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Kinozauber
Ästhetische
und dramaturgische Aspekte des Staunens im Kino
Dass dem Staunen im Kino mit ästhetischen
Kategorien beizukommen sei, scheint auf den ersten Blick zweifelhaft. Weit eher
scheint unsere Fähigkeit, Staunen zu empfinden, eine Qualität unseres
Kognitionssystems und insoweit ein Gegenstand der Erkenntnistheorie zu sein.
Ohne Staunen kein Wissensdrang, kein Erkenntnisprozess, keine produktive Unruhe
in der Welt. Das Unerhörte, das Niegesehene, die Sensation machen uns zu
rastlosen Geistern, die aufbrechen, um die Welt zu erkunden – eben dies ist
ja auch die Funktion der Märchen, die aus Kindern bohrende Fragesteller
machen.
Die "Sensation" ist
unbedingt diesem Kontext hinzuzurechnen – das Wort hat eine interessante Begriffsgeschichte.
Erst im 18. und 19. Jahrhundert verengte sich seine Bedeutung zum "aufsehenerregenden
Ereignis", aber es schwingt dabei das "lebhafte Interesse" an
einer Begebenheit noch mit. Das lebhafte Interesse: also das Dabeisein, das
Involviertsein mit allen Sinnen und Verstandeskräften – hier findet sich
noch eine Spur des mittellateinischen Begriffs "sensatio", der das
"Empfinden", aber auch das "Verstehen" meinte, so wie der
"sensatus" jemand war, dem "Empfindung" und "Verstand"
eigen waren. Ohne Staunen kein Wissensdrang. Aber es gilt auch die Umkehrung:
wären wir nicht neuigkeitssüchtige, erkenntnissüchtige Wesen,
gäbe es auch nichts zum Staunen – sei es im Kino, sei es in der wirklichen
Welt oder neuerdings im Internet. Die Frage ist allerdings, worauf unsere Neuigkeitssucht,
unser Erkenntnishunger letztlich zielt.
Aladins
Wunderlampe
Zu den Denkern des 20. Jahrhunderts,
die mit dem Staunen im Bunde waren und es gleichsam operabel machten, gehört
Ernst Bloch. Mit ihm haben wir zudem den Glücksfall eines Philosophen,
der in seinem Denken vielfache Brücken von den Kategorien des Erkennens
zum Ästhetischen geschlagen hat. Schließlich hat er uns einen Begriff
der Montage hinterlassen, der zweifellos weit über ästhetische und
dramaturgische Fragen der Kinematographie hinausgreift, gleichwohl der Filmtheorie
zuarbeitet und von ihr zur Kenntnis genommen werden sollte. So bietet es sich
an, mit Hilfe Blochs etwas näher an die Frage heranzukommen, was es mit
dem Staunen im Kino auf sich haben mag – und ob seine Reflexion über Montage
zur Klärung unserer Frage beizutragen vermag.
Im "Prinzip Hoffnung"
sieht Bloch das Wesen des Montage-Verfahrens in der Überwindung von Raum
und Zeit; Montage erzählt ein "technisch-magisches Märchen".
Im Märchen, so Bloch, haben Spiel und Magie einen "Freipass":
Gestalt gewinnt auch das "Widersinnige" und "bloß Denkmögliche"
– gleichsam die aberwitzige Verknüpfung des Heterogenen, die sich um Ratio
und Logik nicht kümmert. In der Welt des bloß Denkmöglichen
regiert der Wunsch; die "Mühe der Ausführung" entfällt,
weil unsere Imagination ja nicht die Widerstände der Natur bearbeiten muss.
"Aladins Wunderlampe"
ist für Bloch ein Prototyp des "technisch-magischen Märchens".
In diesem Kontext spricht er zwar nicht vom Kino – aber er hätte sich darauf
berufen können, dass etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts an – von der
Erfindung der Fotografie über die stereoskopischen Effekte des Panoramas
und die Bewegungsillusionen der Nebelbilder bis zum "Bioscop" Max
Skladanowskys und dem ersten Kinematographen der Brüder Lumiere – Erfinder
auf der ganzen Welt an der Realisierung von Aladins Wunderlampe arbeiten: auf
der Grundlage der neuen physikalischen Techniken, gestützt auf die Errungenschaften
der optischen Industrie und experimentierend mit dem Licht, das in dieser Zeit
die Entwicklung vom Gaslicht über die Kohlenstäbe des Bogenlichts
zur modernen Elektrizität durchläuft.
In einem zunächst ganz elementaren
Sinne tritt die Kinematographie als "Aladins Wunderlampe", als Wunsch-
und Traummaschine in die Geschichte: der Wunsch nach dem bewegten Bild wird
für sie zum Befehl; das "bloß Denkmögliche" gewinnt
in ihren Montagen die Kraft der Anschaulichkeit; trennender Raum und trennende
Zeit entfallen. In den Worten Blochs: "Lauter Wunschmittel (…), um auf
kürzestem Weg (im Märchen) zu erlangen, was die Natur selber, außerhalb
des Märchens, dem Menschen verweigert." Tatsächlich geht
es schon in der frühen Fotografie, in den Nebelbildern auf den Jahrmärkten
und in den ersten Filmen keineswegs ausschließlich um das Abbild der empirischen
Realität. Es geht ebenso sehr um das "bloß Denkmögliche",
das die Montage und das Spiel mit dem Licht in die Potenz des Sichtbaren heben:
um Geistererscheinungen, um Träume, um die Wunscherfüllungsstrategien
des Märchens und – denken wir nur an die Filme von Georges Mélies
– um die technische Utopie.
