zur startseite

zum archiv

zu den essays

John Huston

5.8.1906 – 28.8.1987

 

 

John Huston ist tot. Er starb, 81 Jahre alt, kurz nachdem sein Joyce-Film JOHN HUSTON’S THE DEAD fertiggeworden war. Feierlich müßte mir zumute sein, und ergriffen müßte ich seiner gedenken, der vor 46 Jahren mit THE MALTESE FALCON seine Regiearbeit begann und zur unverwechselbaren, großen und sich treu bleibenden Persönlichkeit des Films wurde: DER SCHATZ DER SIERRA MADRE (1948), ASPHALT JUNGLE (1950), MOBY DICK (1956), FREUD (1962), FAT CITY (1972).

 

Doch die rechte Nachrufstimmung kommt nicht auf, und wie sollte sie auch, wenn man an ihn denkt, der in seinen Filmen nie sentimental geworden war. Er hielt die Distanz desjenigen ein, der hinhören und hinsehen wollte. Er ließ die Dinge sprechen, die Schauspieler sich entwickeln; er zog es vor, bei den Dreharbeiten zu schweigen. Es war ein erwartungsvolles Schweigen, das anspornte. Denn es signalisierte ein Einverständnis, das voller Erwartung war und das keiner Worte bedurfte – jedenfalls in aller Regel.

 

Huston also, der zuwarten konnte, nahm die Dinge unsentimental und mild ironisch. Wer beobachten kann, braucht weder große Worte noch pathetische Gesten. Darin fühlte er sich eins mit James Joyce. Und er fand den Titel „The Dead" der Kurzgeschichte gerade deswegen so gelungen, weil er völlig daneben war und allenfalls etwas über die ironische Distanz des Erzählers sagte.

 

Was für eine Antwort bekommt ein Interviewer von John Huston auf die Frage, ob er an Gott glaube? Huston (1987): „Ich würde es nicht wagen zu spekulieren. Das wäre eine Unverschämtheit."

 

Wenige Tage vor seinem Tod sah ich JOHN HUSTON’S THE DEAD. Ich saß im Kino so für mich hin, sagen wir circa eine Stunde lang. Und dann: boing!!, da liefen sie, die kalten Gräsen, und zwar den Rücken runter, und ich wußte: das war’s, was es auch immer war, und es war das Größte. Mithin steht fest, daß ich in John Hustons Film eine Erleuchtung hatte, eine Erscheinung: eine Epiphanie, wie die Humanisten unter uns wissen. Dabei war eigentlich gar nichts besonderes passiert. Vom Toten war im Film immer noch nicht die Rede gewesen, und Huston malte immer noch mit Akribie, deutlicher Komik, aber immer mit Liebe und Zärtlichkeit den Empfang aus, den Tante Kate und Tante Julia am 6. Januar 1904 ihren Verwandten und Freunden in ihrem Haus Usher’s Island 15 in Dublin gaben; etwa anderthalb Dutzend Personen, würde ich meinen. Es wird geredet, musiziert, getanzt, getrunken (viel) und Gänsebraten gegessen.

 

Eine herzliche Mittelstandsstruktur und eigentlich glatter Wahnsinn für die Filmdramaturgie, denn die Kamera bleibt im Haus und tut nichts weiter, als eine geschlagene Stunde lang zwischen Gastgebertanten (Miss-Marple-Typen, dick) und Gästen hin- und herzuspringen. Nichts von action. Wenn der Film gleichwohl dicht und auf unbegreifliche Weise spannend ist, und wenn die Menschen, die er zeigt, immer vertrauter und aufregender werden und ziemlich zu Herzen gehen, dann liegt das daran, daß Huston die Festgäste in Ruhe läßt und sich darauf beschränkt, sie zu beobachten und Details zu registrieren. Hier wird nichts interpretiert, hier wird nicht spekuliert, und kein Mensch erhält eine Antwort auf die pädagogische Frage, was der Autor damit sagen will. Übrigens ist Huston nur fair mit dem Dichter Joyce, der in seiner Kurzgeschichte autobiografische Erlebnisse vorstellt und mitnichten erläutert.

