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Kunst
muss stur sein
Erste
Lav Diaz-Retrospektive: Berlin 2008
29.10.2008. Ein echtes Ereignis: Im Berliner
Arsenal ist fast das komplette Werk des philippinischen Filmemachers Lav Diaz
in der weltweit ersten Retrospektive zu sehen. Der Mann dreht heute die aufregendsten
Filme der Welt.
Das Kino-Ereignis der Woche findet in
Berlin statt. Hier zeigt das Arsenal (gemeinsam mit dem jungen "Asian Hotshots
Festival") die weltweit erste große Retrospektive des philippinischen
Regisseurs Lav Diaz, der außerhalb des Festivalbetriebs nicht sehr vielen
ein Begriff ist. Das hat seine Gründe, die sich auf einen einfachen Nenner
bringen lassen: Die Filme von Lav Diaz sind anders als alle anderen Filme, die
je gedreht wurden. Er ist ein Vorreiter der Digital-, nein, nicht -Technologie,
sondern -Ästhetik und weil er zeigt, wie man die Schwächen der Technik
in ästhetische Stärken verwandeln kann, ist er ein wichtiges Vorbild
für viele Filmemacher ohne Geld – in seiner Heimat und anderswo. Weitere
Kennzeichen: Die Filme, denen er seinen begrenzten Ruhm verdankt, sind schwarz-weiß.
Regeln der Dramaturgie, der Figurenzeichnung kümmern ihn nicht. Er überschreitet
die Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Er komponiert seine Filme aus
langen Einstellungen, aus Geräuschen, Gedichten, Gedanken, Gesprächen.
Und er lässt sich dafür viel Zeit.
In einem Interview hat Diaz einmal gesagt:
"Ich würde wahnsinnig gerne mal einen fünfzehnstündigen
Film drehen, der einfach Leute beim Gehen zeigt." Ohne das mindeste Zögern
würde ich mir einen solchen Film ansehen. So wie ich mir Lav Diaz’ Elf-Stunden-Epos
"Evolution of a Filippino Family", das zwischen 1994 und 2005 entstand,
und sein jüngstes, sieben Stunden langes Meisterwerk "Melancholia"
(ausgezeichnet mit dem "Orizzonti"-Preis in Venedig in diesem Jahr)
bewundernd und staunend angesehen habe. Das ist das erste, was man ohne alles
Gerede über Längenrekorde und Vergleiche mit Marathons einfach feststellen
muss, weil es ohnehin nicht zu übersehen ist: Die Filme von Lav Diaz dauern.
Seit "Batang West Side" (2002) – dem einzigen Film, den die Retrospektive
nicht zeigen kann – dauern sie länger, sehr viel länger, als Filme
sonst dauern. Länger also als die neunzig bis hundertzwanzig Minuten, die
die Hollywood-Industrienorm sind, länger als die bis zu vier Stunden, die
im indischen Kommerzkino im Rahmen des Erwartbaren liegen, länger auch
als die meisten der langen Filme der Kunstfilmgeschichte, ausgenommen nur Singularitäten
wie Bela Tarrs "Satantango" und Jacques Rivettes "Out 1. Noli
me tangere". Wie im Fall der letzten beiden dauern Lav Diaz’ Filme aus
einem einzigen Grund so lange, wie sie dauern: Sie tun es, weil sie es müssen.
Lav Diaz hat für kommerzielle Produktionsfirmen
in den späten Neunzigern auch Filme von gewöhnlicher Länge gedreht.
Der eine, den ich kenne, "Naked Under The Moon" von 1999, ist aufschlussreich,
aber nicht gut. Man kann sehr deutlich daran sehen, wie ein in Richtung Melodram
aus Blut, Sex und Verbrechen ziehender Plot zum Stillstand gebracht wird, indem
Diaz alles, was darin Ausbruch und Exzess sein müsste, in viel zu ruhigen
Einstellungen dämpft und den Darstellungsstil seiner Schauspieler ins Somnambulische
drängt. Umgekehrt, von den Werken des reifen Lav Diaz, gesehen, sieht man,
wie diese Einstellungen geradezu ersticken daran, dass die Regie dem Stoff die
Genauigkeit, die Tiefe, die Seelenpein nicht abgewinnen kann, die sie darin
sucht. Man kann, hinterher schlauer, dem Film ansehen, warum die Sensibilitäten
des Lav Diaz für diese Sorte Film wirklich nicht taugen.