Entgrenzung,
Bewegung, nie gesehene Verknüpfung
Im Jahre 1913, das Kino ist noch
keine zwanzig Jahre alt, formuliert ein Buch, das erst Jahrzehnte später
wieder entdeckt werden wird, das Programm der Wunsch- und Montagemaschine Kinematographie:
Kurt Pinthus’ "Kinobuch", eine Anthologie von Phantasiestücken,
die, ganz im Sinne von Bloch, über das "bloß Denkmögliche"
reflektieren – und über die Möglichkeit, die Entgrenzungen der Imagination
im technischen Bild ins Sinnlich-Anschaubare zu transponieren. Pinthus hatte
fünfzehn Autoren seiner Generation, der Expressionisten vor dem 1. Weltkrieg,
gebeten "Kinostücke" zu schreiben – unter ihnen Walter Hasenclever,
Else Lasker-Schüler, Max Brod, Albert Ehrenstein, Ludwig Rubiner, Paul
Zech, Arnold Höllriegel und Franz Blei. Das Ergebnis sind sonderbare literarische
Kabinettstücke, die ausnahmslos Literatur geblieben sind, aber einige von
ihnen geben darüber Auskunft, was das Kino hätte leisten können,
wenn es sich als Maschinerie der "subjektiven Montage", also der humanen
Phantasiekräfte im Übergang zur Moderne hätte entfalten können.
In seiner Einführung, in
der es ihm vor allem darum geht, das neue Medium gegenüber dem Theater
abzugrenzen, definiert Pinthus die Montage-Qualitäten der kinematographischen
Phantasie: wie im Roman könne sich der Rezipient "mit den Handelnden
fortbewegen", "in steter Bewegung, unabhängig von räumlicher
Begrenzung"; die Welt des Kinematographen sei "mit Abenteuern und
Seltsamkeiten gespickt", die "Schwere und Kausalität" falle
von den Dingen ab: "Man hat noch nie gesehen, und lacht darum unbändig,
wenn es tatsächlich vorgeführt wird, daß Leute plötzlich
auf den Köpfen stehen, ein Wagen in stürzendes Geschirr fährt
oder eine Schwiegermutter über die Dächer der Häuser flieht." Das
erste Ausdrucksmittel des Kinostücks, so Pinthus, sei "das unbegrenzte
Milieu". Sein zweites Ausdrucksmittel sei die Bewegung: "Bewegung
in doppelter Bedeutung: Bewegung als Geste und als Tempo". Das dritte Ausdrucksmittel
schließlich: die Situation, der Trick. "Wir fallen in Erregung, wenn
wir eine Verknüpfung der Geschehnisse sehen, die wir bisher noch niemals
erlebt haben." Treffender und präziser lässt sich das Phänomen
des Staunens im Kino wohl kaum beschreiben.
Interessant sind in diesem Zusammenhang
die Überlegungen zur Intermedialität, die Pinthus in seinem Vorwort
– ohne bereits über diesen Begriff zu verfügen – skziziert. Sie beziehen
sich auf Analogien der Narrationstechniken im Film und im Roman: "Viel
mehr als dem Theaterstück könnte das Kinostück dem Roman ähnlich
genannt werden. Während im Drama die Personen auf der Bühne festgehalten
sind, kann im Kino wie im Roman der Zuschauer sich mit den Handelnden fortbewegen,
und in steter Bewegung, unabhängig von räumlicher Begrenzung, Handlungen
ausführen sehen." Das Kinopublikum, so Pinthus,
sei "im wesentlichen ein Romanlesepublikum". Wenn wir uns selbst prüfen,
kommen wir wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass unsere Bereitschaft, uns durch
eine Romanhandlung treiben zu lassen, mit unserem Bedürfnis, zu staunen,
wohl enger liiert ist als der Impuls, der uns ins Theater treibt – hier werden
uns zwar, nach den alten aristotelischen Kategorien, die Furcht und das Mitleiden
beigebracht, aber für unsere Sucht nach dem Abenteuer und dem Ungewöhnlichen,
ja Unerklärlichen sind gewiss eher der Roman und das Kino zuständig.
Pinthus drückt das so aus:
"Das was unsere Sinne lockt:
schöne und fremde Landschaften, gesellschaftliche Kultur, bunte und seltsame
Milieus, groteske Situationen, ungekannte Institutionen und Völker, das
Wunderbare muss verknüpft und belebt werden durch das, was unsere Herzen
weckt: Menschenschicksal, Menschentat, Liebesgeschichten, Verrat, Aufopferung,
Intrigen, fröhliche Weltbetrachtung, aufwühlende Traurigkeit, Spannung,
Abenteuer, Ruhe."
Umgekehrt könnte man formulieren: auch
im Kino wollen wir leiden, mitleiden mit dem, was die Menschen umtreibt – aber
ein bisschen Exotik, ein bisschen Frankenstein oder Nosferatu, ein bisschen Atemberaubendes
à la Satanismus, Naturkatastrophe, galaktische Verschwörung oder
Weltuntergang
ist auch nicht zu verachten, damit wir darüber
staunen können, wie unermesslich groß der Kosmos und wie relativ
klein und lächerlich das Menschenleben ist. Ein berühmter Film, der
für das Staunen im Kino geschaffen wurde, hat eben daraus schon 1968 seine
Konsequenzen gezogen und obendrein sehr geschäftstüchtig in die Zukunft
spekuliert: Mit neuer Kopie ist er rechtzeitig in dem Jahr, das er weitsichtig
als Chiffre im Titel führt, nun wieder in vielen Kinos und auf fast allen
Bildschirmen zu sehen, ich meine Stanley Kubricks "2001 – Odyssee im Weltraum".
Den schönsten Text zum "Kinobuch"
von 1913 hat übrigens Kurt Pinthus selbst beigesteuert; er ist betitelt:
"Die verrückte Lokomotive oder Abenteuer einer Hochzeitsfahrt",
und hier vereint bereits der Titel alles, was zur Dramaturgie des Staunens im
Kino gehört: das Abenteuer, die Verrücktheit, Aufbruch und weite Fahrt
(im Bild der Lokomotive) – und schließlich: der Umstand, dass zwei Menschen
eigentlich nur heiraten und sich lieben wollen und statt dessen – beinahe –
in die Hölle geraten. Denn sie sitzen in einem Eisenbahnzug, dessen Lokomotivführer
leider wahnsinnig geworden ist. Ich komme nicht umhin, eine Sequenz aus diesem
erlesenen Kino-Stück von Pinthus zu zitieren:
"Nun sehen wir den Zug schneller und schneller durch die
Landschaft rasen, bis sich sein Tempo zu einer noch niemals erblickten Geschwindigkeit
steigert. Drinnen aber im Speisewagen sitzen die Leute beim Mahl. Verwundert
sehen sie plötzlich die Landschaft in tobender Geschwindigkeit vorbeisausen.