 

In Huston Film also steigt, ohne daß man es recht gewahr wird, das emotionale Klima – etwa in der Art, daß einem plötzlich inmitten allgemeiner Heiterkeit die Tränen kommen. Etwa wenn Ann Stockton in die Soloharfe greift. Oder wenn Frank Patterson, größter Tenor Irlands und hier erstmals im Film, „The Lass of Aughrim" singt. Lass: der/die/das Liebste. Ein anrührendes Lied. Greta (Anjelica Huston) ist davon total erfüllt. Der Tote ergreift von ihr Besitz und von ihrer braven, spießigen Ehe. So wie jetzt, am 6. Januar, hatte ein Junge, ihr 17jähriger Lover, im Schneetreiben vor dem Fenster gestanden, ihr in eisiger Winternacht die Geschichte von der Liebsten aus Aughrim als Ständchen dargebracht – und sich den Tod geholt.

 

Und jetzt geschieht Ungeheures: der Film verläßt die festliche Gesellschaft. Er verläßt den Drehort! Huston bringt es fertig, den harmlosen, wenn auch überraschenden Ortswechsel dem Ausbruch äußerster Gefühle, dem Erscheinen eines göttlichen Wesens gleichzusetzen. Das mystische Erscheinen des jungen Toten exakt am 6. Januar hat auch im höheren Sinn seine Richtigkeit.

 

Ich habe es im Lexikon nachgeschlagen: An diesem Tag, dem Dreikönigsfest, ist Epiphanias, das fromme Fest der Erscheinung des Herrn, und Heiden läuft wenigstens ein kalter Schauer den Rücken runter.

 

JOHN HUSTON’S THE DEAD, elegisch, poetisch und hintergründig komisch, ist ein unverwechselbares, unwiederholbares Kinoerlebnis, weit entfernt von den Normen aktueller Filmdramaturgie. Für Huston gab es keine professionellen Gesetze, allenfalls Klischees. In einem interview mit Gideon Bachmann (in: „Wie sie filmen (1966), Hrsg. Ulrich Gregor) sagte er: „Die Originalität von Joyce kann man keineswegs von dem trennen, was er sagt. Es gibt keine Trennung zwischen Stil und Thematik, zwischen Stil und Intention, zwischen Stil und Idee. Mit dem, was ich sage, meine ich keineswegs, daß die Arbeit eines Mannes nicht von dessen Persönlichkeit zeugen sollte, unabhängig davon, daß er in dieser Arbeit eine spezifische Idee ausdrückt. Aus der Verbindung seiner Persönlichkeit und der Idee, die er ausdrückt, resultiert sein Stil."

 

Huston, der ein Ziel nach der Qualität des Weges beurteilt, mußte alle irritieren, die einen Weg nach seinem Ziel beurteilen. Als ich 30 Jahre vorher Humphrey Bogart und Katharine Hepburn in seinem Film AFRICAN QUEEN sah, hatte ich sie zum erstenmal gespürt, die kalten Gräsen. Wenn ich lese, was ich damals in der „Filmkritik“ geschrieben habe, dann merke ich, daß Hustons Wege-Stil und seine Darsteller-Persönlichkeiten mich 30 Jahre lang begleitet haben. Grade von dort, wo man es nicht erwarten konnte – aus US-Amerika – kam die Botschaft, daß es auf Erfolg oder Mißerfolg nicht ankomme. Wichtig war nur, ein Ziel auf der abenteuerlichen Reise zu haben, irgendeines, aber ein außerordentliches; und wichtig war es, für dieses einmal gewählte Ziel alles einzusetzen und dafür gemeinschaftlich zu kämpfen. Da die Hepburn sich für Charlie weder als sexuelles Idol noch als zerbrechliche Schönheit erwies, da beide die erstarrte Welt der Konventionen hinter sich ließen und Gefahren wie Freuden teilten, lohnten sich die unerhörtesten Anstrengungen und die ungeheuerlichsten Opfer.

