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Edward
mit den Scherenhänden
Das
Schweigen der Lämmer
Schrei
in der Stille
Ein
Engel an meiner Tafel
Die
Hölle der Unschuld
Vier Kino-Märchen vom Mensch-Werden
in der Nachmoderne
Nichts ist mehr außer uns, kein
Feind, keine Fremde. Die Welt ist der Kleinbürger ist die freie Marktwirtschaft
ist das Fernsehen. Schrecksekunde: Was kann ICH dann noch sein? Und wie soll
es werden?
Für den Augenblick reicht uns wieder
einmal die grundsätzliche Feindschaft zwischen Gesellschaft und Mensch.
Im Einzelnen ganz allein müßte also die Kraft liegen, das System
zu bezwingen, Mensch zu werden. Das heißt unter anderem, die Einsamkeit
zu akzeptieren, zu verstehen, wie die eigene Wahrnehmung nur eine Wirklichkeit
von vielen ist. Der Mensch ist der Außenseiter; er wird sich immer wandeln
und seine Metamorphosen (fast) ohne fremde Hilfe bewerkstelligen müssen.
Für das Kino heißt das: Fort mit dem »psychologischen Realismus«,
der zu wissen behauptet hat, wie alles hat kommen müssen, fort mit den
verläßlichen Mythen des Genre-Films. Auch das Kino muß auf
die Illusion der fremden Hilfe verzichten und will autonom werden. Es zeigt:
Wahrnehmung ist der Kampf in der Welt der beschleunigten Bilder.
Vier einfache Geschichten: Ein verrückter
Erfinder, der in einem Schloß über einer bonbonfarbenen amerikanischen
Mustersiedlung voller bonbonfarbener Tageswitwen und Allerweltsteenagern residiert
(und vom altehrwürdigen Horror-Darsteller Vincent Price gespielt wird),
hat neben einer Keksausstechmaschine auch einen künstlichen Menschen geschaffen,
den er Schritt für Schritt aus einer Arbeitsmaschine entwickelte. Noch
hat dieses Geschöpf Scheren anstelle von Fingern, und just an dem Tag,
als ihn der Zauberer mit echten Händen ausstatten will, stirbt er. Edward
Scissorhands lebt nun allein im Schloß, bis ihn eines Tages die lokale
Avon-Beraterin (genialer Einfall!) findet und in ihre Familie aufnimmt, nicht
zuletzt, um ihre kosmetische Kunst an seinen Narben und Wunden zu zelebrieren,
die er sich mit seinen Scherenhänden beigebracht hat. Edward mit den Scherenhänden
wird zur Sensation des Ortes, vor allem, nachdem er aus den Bäumen und
Hecken der Siedlung grüne Kunstwerke, schöner und vor allem imposanter
als alle Gartenzwerge und Vogeltränken, schneidet, Hunde und schließlich
die Haare der Frauen aufs feinsinnigste bearbeitet. Das Verhängnis naht,
als er die sexuellen Avancen einer Frau zurückweist und umgekehrt vom Freund
des Mädchens in der Familie für einen Einbruch im Haus des eigenen
Vaters mißbraucht wird. Die Integration des »Monsters«, die
fast schon erreicht schien, wird nun vehement verweigert: Edward mit den Scherenhänden
wird gejagt, und er flieht vor der üblichen lynchwütigen Menge zurück
auf sein Schloß. Wenn es schneit auf diese Siedlung, in der es natürlichen
Schnee nicht geben kann (es gibt überhaupt nichts Natürliches in dieser
Siedlung), dann kommt das von Edward, der mit seinen Scherenhänden Skulpturen
aus Eis schneidet, und die Späne fliegen über die Häuser, auch
über das, in dem eine alte Frau einem Kind, das nicht einschlafen kann,
diese Geschichte erzählt.
Ein Frauenmörder geht um, der seinen
Opfern in großen Streifen die Haut vom Körper zu schneiden pflegt.
Die junge FBI-Schülerin Clarice Starling wird auf den in einem Gefängnis
für Geisteskranke gehaltenen ehemaligen Psychiater Hannibal Lecter angesetzt,
um ihm Informationen über den Serienmörder zu entlocken. Aber er,
der selber als »Hannibal the Cannibal« in die Geschichte der Serienmorde
einging, weil er die Innereien seiner Opfer fraß, holt erst einmal aus
Clarice das Verborgene: Nach dem Tod ihrer Eltern kam sie auf die Farm von Verwandten.