Man kann es sehen, wenn man nach Ansicht
der Filme, die später kamen, weiß, was Lav Diaz, der in diesem Jahr
fünfzig wird und heute die aufregendsten Filme der Welt dreht, wie kein
anderer kann. Zur Vorgeschichte nur kurz. Diaz hat Literatur studiert und Kurzgeschichten
geschrieben. Er ist in die USA gegangen, hat in New Jersey mit Hilfsjobs Geld
verdient, das er an seine Verwandten zuhause schickte. Dann aber hat er sich
einen Film in den Kopf gesetzt, in dem es um die Geschichte seines Landes unter
dem Diktator Ferdinand Marcos gehen sollte, um im US-Exil lebende Philippinos
auch. Diaz hat sich Geld und Filmmaterial zusammengebettelt, ist – so beschreibt
er es in diesem (http://archive.sensesofcinema.com/contents/05/34/lav_diaz.html
)Interview selbst – von Tür zu Tür gegangen, hat Produzenten vorgeführt,
was er zustande gebracht hatte, hat ihnen das Konzept vorgestellt und wurde
von mehr als einem für verrückt erklärt. Zunächst auf schwarz-weißem 16mm-Filmmaterial, dann – weil es
viel billiger war – mit ziemlich schlechten analogen Videokameras hat er erstes
Material gedreht für den Film, der dann "Evolution of a Filipino Family"
wurde.
Er ging zurück in seine Heimat, verdingte
sich bei Kommerzprojekten wie "Naked Under the Moon" und zerstritt
sich mit den Beteiligten, zum Beispiel weil sie ihm Nacktaufnahmen nachträglich
in den Film schnitten. Wenn Geld da war und die Darsteller Zeit hatten, entstand
daneben weiteres Material für sein Independent-Projekt. Man sieht dem Film
diese Entstehungsgeschichte naturgemäß an: das "Film"material
wechselt, von Bildern, auf denen das Geschehen kaum zu erkennen ist, hin zu
sehr viel schärferem digitalem Bildmaterial, das aber auch schon erste
Verfallserscheinungen, Verpixelungen, momentane Bildauflösungen zeigt.
Nicht nur das Bild, sondern auch die Darsteller altern. Eine der Hauptfiguren
– die ursprüngliche Zentralfigur – ist Ray, der am Beginn der eigentlichen
Geschichte (datiert auf das Jahr 1980) neun Jahre alt ist und an ihrem Ende
(datiert auf das Jahr 1987) ein erwachsener Mann. Die Spuren der Zeit sind unauslöschlich
eingetragen in das Bildmaterial und die Geschichte selbst. Das ist alles andere
als ein Makel dieses Films.
Es geht um Geschichte, aber niemand wird
kostümiert oder geschminkt. "Evolution of a Filipino Family"
ist das Gegenteil eines Ausstattungsfilms. Seine Grundstruktur ist nicht sehr
kompliziert, der Titel beschreibt sie. Am Anfang, es ist eine Vorgeschichte,
auf die das Werk in einem kurzen Epilog noch einmal zurückkommt, findet
eine sehr junge Frau namens Hilda ein Neugeborenes im Müll auf der Straße.
Diese Frau, Hilda, ist geisteskrank, sie bringt das Kind in ihre Familie, zu
der ihr Bruder Kadyo, dessen drei Töchter und deren Großmutter gehören.
Diese in sich bereits spannungsvolle Keimzelle des Films wird in der Folge zersprengt.
Hilda wird vergewaltigt und ermordet, Ray rächte den Mord, flieht und wird
von einer Ersatzfamilie aufgenommen, die ihn wie einen ihrer anderen beiden
Söhnen behandelt. Kadyo kommt als Dieb ins Gefängnis. Die Großmutter
zieht mit den Töchtern davon.
Allen Figuren folgt der Film. Kadyo ins
Gefängnis und später, viele Stunden später, in die Freiheit,
die endgültig sein Unglück sein wird. Ray auf der Suche nach Gold
mit seinem Adoptivvater. Der Großmutter beim Versuch, den Enkelinnen gute
Ausgangspositionen fürs Leben zu verschaffen. Der Film folgt seinen Figuren
geduldig. Einzelne Einstellungen dauern zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten.
Und länger. Auf eigenartige Weise vergeht, wenn man davor sitzt, im dunklen
Saal, die Zeit. Auf eigenartige Weise soll heißen: Man spürt sie,
die Zeit wird etwas wie ein eigenes Medium, das man mit den Sinnen betasten,
schmecken kann. Obgleich es große Spannungsbögen gibt und die Frage,
wie alles weitergeht, mit diesem, mit jenem, nie verschwindet und man, Lav Diaz
ist wirklich auch ein großer Erzähler, immer wissen will, was geschehen
wird, so ist man doch minutenlang zurückgeworfen auf Zustände, in
denen eigentlich nichts geschieht, als dass, und das ist alles andere als nichts,
die Zeit vergeht und vergeht und vergeht. Es sind das aber keine retardierenden
Momente, sondern Epiphanien der Unplötzlichkeit.