 

Das war eine Filmreise. Gedreht wurde die AFRICAN QUEEN 1952. Fünf Jahre vorher war Huston sehr real nach Washington gefahren, um gegen die Hysterien der Kommunistenhatz des Un-American Activities Committee zu protestieren. Zusammen mit anderen prominenten Dissidenten hatte er extra ein Flugzeug gechartert, um bei den Ministerien in Washington gegen die Verletzung des Verfassungsrechts auf freie Meinungsäußerung zu demonstrieren. An Bord der Maschine waren Gene Kelly, June Havoc, Danny Kaye, die Bacall und Bogart. Wie man weiß, hatte Huston mit der Reise keinen Erfolg. Aber wie man auch weiß, hinterher, war es die Reise selbst, auf die es angekommen war.

 

Sechs Jahre vor der Chartermaschine nach Washington, 1941, war es im MALTESE FALCON, wieder eine Filmreise, nicht auf den Erfolg angekommen. Ob Spade wen zur Strecke bringt – die Lösung des Kriminalfalles ist es nicht, warum man den Film wieder und immer noch sehen will. Übrigens: wenn man Huston posthum etwas Gutes tun will, dann sollte man die abscheuliche Filmmusik beseitigen, die der Verleih „neue filmform" in den sechziger Jahren auf die Filmspur der deutschen Version gebracht hat, weil die Originalmusik auf getrenntem Tonband nicht zur Verfügung stand. Das Problem ist technisch zu lösen. Die Originalmusik gibt es. Und Huston ist in vielen Interviews immer wieder auf die dramatische (und nicht illustrierende) Funktion der Musik in seinen Filmen zurückgekommen. Ich wünsche ihm, daß er die Musik à la Wallace-Deutsch-Krimi in der deutschen Fassung des Falken nie gehört haben möge.

 

Huston installierte 1961 mit Clark Gable und Marilyn Monroe die MISFITS als neue Helden im Land des erfolgssüchtigen American Way of Life. Und den Bösen zeigte er noch in seinem Alterswerk – in seinem vorletzten Film – ironisch gebrochene Zuneigung: den PRIZZIS. Der guten Sache war er sich sicher – aber nicht deshalb, weil ihm dies vorgeschrieben war.

 

Es sollte mich herzlich freuen, wenn mein Eindruck richtig ist, daß seine Tochter Anjelica, die in den PRIZZIS und in THE DEAD große Rollen hatte, in der nächsten Zeit den Huston-Charakter auf die Leinwand bringt – als Frau, als Tochter, wie auch immer. Denn wir wollen, daß die Reise weitergeht, auf dem Huston-Weg, zu welchem Ziel auch immer, vorausgesetzt wir haben die Sicherheit, die wir bei Huston-Vater hatten. Er ist die gute Sache. 

 

Dietrich Kuhlbrodt

 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd Film 10/87

 

The Dead – Die Toten

THE DEAD

Die Toten

England / USA / BR Deutschland – 1987 – 83 min. – Erstaufführung: 17.9.1987/März 1988 Video – Produktion: Chris Sievernich, Wieland Schulz-Keil

Regie: John Huston

Buch: Tony Huston

Vorlage: nach einer Erzählung aus "Die Dubliners" von James Joyce

Kamera: Fred Murphy

Musik: Alex North

Schnitt: Roberto Silvi

Darsteller:

Anjelica Huston (Gretta)

Donal McCann (Gabriel)

Helena Carroll (Tante Kate)

Cathleen Delany (Tante Julia)

Ingrid Craigie (Mary Jane)

Donal Donnelly (Freddy)

Colm Meany (Mr. Bergin)

 

zur startseite

zum archiv

zu den essays