In der Nacht ist sie von furchtbaren Schreien geweckt worden, wie denen von
Kindern, und sie hat die Lämmer gefunden, die zum Schlachten geführt
wurden; sie hat sie befreien wollen, ist mit einem von ihnen geflohen, das ist
trotzdem gestorben. Nun hört sie in ihren Träumen das Schreien der
Lämmer und versucht es als Polizistin zum Schweigen zu bringen. Clarice
wird selbst zum Opferlamm, das, von Lecter angeleitet, am Ende den Mörder
aufspürt und die Frau befreit, die er sich als nächstes Opfer gefangen
hat. Da tappt sie für einige Zeit ganz buchstäblich im Dunkeln, wird
verfolgt von dem Mörder, der sie durch eine Infrarotlichtbrille beobachtet.
Sie erschießt ihn; zur gleichen Zeit entkommt Lecter, nachdem er einen
seiner Wärter an den Gitterstäben gekreuzigt und ausgeweidet hat.
Am Ende der Welt, in Idaho in den fünfziger
Jahren, wächst Seth Dove in einer Welt auf, die aus endlosen gelben Weizenfeldern
und drin verfallenden Holzhäusern besteht. Sein Vater betreibt eine Tankstelle
und verbringt den Tag damit, Vampir-Geschichten zu lesen, seiner verbitterten
Frau aus dem Weg zu gehen und älter zu werden. Seth beobachtet und experimentiert.
Er bläst einen Frosch auf, legt ihn auf den Weg, den die Nachbarin, die
englische Witwe Dolphin Blue, nimmt. Dann zerschießt er die Kreatur mit
seiner Schleuder; das Blut spritzt der Frau über Kleid und Gesicht. Zur
Strafe muß Seth zu ihr gehen, sich entschuldigen. Sie schenkt ihm eine
Walfang-Harpune; Seth flieht damit, als sie vor der Erinnerung an ihren Mann,
der kurz nach der Hochzeit Selbstmord beging, die Fassung verliert. Aus den
Geschichten seines Vaters erklärt sich Seth das Verhalten von Dolphin Blue
eindeutig: Sie kann nur eine Vampirin sein. Eines Tages verschwindet Eben, und
Seth findet seinen Leichnam im Wassertrog des väterlichen Hauses. Weil
Luke Dove vor Jahren vom Sheriff bei einer homosexuellen Handlung überrascht
worden war, hält man ihn für den Mörder. Er geht hinaus, übergießt
sich mit Benzin und zündet sich an: welch ein Schauspiel.
Nach dem Tod seines Vaters kommt Seths
Bruder Cameron zurück, und obwohl ihn Seth vor seinem Unheil bewahren will,
verliebt er sich in Dolphin Blue, die Vampirin. Auch Kim wird ermordet auf dem
Gelände der Doves aufgefunden. Seth hat die wirklichen Mörder gesehen,
aber er schweigt. Als Cameron ankündigt, mit Dolphin fortzugehen, überläßt
er sie wissentlich den Mördern. Verzweifelt wirft sich Cameron über
die tote Frau, und Seth erwacht. Er läuft über die abgeernteten Weizenfelder,
hebt seine Fäuste gegen den Himmel und schreit. Dieser Schrei will kein
Ende nehmen.
Neuseeland in den dreißiger Jahren.
In der engen Welt der Familie eines Bahnarbeiters wächst die pummelige,
rotschöpfige Janet Frame als das »häßliche Entlein«
auf, neben einem Bruder, dessen nächtliche epileptische Anfälle von
den Eltern mit verzweifelt gewalttätigen Versuchen, ihn »zur Vernunft
zu bringen«, beantwortet werden, und drei Schwestern. Myrtle ist der »Star«
und wird von Janet bewundert; sie wird die Welt verzaubern und erobern. Myrtle
ertrinkt, und niemand kann Janet helfen, mit diesem Tod fertig zu werden. Sie
beginnt zu schreiben, und vielleicht ist diese tote Schwester ihr »Schreibengel«,
der sie begleiten wird. In ihrer Studienzeit zieht sie sich immer mehr auf sich
selbst zurück, flüchtet vor der Prüfung zur Lehrerin und wird
schließlich, auf Betreiben eines jungen Dozenten, zu dem sie Zutrauen
gefaßt hat, in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Acht furchtbare
Jahre wird sie dort verbringen, nachdem man »Schizophrenie« diagnostiziert
hat, und 200 Elektroschocks erdulden, von denen jeder wie eine Hinrichtung ist.
Vor der endgültig persönlichkeitszerstörenden Gehirnoperation
retten sie die Veröffentlichung ihres ersten Buches und ein Literaturpreis.