Der Wagen schüttert, so dass die Getränke überlaufen, die Speisen
von den Tellern fliegen. Entsetzt springt man auf, starrt aus den Fenstern,
und sieht draußen die Welt wie zerstückt in Fetzen vorbeifliegen.
Man glotzt sich entsetzt in die Augen, stürzt durch die Korridore des Luxuszugs
mit verzweifelten Gesichtern und Gebärden. Mütter umschlingen die
schreienden und zappelnden Kinder. Der Koch und die Kellner stürmen im
Speisewagen umher und werfen das Geschirr aus dem Fenster. Einem amerikanischen
Millionär werden vor Entsetzen die Haare grau; er reißt aus seiner
Brieftasche Banknoten, aus seinem Koffer Geldrollen und verstreut Geldstücke
und Scheine in den Gängen unter die Leute, während seine hässliche,
dürre, riesenhafte Frau ihn keifend daran hindert. (…) Und man sieht
nun den Zug durch die schönsten Gegenden Deutschlands rasen: Über
Weichen durch die Bahnhöfe, durch liebliche Landschaften Thüringens.
Über bewaldete Berge an alten Städten vorbei (etwa Nürnberg).
Der Zug knattert über Brücken, tobt durch Tunnels, hüpft wie
ein Fisch über Flüsse, und plötzlich springt er vom Ufer in einen
See hinab (etwa der Bodensee) und durchschwimmt ihn wie eine Seeschlange. Dann
nähert er sich dem gezackten Profil der Alpen, saust die Berge hinauf,
an friedlichen Alpenseen und Riesenhotels vorbei… Da erhebt er sich in die
Lüfte und schwebt wie ein fliegender Wurm über eisglitzernde Gletscher,
über unendliche Abgründe. Und er senkt sich wieder hinab in die oberitalienische
Ebene, rast an den dunkelblauen Seen vorbei und stürmt durch Italien."
Entgrenzung, Bewegung, nie gesehene
Verknüpfung: als Medientheoretiker entwirft Pinthus ein Programm, das die
Kategorie des "bloß Denkmöglichen" auf die Potenzen der
technischen Bewegungsbilder anwendet. Und als Kunsttheoretiker entwirft er ein
Programm des mit filmischen Mitteln verwirklichten Surrealismus – ohne daß
er diesen Begriff im Jahre 1913 schon zur Verfügung gehabt hätte.
Im Zentrum der technischen und ästhetischen Operation steht hier wie dort
die Montage: jenes subjektive, weil von einem ästhetischen Subjekt praktizierte
Verfahren, das aus Trennen und Verknüpfen besteht. Der "Cut"
ist der nervus rerum jenes "technisch-magischen Märchens", das
sich in der Filmproduktion realisiert. Darum wird Jean-Luc Godard noch Jahrzehnte
später die Montage seine "schöne Sorge" nennen: alle Fragen,
die die Montage aufwirft, sind bis heute ungelöst, obwohl die Entwicklung
der Kinematographie unter den Bedingungen des kommerziellen Kinos scheinbar
die Sprengkraft, die im Montage-Prinzip steckt, aus der Welt geschafft hat.
Mit dem "continuity editing system", das uns den "unsichtbaren
Schnitt" beschert hat, hat Hollywood, so scheint es, alle Probleme der
Montage gelöst – mit dem Ergebnis, dass nun das erregende Moment des Staunens
in die Bilder selbst und ihre technische Ausgestaltung verlegt werden musste.
Das
Staunen des Produzenten
Am Anfang des Staunens im Kino
steht das Staunen des Produzenten – stehen die Überraschungen, die der
Operateur als Handwerker im konkreten Arbeitsprozess erlebt. Die Technik tritt
ihm nicht selten als Tücke des Objekts entgegen, also als Moment der Dekonstruktion.
Ein berühmtes Beispiel steht am Anfang der Filmgeschichte. Georges Méliès
selbst berichtet, nicht ohne Selbstironie, wie er den "Trick", den
Zauber der Kinematographie erfunden hat: das Verfahren, mithilfe simpelster
Technik die Sinne und den Verstand des Zuschauers zu überrumpeln, ihn in
Staunen zu versetzen und seine Phantasiekräfte auf die Reise zu schicken.
"Wollen Sie wissen, wie mir
die Idee kam, in der Kinematographie Tricks zu verwenden? Wirklich, das war
ganz einfach! Eine Panne des Apparats, dessen ich mich anfangs bediente (ein
ganz einfacher Apparat, in dem der Film oft zerriss oder hängenblieb und
nicht weiterlaufen wollte), hatte eine unerwartete Wirkung, als ich eines Tages
ganz prosaisch die Place de l’Opéra photographierte. Es dauerte eine
Minute, um den Film freizubekommen und die Kamera wieder in Gang zu setzen.
Während dieser Minute hatten die Passanten, Omnibusse, Wagen sich natürlich
weiterbewegt. Als ich mir den Film vorführte, sah ich an der Stelle, wo
die Unterbrechung eingetreten war, plötzlich einen Omnibus der Linie Madeleine-Bastille
sich in einen Leichenwagen verwandeln und Männer zu Frauen werden. Der
Trick durch Ersetzen, Stopptrick genannt, war gefunden, und zwei Tage später
begann ich damit, Männer in Frauen zu verwandeln und Menschen und Dinge
plötzlich verschwinden zu lassen, was anfangs ja großen Erfolg hatte.
Mit diesem ganz einfachen Trick schuf ich die ersten Feerien: "Le Manoir
du Diable", "Le Diable au couvent", "Cendrillon" usw."