Man könnte auch so sagen: Wer das
Gegenteil zum Verstand und Sinne betäubenden Zeit- und Erzähldruck
eines Machwerks wie "Der Baader Meinhof Prozess" sucht, wird hier
fündig. Der Vergleich ist keineswegs beliebig. "Evolution" ist
nämlich, was der Constantin-Film zu sein nur behauptet: ein genuin politisches
Werk. Untermischt mit den Szenen aus dem Alltag seiner Familie – es wird Wäsche
gewaschen, es wird der Karabao-Büffel gefüttert, es wird Reis gepflanzt,
es werden Zigaretten verkauft, es wird gegangen, gesessen, gegessen, geblickt,
geliebt, gehasst und gewartet, es wird gelebt und es wird gestorben – sind Bilder
aus der öffentlichen Geschichte der Philippinen: man sieht den mutmaßlich
vom Marcos-Regime zu verantwortenden Mord auf dem Flughafen an Benigno Aquino
nach seiner Rückkehr aus dem US-Exil; man sieht die letzten Auftritte des
Diktatoren-Ehepaars Marcos vor der Vertreibung; man sieht die brutalen Bilder
von einer Demonstration, bei der die Polizei wahllos in die Menge schießt
und zahlreiche Demonstranten tötet.
Lav Diaz verzichtet darauf, die Geschichte
prominenter Figuren zu erzählen. Die Familie, deren Schicksal er mit unendlicher
Geduld auch fürs gar nicht Schicksalhafte, nämlich das Alltägliche,
vor Augen führt, steht nichtsdestotrotz so gut für andere Familien
der Philippinen wie ganz und gar nur für sich. Man kann sehr wohl den unbestimmten
Artikel des Titels durch den bestimmten ersetzen. Das ist nicht nur ein Effekt
der Geduld und der Dauer, die der Regisseur seinen Figuren und ihren Betrachtern
schenkt. Es hat auch mit der Art seiner Einstellungen zu tun. Nie kommt er den
Charakteren zu nah, aber die Distanz, die er wählt, ist eine des Respekts
für ihr Eigenleben. Er wählt häufig Totalen, weil die Figuren
so unlösbar eingebettet bleiben in Landschaft und Raum. In die Landschaft,
die sie bearbeiten, in den Raum, durch den sie sich (im Bergwerk, auf den Straßen
der Großstadt) kämpfen. Die Totalen aber sind nie zentralperspektivisch,
die Bilder sind keine Tableaus, sondern immer schon durch einen Blick asymmetrisiert,
der von vorneherein alle Objektivitätsbehauptungen unterläuft.
Auf die mächtige Elegie "Death
in the Land of Encantos" (2007) und "Melancholia" bin ich noch
gar nicht zu sprechen gekommen, beides Filme, die manches, was man nach "Evolution"
über den Filmemacher Lav Diaz denken könnte, wieder über den
Haufen wirft. Ersterer siedelt seine Fiktion in die
dokumentarisch eingefangenen Wüste eines vom schlimmsten Taifun
der philippinischen Geschichte soeben zerstörten Landstrichs an. "Melancholia"
ist eine hoch reflexive Erinnerungs-Performance, die zwischen den Polen des
dörflichen Lebens und der Cutting-Edge-Künstler Manilas verblüffend
wechselt und gegen Ende für zwei Stunden in den Dschungel führt. Es
ist jetzt nicht die Zeit und der Platz, darüber zu schreiben. Aber das
Kino von Lav Diaz hat nicht nur Dauer, es kann auch warten. Nicht zuletzt auf
sein Publikum. Ich zitiere noch einmal den Regisseur aus dem oben verlinkten
Interview, seine Antwort auf die Frage, ob seine Filme auf den Philippinen Zuschauer
finden. Er ist da sehr selbstbewusst und stur und es ist sehr richtig und schön,
was er sagt:
"Wenn du die zehn Stunden diesmal
nicht durchhältst – ich warte auf dich. Vielleicht bist du in zehn Jahren
bereit dafür. Ich warte. Kunst kann warten. Es gibt keine Eile. Wir müssen
nichts übereilen. Wir Philippinos haben hundert Jahre lang die Formate
der Hollywood-Industrie vorgesetzt bekommen. Es ist das, was mein Volk serviert
bekam und sie mussten das schlucken. Wie kann man erwarten, dass sie jetzt zehn
Stunden sitzenbleiben. Wie kann man erwarten, dass sie sofort begreifen, dass
das Kino nicht einfach eine Zweistunden-Angelegenheit ist, dass es da, wo es
um Kunst geht, überhaupt keine Vorschriften gibt? Also, ja, es ist in Ordnung.
Wir werden warten. Kunst kann warten. ‘Evolution’ wird immer da sein. In zehn
Jahren, in fünfzig Jahren werden die Menschen es sich ansehen. Die Menschen
werden aufholen. Dazu sind sie sehr wohl in der Lage. Man hat mir vorgeworfen,
ich sei so stur. Aber das ist die Wahrheit. Kunst muss stur sein."
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen am 29.10.2008. im: www.perlentaucher.de
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