Nach der Entlassung bietet ihr der Schriftsteller Frank Sargeson Unterkunft
und Förderung. Ein weiteres Buch erscheint, und mit einem Stipendium reist
Janet Frame nach Europa. Auf Ibiza erlebt sie ihre erste Liebesgeschichte mit
einem amerikanischen Dozenten. Er verläßt sie, Janet ist schwanger,
und nach einer schmerzhaften Fehlgeburt begibt sie sich freiwillig noch einmal
in psychiatrische Behandlung. Sie erfährt, daß sie niemals unter
Schizophrenie gelitten hat, und nachdem sie von der Furcht befreit ist, seelisch
krank zu sein, kehrt sie nach Neuseeland zurück, ins jetzt leere elterliche
Haus.
Vier Geschichten von Menschen, denen keine
Hilfe zuteil wird, um mit sich und in der Gesellschaft zu leben. Ihr Blick auf
die Welt entstammt dem, was Dolphin Blue, kurz bevor sie ermordet wird, böse
»die Hölle der Unschuld« genannt hat. Die Welt hat ihre »ödipale«
dramatische Struktur verloren; Vater und Mutter sind verschwindende Wesen, und
trügerisch ist alles, was sich als Ersatz anbietet. Edward mit den Scherenhänden,
der ganz buchstäblich nicht zu Ende geschaffen/geboren worden ist; Clarice
Starling (in deren Namen es mehrfach leuchtet), die erst durch den bösen
Vater, der sich so »kunstreich« entzieht, auf den Weg gebracht wird,
die Stimmen der Schlachtlämmer in sich zum Schweigen zu bringen; Seth,
der nur mit rudimentären, neurotischen Erklärungsmodellen der Welt
versorgt wird; Janet Frame, die sich schreibend über das Blick-Verbot und
die Isolation hinwegsetzt: Es sind Kino-Wesen, die sich zu Ende gebären
und die sich, was sie sehen, selbst erklären müssen.
Das ist die dünne psychologische
Haut (fort damit!) für sehr verschiedene Versuche über das Sehen und
das Gesehen-Werden, was unsere mythische Vorstellung vom Verstehen und Verstanden-Werden
ersetzen wird. Weil das Kino nicht mehr auf die hierarchische Wahrnehmung von
»Wirklichkeit« (innen und außen), Mythos und Traum angewiesen
ist, werden elementare Formen von Aktion und Wahrnehmung wichtiger als die zusammengesetzten;
der Tod, die Sexualität, der Verfall, die Zeit sind bedeutender als die
daraus zusammengesetzten Mythen wie Liebe, Schicksal, Glaube oder Geschichte.
Die Gesellschaft, die kein Außer-sich mehr kennt, hat auch kein In-sich
mehr; so muß das Ich, das seine eigene Utopie wird, die ganze Welt, die
Gesellschaft nämlich, die alle Natur gefressen hat, zum Feind erklären.
Die romantische Version, bei »Edward
mit den Scherenhänden« zum Beispiel, sagt: Die Gesellschaft »erklärt«
diesen Krieg, und ihre Mitglieder leiden selbst daran, daß der Außenseiter
kein Erlöser mehr sein kann (höchstens poetisch schneien lassen kann
er es noch); die harte Version, zum Beispiel bei »Schrei in der Stille«,
sagt: Wenn das Ich sich erkennt, hat es schon alle Sünden begangen. Die
weibliche Version träumt: Ich-Werden ist ein Sieg über die Gesellschaft;
die männliche Version träumt: Ich-Werden ist die einzig akzeptable
Form der Niederlage. Wir verlassen Janet Frame und Clarice Starling, als sie
ein Bild von sich der Öffentlichkeit überlassen, Edward Scissorhands
und Seth Dove verlassen wir, als sie ganz und gar allein sind.
DIE ENGEL. Je weniger wir von den Göttern
zu erwarten haben (und diese von uns), desto bedeutender werden die Engel, die
aus den Gestorbenen geschaffen werden. Seth Dove findet einen wächsernen
Embryo in einem riesigen Ei; es ist der Engel des ermordeten Eben, mit dem Seth
Zwiesprache hält. Edward mit den Scherenhänden schneidet die unerreichbar
in den Niederungen der Vorstädte versunkene Geliebte als Engel in das Eis.
Janet Frame hat einen Schreibengel, die ertrunkene Schwester, bei sich. Hannibal
the Cannibal hinterläßt an seinen Gefängnisgittern einen schrecklichen,
ausgeweideten Engel.