Was Méliès hier
als Geschenk der plötzlichen Unterbrechung, als Trick durch Ersetzen, als
Stopptrick beschreibt, ist nichts anderes als jene "nie gesehene Verknüpfung",
die durch den Cut ermöglicht wird – durch den Schnitt ins Material, der
auf der Ebene neuer Kombinationen die Qualität der Montage erlangt. Wie
die Brüder Lumière beginnt Méliès als Dokumentarist;
er pflanzt seine Kamera an der Place de l’Opéra auf und wartet gespannt
auf die Überraschungen, die ihm das vorüberziehende Großstadtleben
verheißt. Die entscheidende Überraschung aber springt aus dem Apparat:
eine Panne der Technik generiert einen Qualitätssprung aus der Kontinuität
der empirischen Sinneswahrnehmungen, die wir Alltag nennen, in die Kontingenz
unvorhersehbarer Kombinationsmöglichkeiten, die wir von nun an mit dem
Zauber der Kinematographie verbinden und die allein dem Cut zu danken ist.
1924 entstand ein Film, der nicht
mehr, aber auch nicht weniger als eine Philosophie der Montage leistet, eine
Strukturanalyse des Kinozaubers, ebenso eine Analyse der Differenz zwischen
den Möglichkeiten des Mediums und dem, was aus dem Kino im Prozess seiner
Ausdifferenzierung als Massenmedium unter kommerziellen Bedingungen geworden
ist. Es handelt sich um "Sherlock Junior" von Buster Keaton: die Geschichte eines Filmvorführers
im Niedriglohnbereich, der von Reichtum und Liebe träumt, vor allem davon,
als Meisterdetektiv berühmt zu werden. Eines Tages schläft er neben
dem Filmprojektor ein; er träumt, und im Traum steigt er in die Filmhandlung,
die auf der Leinwand abläuft – entschlossen, zwischen Gut und Böse
Ordnung zu stiften.
Der Zivilisationsmensch, der ins
Kino geht, will Gefährdungen wahrnehmen, ohne sich selbst den Gefahren
auszusetzen; er will sich in der Wüste, im Urwald, auf einem Berggipfel
oder in der Meeresbrandung wiederfinden, ohne jedoch den Unbequemlichkeiten
der Reise ausgeliefert zu sein. Sein Körper bleibt in Ruhestellung – als
Kinozuschauer ist er der körperlos Reisende, und es ist das Transportmedium
der Montage, das die Dauer der einzelnen Reisephasen auf Sekundenbruchteile reduziert.
In seinem filmischen Essay über
die Filmmontage fingiert Buster Keaton nun, was passiert, wenn nicht nur unsere
Augen und unsere Phantasiekräfte, sondern unser Körper auf die Montage-Reise
geschickt wird. Auf der Ebene der Story erträumt sich ein Filmvorführer
einen zweiten Bildungsweg als Detektiv und begibt sich, sozusagen auf direktem
Weg, in die Welt der Möglichkeiten, die ihm das Kino offeriert. Auf der
Ebene der filmtechnischen Mittel jedoch erleidet sein Körper ein Schicksal,
das er nicht vorausgesehen hat. Jeder Filmschnitt katapultiert Busters Traum-Ich
in eine neue Szene; Buster wird zum passiven Helden nicht einer Geschichte,
sondern des seriellen Prinzips der Unterbrechung. Er fungiert als Demonstrationsobjekt
einer Technik, in der Méliès den Charme niegesehener Verknüpfungen,
also den Zauber des Kinos entdeckt hat. Und das Kino zeigt sich auf der Höhe
seiner Macht, indem es die Montage als Destruktionsprinzip, als Mittel der Aufhebung
jeglicher Kohärenz zelebriert.
Der Schnittmeister Keaton freilich
deckt, indem er sein alter ego Buster von einer Bergspitze ins Meer plumpsen
läßt, dialektisch auf, daß Filmmontage im Regelfall nicht die
Zerstörung der Narration, sondern das Prinzip des Zusammenhangs verfolgt,
d.h. unablässig fiktive Synthesen produziert. Der Schnittmeister ist hier
Struktur- und Diskursanalytiker – und als solcher ein Kritiker des konventionellen
Erzählkinos. Buster Keaton, schreibt Fritz Göttler, habe fortgesetzt,
was mit Marey oder Muybridge, den Erfindern der Phasenbilder, begann; er habe
"wissenschaftliches Kino" gemacht, "strukturell im eigentlichen
Sinn des Wortes". Wir aber, die körperlos Reisenden im Kino, dürfen
staunen – nicht so sehr über das, was Buster widerfährt, sondern über
die Technik, die erst möglich macht, was ihm widerfährt. Der arme
Buster hingegen, der eigentlich am meisten erstaunt sein müsste, hat zum
Staunen keine Zeit.
Die Kino-Faszination verdankt
sich offenbar einem doppelten Privileg, das uns als Zuschauern zuteil wird:
Zum einen dürfen wir unseren Körper für 90 Minuten in die Ruhestellung
verabschieden, um anderen Körpern zuzusehen, denen Unvorhergesehenes und
Unvorhersehbares zustößt. Zum anderen verfügen wir über
die Gelassenheit und über die Zeit, die wir benötigen, um zu staunen
– dem auf der Leinwand agierenden Personal bleibt in aller Regel dieses Zeitvolumen
nicht.
Zwischen den Menschen auf der
Leinwand und den Menschen im Kinosaal ist das Zeitbudget ungleich und höchst
ungerecht verteilt. Erzähl-Zeit und erzählte Zeit stoßen zusammen:
die Zeit, die der Film für seine Erzählung benötigt und die er
uns, den Zuschauern, schenkt – und die Zeit, die uns erzählt wird und in
der Menschen geboren werden, lieben, hassen, kämpfen, gewinnen, verlieren
und oft grausam sterben müssen. Das Leben in der erzählten Zeit ist
dem Zeitraffer unterworfen, jenem Verfahren, dem Bloch – in seinem Essay "Zeitraffer,
Zeitlupe und der Raum" – etwas Fremdes, ja Unheimliches zuschreibt. "Wo
aber Menschen ihre Zeit gerafft, verkleinert, genommen wird, verwandelt sie sich völlig
zum erbarmungslosen Treiber." Wenn es aber so ist, stellt
sich die Frage, warum wir als Kinozuschauer diese Erbarmungslosigkeit, mit der
der Kino-Zeitraffer menschliches Leben verkleinert und Jahre zu Sekunden zusammenzieht
– genießen können.
