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Kino versus Corporate World

 

Der politische Dokumentarfilm erlebt derzeit eine Kino-Renaissance wie zuletzt 1968. Warum eigentlich, gibt es inzwischen nicht modernere Medien?

 

Der Vorher-Nachher-Effekt: Man nehme zwei junge Regisseure, Vít Klusák und Filip Remunda, die in Armeehosen, Wollpullovern und mit halblangen Haare auch aussehen wie das, was sie sind: Absolventen der Prager Filmhochschule FAMU. Man schicke sie zum Stylisten, zum Friseur und zum Boss-Herrenausstatter in der Innenstadt und erhält: zwei aufstrebende Jungmanager, die bereit sind, die größte Supermarktkampagne in der Geschichte der Stadt Prag zu lancieren.„Cesky Sen“ („Czech Dreams“) ist das filmische Logbuch dieses Marketingfeldzugs, in dem mit gigantischen Postern, TV- und Radiospots oder Werbeflächen auf Straßenbahnen die Eröffnung eines Hypermarkets im Prager Industriegebiet angekündigt wird. Die Kampagne ist echt und wird von Werbespezialisten geleitet, doch die Superbillig-Angebote, entpuppen sich – wie das seifenblasenförmige Logo insgeheim schon andeutet – als Finte: Die Schnäppchenjäger, die zur Eröffnung das Gelände stürmen, finden hinter der riesigen Fassade nichts als grüne Wiese.

 

Letzten Herbst wurde der große Supermarkt-Bluff „Cesky Sen“ als bester tschechischer Dokumentarfilm ausgezeichnet und läuft seither mit großem Erfolg auf internationalen Festivals. Und tatsächlich hätte die konsumkritische Eulenspiegelei von Klusák und Remunda überall gedreht werden und etwa auch den Österreichern ihre von der Werbung konditionierte „Geiz ist Geil“-Mentalität vor Augen führen können.

 

Während weltweit die Räume des Wirtschaftens ebenso wie die politischer Regelungen größer werden, wächst auch der Raum für Kritik: Der internationale Erfolg von Büchern wie Naomi Kleins „No Logo!“ (2001) belegen dies ebenso wie der aktuelle Boom konsumkritischer Dokumentarfilme.

 

Frech, bunt und nicht ohne Polemik, spielte sich etwa das McDonalds-Diät-Tagebuch „Super Size Me“ des New Yorker MTV-Regisseurs Morgan Spurlock 2004 an die Spitzen der Kinocharts, gefolgt von Jonathan Nossiters Blick hinter die Großwinzerei-Kulissen „Mondovino“ oder Mark Achbars und Jennifer Abbotts ebenso smarter wie kurzweiliger Konzern-Charakter-Analyse „The Corporation“. Das Bedürfnis, die Marktmechanismen, die uns umgeben, zu verstehen, wächst – sei es, dass man im Alltag ökologisch korrekt handeln oder, weniger altruistisch, als Konsument/in ganz einfach die richtige Entscheidung fürs eigene Wohlbefinden treffen will. So entstehen derzeit auch in Österreich dokumentarische Arbeiten zum Thema Lebensmittelproduktion: Hubert Saupers investigative Ursachenforschung zum Arm-Reich-Gefälle zwischen so genannter erster (Europa) und dritter (Tansania) Welt vergällte seinem Publikum den Appetit auf Victoria-Seebarsch wohl für alle Zeiten. Dabei will „Darwin’s Nightmare“, der als bester europäischer Dokumentarfilm 2004 ausgezeichnet wurde, in seiner Aussage über den spezifischen Fall hinausgehen: Indem Sauper den Warenkreislauf „Waffen gegen Fisch“ mit der verkürzten Nahrungskette des räuberischen Seebarschs Bezug setzt, schafft er eine Allegorie für die Gefräßigkeit der ungebremsten Marktwirtschaft. Und auch Erwin Wagenhofer scheint den Nerv der Zeit getroffen zu haben: Beachtliche 13.500 Zuschauer konnte seine kritische Betrachtung zur Massenproduktion von Nahrungsmitteln, „We feed the World“ (derzeit noch im Kino), gleich in der ersten Woche seines Österreichstarts verbuchen. Kaufanfragen von Verleihern aus dem Ausland liegen bereits vor.

