ausgemalten. Wenn man in der letzten Einstellung, bevor es kracht und alles schwarz wird, die drei zusammen in der aus Stöcken nach Art eines Wigwams zusammengezimmerten "Höhle" sitzen sieht, Justine, ‘die Gerechte’, offenen Auges in der Mitte, dann erinnert die Konstellation in ihrer reduktiven Klarheit an das sogenannte ‘Auge der Vorsehung’: das von einem Dreieck umschlossene Auge in einem Strahlenkranz, das in der christlichen Ikonographie die göttliche Dreifaltigkeit und das allsehende Auge Gottes symbolisiert, welches an die ewige Wachsamkeit des richtenden Gottvaters mahnen soll. Mit einem Schlag wird so deutlich, wo die absolute Bruchlinie zwischen Lars von Trier und Malick verläuft. Malick erzählt die Geschichte des Menschen von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag eisern nach dem Katechismus. Der Vater gibt den Richter, die Mutter spendet die Gnade und der Sprössling stirbt im Dienst des ewigen Lebens. Am Schluss steht das Bild der Heiligen Familie inmitten der Gemeinschaft der Gläubigen. Justine dagegen ist nicht Richterin, sie ist die Gerechte. Lars von Trier tauscht nicht nur das Personal aus, seine Erzählung ist eine radikal anti-genealogische. Der Mensch erhält seine Würde nicht dadurch, dass er nach Gottes Willen und Ebenbild geschaffen wurde und durch Taufe und Glaubensbekenntnis den mit Abraham geschlossenen ewigen Bund mit Gott erneuert und so die Gnade empfängt. Er wird seiner Existenz gerecht, wenn er sich eingestehen kann, dass er unendlich endlich und allein ist, und trotzdem menschlich: gnädig handelt. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der notorisch missverstandene "Ich bin ein Nazi"-Lars von Trier hier einem Gedankengang des notorisch schlecht verstandenen ‘Er war ein Nazi’-Heidegger nahekommt: die ‘Ek-sistenz’, wie Justine sie verkörpert, lässt erahnen, was "Hineingehaltensein in das Nichts", recht verstanden, bedeuten könnte. Wichtiger ist jedoch die Stellung, die der Kunst in dieser Konstellation zukommt.

Lars von Triers Film kann man nicht einfach konsumieren. Noch seinen symbolischsten Bildern haftet etwas Unauflösbares an. Malicks Zaunpfähle weisen nach oben, auf die höhere Bedeutung der Bilder. Bei Lars von Trier weisen sie zwar in dieselbe Richtung, doch dort ist letztlich – nichts. Nichts als das Bild dessen, was sich nicht anders als in Bildern sagen lässt. So ist der Gestus beider Regisseure erhaben – ein Begriff, mit dem Kant an der eingangs zitierten Stelle auch die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit belegt, die weder Lüge noch Verstellung erträgt. Doch Malicks Erhabenheitspathos ist rhetorisch, es zielt auf Überwältigung – schön verpackt und mit Musik unterlegt, schluckt sich das Jüngste Gericht besser. Kant stellt diese Art der rhetorischen Gewalt unter den Verdacht, "sich der Schwäche der Menschen zu seinen [eigenen] Absichten zu bedienen" und bringt dagegen einen anderen, ästhetisch- moralischen Begriff von Erhabenheit in Anschlag. Das im Kantischen Sinne erhabene Werk (der Natur oder der Kunst) übt zwar ebenfalls eine bestimmte Gewalt aus – es überfordert durch die schiere Größe oder Macht des Dargestellten (man denke an Melancholia!) unser Fassungsvermögen -, doch sieht sich der Betrachter dadurch gerade zur ‘Gegenwehr’ gezwungen. Das Erhabene lässt sich nicht fassen, nicht auf den Begriff bringen, nicht besitzen, aber es richtet einen Imperativ an die gesamten menschlichen Fähigkeiten, sich über die Grenzen des logischen Verstandes aufzuschwingen zur Idee der Freiheit.  

Meines Erachtens liegt hierin der große, der entscheidende Unterschied zwischen Malick und Lars von Trier. Mit Kant kann man ihn vielleicht erhellen und ein wenig begreiflicher machen, sprechender sind im Grunde die Schlussbilder: "The Tree of Life" endet mit einer Beschwörung der Gemeinschaft Gleichgesinnter – zur Erinnerung: die Rückenfigur Sean Penn geht stellvertretend für uns alle, die wir ihm auf dem rechten Weg nachgefolgt sind, in die Knie. Diese Gemeinde wird zuletzt noch im Symbol der hagio-heliotropen Sonnenblumen versinnbildlicht: Statisten sollen wir werden in Gottes Golfclub. Und Statisten sind wir bei Malick auch als Zuschauer im bequemen Kinosessel. In Lars von Triers letzter Einstellung wird dagegen offenbar, dass er keinen Wahrheits- und Glaubenskonsens erzeugen will, sondern höchstens ein con-sentire, eine Ahnung des Verbindlichen und Gemeinschaftlichen in absentia veritatis: "Longing is true. It may be that there is no truth at all to long for, but the longing itself is true." (L. v. T. im zitierten Interview) Das ist nicht erbaulich und nicht bequem. Das ist eigentlich gar nicht zu fassen. Man ist aufgefordert, selbst zu denken. Mehr Moral kann man von einem Kunstwerk wohl nicht erwarten.

Christina Striewski

Dieser Text ist zuerst erschienen im: www.perlentaucher.de Wer zusätzlich die hier in der filmzentrale fehlenden, aber denText bestens erläuternden Filmbilder sehen möchte, klicke bitte den Originaltext

Zu diesen beiden Filmen gibts im archiv der filmzentrale mehrere Texte

  

zur startseite

zum archiv

zu den essays