Fliegende
Zauberteppiche
Bloch richtet auf die Technik
des Zeitraffers einen radikal kulturkritischen Blick: "Der Pseudorausch
durch Zeitraffer ist ja schon Klischee geworden, besonders mit Montage, mit
durcheinanderwirbelnden Köpfen, Füßen, Jazzbandteilen, crescendo,
prestissimo. Viel Rausch aber ist nicht dabei, sondern Verfolgung, Trieb, der
sich selbständig gemacht hat. Ein dämonisches Uhrwerk von außen
und die Menschen sind darangehängt. Überdreht sich das Tempo auf der
Filmstraße, so werden die Menschen erst recht zu Automaten. Time ist dann
nicht nur money, sondern ein Stück der ältesten Dämonie. Jahre
werden zu Minuten, wie in Sagen, wo die Hexe in der scheinbaren Zeitspanne einer
einzigen Nacht ihre Opfer um das lange Leben betrügt. Oder über den
Rasenden ist Gefahr, sie wissen nicht, wohin und sind aus Personen zu Ameisen
geworden."
Es fällt auf, dass Bloch
hier in einem anderen Sinn von Montage spricht als in "Prinzip Hoffnung":
dort technische Magie und Ermöglichung des Unmöglichen, hier das überdrehte
Tempo auf der Filmstraße; dort "Aladins Wunderlampe" als Wunsch-
und Traummaschine, hier die böse Hexe als Diebin der Zeit und Betrügerin
an unserem Leben. Das Märchen allerdings spielt hier wie dort hinein, und
in der Tat entspricht ja das gebannte Staunen, mit dem Kinder den Märchen
lauschen, durchaus dem heiteren Staunen, mit dem sie die rasenden Vorgänge
im Slapstick-Film verfolgen. Im Zauber der Kinematographie kommt beides zusammen,
und das eine bedingt das andere: die geraffte Zeit und die Magie der nie gesehenen
Verknüpfung bilden gemeinsam und untrennbar die filmische Faszination.
Der Film übersetzt die fliegenden Zauberteppiche des Märchens in die
Semiologie des technischen Zeitalters, das mit seinen Erfindungen seit der Dampfmaschine
und der Telegrafie an der Minimalisierung der Zeit und des Raums arbeitet –
einem letztlich anthropologischen Groß-Projekt, das notwendigerweise unsere
gesamte Kultur verändert.
Die "fliegenden Zauberteppiche"
sind das geeignete Stichwort, um an einen Klassiker des deutschen Stummfilms
zu erinnern, an Friedrich Wilhelm Murnaus Faust-Film aus dem Jahr 1925 – genauer: an die Szene, in der wir Faust
auf Mephistos Mantel aus seinem Arbeitszimmer hinaus durch halb Europa bis an
den Hof des Herzogs von Parma fliegen sehen. Diese Sequenz beginnt, nach dem
minutiösen Filmprotokoll, das Eric Rohmer angefertigt hat, mit der 228.
Einstellung des Films: "Faust und Mephisto, aufrecht auf dem Tuch stehend,
heben sich in die Lüfte durch das Fenster und in den dunklen Himmel hinein."
Die Produktionsgeschichte von
"Faust" ist relativ dicht belegt – dank der Aussagen, die von Murnaus
Mitarbeitern, besonders seinem Szenaristen Robert Herlth stammen; diese hat
wiederum Lotte H. Eisner ausführlich dokumentiert. Über die Entstehung
der Flug-Sequenz schreibt Herlth:
"Die Landschaft bestand aus
Modellen, denn Aufnahmen aus dem Flugzeug hätten nur Schnittwerk ergeben
und wären nur real und nicht mittelalterlich romantisch gewesen. Für
den Flug auf dem Mantel Mephistos hatten Röhrig (Herlths Mitarbeiter) und
ich in einem Schuppen von 35m Länge und 20m Breite Modelle gebaut mit Landschaften
nach Altdorfer: Lärchen und Tannen aus Rohr und Schilfbüscheln, Wolken
aus Glaswolle, Wasserfälle, Kornfelder aus Gras (mühselig in weichem
Gips befestigt) modelliert und viele andere Kleinkünste entfaltet.
Damals gab es noch keinen sogenannten
‘Kran’, und als es galt, den Flug auf dem Mantel Mephistos zu drehen, halfen
wir uns zunächst dadurch, dass auf Rat Carl Hoffmanns (des Kameramanns)
eine schmale Gipsbahn gebaut wurde, über die ein auf hohen Gummirädern
laufender Wagen mit darauf montierter Kamera gezogen wurde. Die Gipsbahn stieg
an und fiel ab wie eine sogenannte Geisterbahn. Dadurch sollte das Auf- und
Abschweben demonstriert werden.
Aber die Bilder ‘tanzten’ und
waren unbrauchbar. Hoffmann war verzweifelt und wollte die Flinte ins Korn werfen.
Aber Murnau ermutigte uns.
Niedergeschlagen fuhren Röhrig
und ich zum Potsdamer Platz, um den Schmerz in Schwarzwälder Kirsch zu
ertränken. Als wir, geschlagen und verzagt, nach zwei Stunden auf die Straße
traten, starrten wir wie gebannt auf ein einfaches Phänomen: Es war ein
Tieflader, von dem man ein Auto ablud. Wir sprachen keinen Ton, sahen uns nur
verschmitzt an und rannten zum Bahnhof zurück (…)
Im Zug dann zeichneten wir den
Aufnahmewagen mit niedriger Plattform und festen schweren Rädern, so wie
er im Prinzip heute noch ist. Der Rest war nur noch eine Geschicklichkeit Hoffmanns
(…)
Kurz danach hat Hoffmann, nun
kühn geworden, die ‘doppelte Rückprojektion’ erfunden, primitiv auf
dem Gelände erstellt: aus einer Mattglasscheibe und zwei Projektoren kombiniert.
Das Gleiche, was heute als ‘optische Bank’ prunkvoll und präzise in Stahl
und Eisen die Trickräume schmückt. Nur hat es damals besseren Wirkungen
gedient als jetzt, da kaum jemand ahnt, wozu diese Zaubermaschine ‘Film’ imstande
ist."