 

Erleben wir nach 68 nun eine Renaissance politischen Kinodokumentarfilms? Und wenn ja, warum sind es heute nicht andere, „modernere“ Medien wie das Fernsehen oder Internet, die die Rolle des Kontrollorgans übernehmen? Schließlich haben beide dem Kino voraus, dass sie Informationen quasi in Echtzeit vermittelt können, während ein Dokumentarfilm, vom ersten Konzept und Förderansuchen, bis zum Kinostart nach wie vor Vorlaufszeiten von rund zwei Jahren hat. Doch die vergleichsweise Schwerfälligkeit des Mediums nimmt ab: Eröffnete 1968 das 16mm-Format neue Möglichkeiten am Set, so ist es zur Jahrtausendwende das Digitalvideo. Im Kino wiederum sind theoretisch schon gar keine Distributionskopien mehr nötig – wie im Fall des auch in Österreich derzeit durchgeführten DocuZone-Experiments, bei dem Filme via Satellitenempfang direkt in die Kinosäle gespeist werden. Das Kino wird wendiger.

 

Eigentliches Stichwort aber ist die Nachhaltigkeit: Zwar gibt es im Kabel- und Satellitenfernsehen mehr Dokuzeit, doch geringe Budgets sorgen für einen Verfall der Qualitätsstandards. „Dokumentarisch“ bedeutet hier oft: Talking Heads, Voice-Over-Kommentar und Stock Images, die den realen Dreh ersetzen. Die gleiche Footage kommt in immer neuen historischen Dokus zum Einsatz, nicht selten erlebt man als Zuschauer ein seltsames Deja-Vu: Wie im Song der Propellerheads – it’s just „History Repeating“. Zudem findet derzeit vor allem in den USA ein massiver Ausverkauf des Dokumentarischen statt, der größte Dokumentarfilmkanal Discovery Channel ist mittlerweile in erster Linie ein Merchandise-Unternehmen, das sich aus dem Verkauf von Plüschpandas, Hochglanzheften und DVD-Editionen speist. Und last but not least wird die Glaubwürdigkeit des Dokumentarischen im TV durch die aktuellen, grenzverwischenden Reality-Formate auch nicht eben erhöht. Kurz: Das Kino wird inzwischen von vielen als Gegengewicht zum dubiosen TV- und auch Internet-Häppchen-Wissen geschätzt.

 

In den nächsten Wochen und Monaten sind in Österreich wieder einige spannende marktwirtschaftsskeptische Filme zu sehen. Ausdrücklich empfohlen seien hier nur Thomas Balmés’ „A Decent Factory“, der zwei so genannte „ethische Verträglichkeits-Prüferinnen“ des Nokia-Konzerns auf ihren Kontrollgängen durch eine chinesische Produktionsstätte begleitet, und Raymond Depardons „Profiles Paysans: Le Quotidien“ (2004), sowie sein Kurzfilm „Quoi de neuf au Garet?“ (2005), die sich dem ebenfalls globalen Phänomen verschwindender landwirtschaftlicher Einzelbetriebe widmen (alle drei auf der Viennale). Im Frühjahr 2006 startet die filmische Bestandsaufnahme moderner Produktionsvorgänge „Unser täglich Brot“ des Wiener Regisseurs und Kameramanns Nikolaus Geyrhalter: Seine Bilder von Kükenkörpern im Maschinengebläse und gigantischen Plastikzelten unter denen erdfrei Gemüse gezogen wird, könnten mittlerweile fast überall gedreht sein. Auf Ortseinblendungen verzichtet Geyrhalter deshalb konsequenterweise gleich ganz.

 

Maya McKechneay

 

Dieser Text ist zuerst erschienen am 14.10.05 im Südwind Magazin (Österreich)

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