Murnaus Team war damals, Mitte
der 20er Jahre, singulär in Europa und brachte sogar die Amerikaner zum
Staunen; überliefert ist, dass nach dem Erfolg des "Letzten
Manns"
in den USA Telegramme aus Hollywood in Babelsberg eintrafen: die amerikanischen
Studiobosse fragten an, wie es Murnau geschafft habe, die Atmosphäre einer
Weltstadt mit Hilfe von Studiokulissen herzustellen.
Auch hier zeigt sich: am Anfang
des Staunens im Kino steht das Staunen der Produzenten – das Staunen der Amerikaner,
die den europäischen Kollegen auf die Schliche kommen wollen – und das
Erstaunen eines Filmarchitekten und seines Mitarbeiters über eine alltägliche
Wahrnehmung, die sie zu einer technischen Verbesserung für die Studioaufnahmen
inspiriert. Es ist das Staunen des Ingenieurs im technischen Zeitalter. Das
Staunen des Kino-Ingenieurs auf der "Filmstraße" – um diesen
Begriff von Ernst Bloch aufzugreifen, der so scharfsinnig über die großen
Montagen der Epoche spricht, den Erfahrungszuwachs durch Zeitraffer und Montage
im Kino jedoch äußerst skeptisch beurteilt. Was er den "Pseudorausch"
durch Zeitraffer und schnellgeschnittene Bilder nennt, kündigt sich im
Kino der Neuen Sachlichkeit an; noch im selben Jahr, in dem Murnaus "Faust"
in die Kinos kommt, wird Walther Ruttman seinen Berlin-Film – "Sinfonie der Großstadt" – drehen.
Das
Zeitzeug
Ob Rausch oder Pseudorausch: den
neuen Bildern, den "neuen Medien" der 20er Jahre liegen neue Wahrnehmungserfahrungen
zugrunde. Erstmals um die Jahrhundertwende werden sie artikuliert. Was den modernen
Zeitbegriff kennzeichne – so der Historiker Karl Lamprecht schon 1903 – sei
"die genaue praktische Beachtung des kleinen Zeitabschnitts: Fünfminutenaudienzen,
Minutengespräche am Telefon, Sekundenproduktion der Rotationsdruckmaschine,
Fünftelsekundenmessung beim Fahrrad: moralisch ausgedrückt Pünktlichkeit." Den
Minutengesprächen am Telefon und der "Sekundenproduktion" der
Rotationsmaschinen entspricht in der Technik und Linguistik des Films die Montage,
die in der Lage ist, Stunden, Tage und sogar Jahre auf den Nenner von Sekundenbruchteilen
zu bringen.
Sport, Technik und Massenmedien
werden zu Geiseln der in ihre kleinsten meßbaren Einheiten entschwindenden
Zeit. Bevor sie entschwindet, kann man davon träumen, sie neu zusammenzusetzen.
Georg Simmel schrieb um 1900: "Ich habe geträumt, die synthetische
Zeit sei erfunden worden. Zunächst konnte man sie nur minutenweise produzieren,
grade wie man ja künstliche Diamanten auch nur in ganz kleinen Kriställchen
darstellen kann. Wenn man nun z.B. zur Untergrundbahn kommt, und der Zug will
gerade abfahren, dann zieht man sein Zeitzeug heraus und reißt ein Zeitholz
an. Man gewinnt eine Minute und kann den Zug noch erreichen."
Exakt dieses "Zeitzeug",
das wie ein Streichholz oder ein Feuerzeug funktioniert, hat der Film erfunden.
Es ist die Montage, der cut, der die Zeit raffen, anhalten oder zurückkatapultieren
kann – und möglicherweise wurde Simmel durch einen der ganz frühen
Filme zu seinem Traum angeregt.
Doch zurück zum „Flug auf
dem Mantel" aus Murnaus „Faust". Diese Szene steht offenbar unter
einem anderen technisch-ästhetischen Gesetz als dem des Schnitts. Nicht,
dass es in dieser Szene keine Montage gäbe; immerhin setzt sie sich aus
18 unterschiedlichen Kameraeinstellungen zusammen. Aber die Montage dient nicht
so sehr der niegesehenen Verknüpfung erstaunlicher Bilder – die ganze Sequenz
setzt ja etwas "Niegesehenes" in Szene, nämlich den Flug aus
einer deutschen Studierstube durch die Nacht über Europa nach Parma, noch
dazu auf einem Mantel. Ebensowenig unterwirft sich die Montage ausschließlich
dem Primat der gerafften Zeit – wie es ein einziger Cut geleistet hätte,
der uns, unter Aussparung der Flug-Sequenz, im Sekundenbruchteil aus einer deutschen
Kleinstadt an den Hof von Parma transportiert hätte.
Vielmehr arbeitet die Montage
an einer in der Tat erstaunlichen Synthese mit, die in dieser Sequenz vom filmischen
Raum, vom Aktionsraum und von der Bewegung in den Bildern hergestellt wird.
Wir wissen dank Robert Herlth: der filmische, für den Film hergestellte
Raum ist eine Modell-Landschaft in einem Schuppen – und die Bewegung wird durch
eine für die damaligen Produktionsbedingungen hochkomplexe Kamerafahrt
sowie durch Effekte des Rückprojektionsverfahrens erzeugt. Im Aktionsraum
der erzählten Handlung bewegen sich Faust und Mephisto durch die Lüfte.
Als trainierte Kinozuschauer wissen wir indessen: die Darsteller von Faust und
Mephisto, Jannings und Gösta Ekman, rühren sich nicht von der Stelle;
allenfalls unterstützen sie mit Körperbewegungen die Simulation des
Flugs. Dennoch: über dieses Arkanwissen müssen wir gar nicht verfügen,
um darüber staunen zu können, dass sich in dieser Sequenz der Raum
bewegt. Der Raum, also der nächtliche Himmel, das Weltall scheint hier
in Bewegung geraten – und im gleichen Maße, wie sich der Raum zu bewegen
scheint, gewinnt das Phänomen der Zeit an Körperlichkeit, an Plastizität.
Gewiss, die Zeit vergeht, sie vergeht gleichsam "wie im Fluge" – eben
diese Redewendung erhält in den Bildern ja eine überaus konkrete Anschaulichkeit.
Auch die Zeit, dieses Abstractum, scheint plötzlich sichtbar und greifbar
geworden; gerade weil sie vergeht, erscheint sie in diesen Bildern dinghaft
wie die stillstehende Zeit in der Fotografie oder der Malerei.
Der
Gesichtspunkt der Malerei
Damit nähern wir uns – nach
den Erörterungen zur Montage und zum Phänomen der Zeit – einer dritten
Kategorie auf der Suche nach den Dingen, die uns im Kino das Staunen lehren.
Ich orientiere mich an Eric Rohmer, der über Murnaus "Faust"
ein ganzes Buch geschrieben und auch die Flugsequenz ausführlich analysiert
hat. Das Vergnügen, das man bei dieser Sequenz empfinde – so schreibt er
– resultiere aus drei Gesichtspunkten; es habe etwas zu tun mit der Architektur,
der Plastik und der Malerei:
„Der Filmer versucht nicht, uns
vollkommen zu täuschen, uns das Gefühl von Realität zu geben,
und so können wir, wenn wir die Tricks auch nicht unbedingt durchschauen,
sie doch wenigstens erkennen und bezeichnen, wie in bestimmten Actionfilmen,
die auch mit Modellen gedreht werden. Wenn wir etwa in einem Spielfilm einen
Auto- oder Flugzeugunfall sehen, darf kein Moment des Tricks offenbar werden
und den Realitätseindruck stören, auch wenn wir wissen, dass das ‘nur
Kino’ ist, und uns damit beruhigen, dass die Szene gespielt wird. Aber dabei
geht es um eine Vorausversicherung, die wir gewissermaßen beim Eintritt
in den Saal unterschrieben und sofort vergessen haben. Hier, in diesem Märchen,
können wir nicht nur nie getäuscht werden, sondern das Modell stellt
sich als solches unserer Bewunderung dar, das heißt als eine nach dem
Bild der Wirklichkeit gestaltete Plastik. Wir können uns nicht genugtun,
die Qualität der Nachahmung festzustellen: ‘wie täuschend echt’ sind
wir geneigt zu sagen, wie bei einem Modellspielzeug. Darin liegt die kindliche
Seite unseres Vergnügens. Aber bei Murnau ist diese Seite unwichtig, während
sie entscheidend ist für das Interesse, das wir heute Méliès
entgegenbringen. Denn ein dritter Gesichtspunkt überlagert die zwei voraufgehenden
und hebt die Intention des Künstlers auf ein höheres Niveau, indem
nämlich nicht mehr nur die dargestellte Landschaft und das sie darstellende
Modell in Betracht gezogen werden, sondern die Darstellung beider auf der Oberfläche
der Leinwand: der Gesichtspunkt der Malerei."
Rohmer lenkt unsere Aufmerksamkeit
auf zwei ganz unterschiedliche Sachverhalte. Der eine bezieht sich auf die Struktur
des Staunens im Kino – indirekt bestätigt sich hier die eingangs geäußerte
Vermutung, dass bei diesem Affekt unsere Freude am Erkennen im Spiel sei, unser
detektivisches Vergnügen am Trick, der zu jeder Zauberei gehört, auch
zum Kinozauber, von dem wir uns gern verwirren lassen, den wir aber auch durchschauen
wollen – selbst wenn uns das Geheimnis der technischen Machination selbst verschlossen
bleibt. Pures Staunen ohne jegliche Auflösung bliebe stumpf –
offenbar staunen wir im Kino anders als im wirklichen Leben, was nicht erstaunt,
da ja auch Trauer oder Freude angesichts der Geschehnisse auf der Leinwand nur
im Bezugsrahmen einer Konstruktion funktionieren, deren begrenzte Gültigkeit
wir anerkennen, indem wir sie mit dem Erwerb einer Kinokarte vertraglich besiegeln.
Der andere Sachverhalt ist ästhetischer
Art: hier beschreibt Rohmer auf das genaueste die materiale Beschaffenheit der
kinematographischen Konstruktion. Wenn wir über die „Architektur"
filmischer Bilder sprechen, über die „Plastizität" des filmisch
Dargestellten oder über die Organisation des filmischen „Raums", sprechen
wir über Effekte, die dem spezifischen Illusionismus des Kinos zuzuschreiben
sind. Die materiale Grundlage ist belichtetes Zelluloid, das dank der Projektorlampe
ein zweidimensionales Bild auf die Leinwand wirft: reine Oberfläche, rechteckig
gerahmt wie Tafelbilder, eingefasst in eine Dunkelheit, die wir – wie avanciert
die Technik des kinematographischen Illusionismus jeweils sein mag – noch immer
mit dem Dunkel in Platos Höhle assoziieren. „Architektur", „Plastik",
filmischer „Raum" – dies sind offenbar Begriffe, mit denen wir auf einer
elaborierten Diskursebene nichts anderes als unser Erstaunen ausdrücken
wollen – unser Staunen angesichts der Potenzen einer technischen Vorrichtung,
die einem ganzen Jahrhundert seine mediale Prägung verliehen hat.
Rohmer radikalisiert diesen Denkansatz,
indem er den Vorschlag macht, den „Gesichtspunkt der Malerei" einzunehmen.
Er schreibt: "Diese Sequenz bildet also ein Gemälde, und als solches
genießen wir es am intensivsten. Ein Gemälde, dessen Format weit
über das eines Staffelwerks hinausgeht: es ist wie ein riesiges Fresko,
das sich nicht mit einem Blick erfassen lässt und vom Zuschauer verlangt,
dass er sich bewegt und nacheinander die verschiedenen Motive betrachtet. Der
einzige Unterschied ist, dass im Kino unsere Perspektive nicht frei gewählt
ist, sondern gelenkt wird. Abgesehen davon empfinden wir bei der Erforschung
dasselbe Vergnügen wie bei jenen Renaissancegemälden, deren eingestandener
oder versteckter Gegenstand eine Architektur ist, die eines Palasts, einer Stadt
oder einer Landschaft. Was uns dabei verführt, fasziniert, ist eben die
Integration eines schon in einer bestimmten Ordnung vorgegebenen Elements der
Realität in den Rahmen eines Gemäldes."
Hier nun hat uns Rohmer an eine
Wegkreuzung geführt; die Entscheidungen, die wir zu fällen haben,
sind von erheblicher Tragweite. Noch immer geht es um das Staunen – aber die
Frage ist, welche Richtung unser Staunen einschlägt. Versinken wir in jene
Anbetung angesichts des filmischen Bildes, über die sich schon Walter Benjamin
lustig machte, als er von jenen französischen Adepten sprach, die vor Filmbildern
ins Stammeln geraten, als stünden sie vor einer Tafelmalerei Fra Angelicos? Oder
halten wir es mit der Mathematik? Sowohl "die dargestellte Landschaft wie
das sie darstellende Modell" sind ja nichts anderes als das Gaukelspiel
einer physikalischen Machination aus Licht und Schatten, aus Linien und Flächen
– oder, auf den Benutzerflächen unserer Computer, aus "Bits und Bytes",
aus Pixeln und binär codierten, also rein mathematischen Informationen.
Rohmers Vorschlag, das Filmbild in seiner Flächenhaftigkeit zu sehen, lenkt
unseren Blick auf das Interface, auf die digitalen Schnittstellen, die heute
die Relationen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Welterfahrung regulieren.
Damit haben wir uns am Ende weit
vom Prinzip der Montage entfernt – und womöglich von ihr Abschied genommen.
Die digitalen Schnittplätze machen Montage zum Kinderspiel, aber vielleicht
auch überflüssig. Montage, diese Erfindung der 20er Jahre und der
neuen Sachlichkeit, ist ausgereizt. Die aus dem Computer generierte Filmproduktion
– dies haben William J. Mitchell und Lev Manovich nachgewiesen – nimmt wieder
den „Gesichtspunkt der Malerei" ein – in einem ganz praktischen, produktionstechnischen
Sinne: "In seiner Analyse der digitalen Fotografie lenkt William J. Mitchell
unsere Aufmerksamkeit auf die von ihm sogenannte inhärente Veränderbarkeit
des digitalen Bildes: ‘Die wesentliche Eigenschaft der digitalen Information
ist ihre leichte und sehr schnelle Manipulierbarkeit in einem Computer. Es geht
einfach nur um die Ersetzung von alten durch neue digitale Daten … Computerwerkzeuge
zur Transformation, Kombination, Veränderung und Analyse von Bildern sind
für den digitalen Künstler ebenso grundlegend wie Pinsel und Pigmente
für einen Maler.’ Wie Mitchell zeigt, löscht die inhärente Veränderbarkeit
den Unterschied zwischen einer Fotografie und einem Gemälde aus. Da ein
Film aus einer Serie von Fotografien besteht, läßt sich Mitchells
Behauptung auf den digitalen Film erweitern. Wenn ein Künstler leicht digitalisiertes
Filmmaterial als ganzes oder Bild für Bild verändern kann, dann wird
ein Film in gewissem Sinne zu einer Reihe von Gemälden."
Dem Staunen im Kino werden somit
neue „Portale" geöffnet. "Die Bilder werden übermalt",
schreibt Manovich, "um entweder Ergänzungen zu schaffen oder um sie
direkt zu verändern, wie beispielsweise in ‘Forrest Gump’, wo man Präsident Kennedy neue Sätze sprechen ließ,
indem man Bild für Bild die Form seiner Lippen veränderte. Im Prinzip
kann man mit genügend Zeit und Geld den ultimativen digitalen Film machen:
90 Minuten, d.h. 129 600 ganz neu gemalte, aber vom Aussehen nicht von der normalen
Fotografie unterscheidbare Bilder." Der Animationsfilm – stets als Widerpart
des fotografischen Filmrealismus verstanden – und selbst die „vorfilmischen"
(grafisch oder malerisch erzeugten) Animationstechniken des 19. Jahrhunderts
geraten wieder in den Blick und lassen als historische Episode erscheinen, was
einmal Monopol unserer visuellen Wahrnehmung und „Leitmedium" in der ersten
Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war: „Im Rückblick können
wir erkennen, daß die vom Film des 20. Jahrhunderts ausgeübte Herrschaft
des visuellen Realismus nur eine Ausnahme war, ein isoliertes Ereignis in der
Geschichte der visuellen Darstellung, die stets – und jetzt wieder – die manuelle
Konstruktion von Bildern einschließt. Der Film wird zu einem besonderen
Teil der Malerei, zum Malen in der Zeit. Es gibt kein Kino-Auge mehr, sondern
jetzt gibt es einen Kino-Pinsel."
Nicht erschöpft ist noch
immer unser Staunen gegenüber dem Bild, der potentiellen Unendlichkeit
von Informationen innerhalb des einzelnen Bildfeldes – und den (inneren) Montage-Potentialen
einer lang anhaltenden Kamerafahrt. Ein neueres Beispiel für den Sog, der
von einer einzigen Einstellung (oder ganz wenigen) ausgeht, ist der establishing
shot in Ridley Scotts "Blade Runner" und die darauffolgende Kamerafahrt: In einer Panorama-Einstellung
senkt sich die Kamera ganz langsam, gleichsam schwimmend, aus dem düsteren
Himmel über Los Angeles auf die gespenstisch verkommene, von Stichflammen
und Explosionen gefährlich erleuchtete Stadtszenerie herab und fährt
dann auf ein monströses, pyramidenähnliches Gebäude zu, bis eine
Fensterreihe fast die ganze Leinwand füllt. Das Staunen im Kino, wenn es
denn funktioniert, entstammt hier einer sehr alten, doch von einer neuen Technik
gestützten Qualität.
Klaus Kreimeier
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Margrit Frölich u.a.
(Hrsg.): Zeichen und Wunder. Über das Staunen im Kino, Marburg (Arnoldshainer
Filmgespräche Bd. 18), S. 29-49
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