DER BLICK. Seth Dove schlägt seine
Hände vors Gesicht, als sein Vater vor ihm in Flammen aufgeht. Aber dann
öffnet er die Finger doch, sieht durch die Sperre, findet Gefallen an dem
Schauspiel, öffnet ganz und weit die Augen, bläst dann noch in die
Funken, damit das Schauspiel fortdauert. Janet Frame sieht vom Zugabteil aus
auf die Station Seacliff. Das ist, weiß sie, der Ort, wo man die Irren
hält. Die Mutter hält ihr die Hände vor die Augen: Auch diese
Begrenzung des Blickes reicht nicht aus: Janet sieht, was es heißt, »irre«
zu sein: keine Kontrolle über den Körper zu haben. Daß sie die
Welt nun sieht, wie um Beweise zu finden dafür, daß sie ihren Körper
nicht kontrollieren kann, läßt die Neugier immer mehr in die Verletzung,
den Blick, der forscht, in den Blick, der Schutz sucht, verwandeln. Clarice
Starlings/Jodie Fosters Blick ist das »Thema« von »Das Schweigen
der Lämmer«: Wir, die sadistischen, nachmodernen Zuschauer, forschen
in ihrem Blick, was zu sehen ist (und wir sehen: eine Anthologie des Gefangenseins):
Wie bei Janet Frame sind wir auch bei ihr sehr lange nahe an diesem Blick dran,
bis wir uns entfernen (in dem Augenblick, wo sie im Dunkeln vom Mörder
bedroht wird und ihn/uns erschießen muß: Clarice Starling hat wirklich
den Zuschauer erschossen, der wie der Mörder in eine fremde Haut schlüpfen
will). Edward mit den Scherenhänden sieht die Welt (und wir mit ihm) wie
einen Medientraum: Natur kommt nicht vor, und mit der besondersten Perfidie
wird gerade diese Bestie der Menschwerdung dazu mißbraucht, die Reste
der »wilden« Natur zu zerstören. Edward kann beim besten Willen
seine Vergangenheit als Arbeitsmaschine nicht gänzlich überwinden.
Er versucht es mit der Produktion von Schönheit und wird dabei vollends
absurd. Johnny Depps Blick ist ein morbide naiver Punk-Blick, voller Begeisterung
für das Einzelne, das Synthetische; sein Irrtum: Es ist vieles möglich,
aber nur weniges erlaubt.
Janet Frame kommt am Anfang, als dickes,
trotziges Mädchen in zu fester Kleidung und zu klobigem Schuhwerk, einen
langen Weg aus den grünen Hügeln zu uns. Dann bleibt sie stehen, blickt
in die Kamera, sieht, daß sie gesehen wird, und läuft diesen langen
Weg davon. Der Film, der dann doch entsteht, ist die durchaus nicht gewaltfreie
Mißachtung dieser Entscheidung. In Ridleys »Reflecting Skin«
haben Seths aufgerissene Augen, ein tiefes Braun gegen das Gelb der Weizenfelder
und das Blau des Himmels, Wahrnehmung und Spiegel, die Funktion einer absurden
Grenze zwischen dem Innen und dem Außen: Wie Edward mit den Scherenhänden,
die junge Janet Frame und die Clarice Starling am Beginn ihres Daseins als Opferlamm
guckt und guckt er, ohne daß es etwas nutzt. Früher hat man schief
und schräg geschaut, um der Kamera (der Öffentlichkeit) zu trotzen,
wie Richard Widmark oder Katharine Hepburn; später haben die Augen sich
zu Schlitzen geschlossen wie bei Clint Eastwood und geflattert wie bei Madonna.
Jetzt ist es dieser große und direkte Blick, direkt aus der Hölle
der Unschuld; verschämt dürfen wir nicht sein für diese Filme,
die nicht so sehr die Gewalt als das Sehen der Gewalt zum Motiv machen.
SCHÖNHEIT. »Mein Gott, ist
das häßlich hier«, sagt Cameron, als er nach Hause zurückgekommen
ist; wir sehen nur die archaische Schönheit der Weizenfelder und Inselhäuser.
Und seine Mutter hat von der Schönheit der Inseln geschwärmt, auf
denen Cameron war. Aber da war Krieg, und diese Inseln können schön
gewesen sein, aber vor allem müssen sie mit Leichen übersät sein.
Edward mit den Scherenhänden ist nach Schönheit süchtig, die
ganz seinen eigenen Defiziten entspricht; er hält die Avon-Welt für
die Wirklichkeit. Die Männer, denen Clarice Starling gegenübersteht,
sind reine Ästheten; sie haben nichts als Kunstwerke im Sinn; Vampir oder
Chamäleon (alle diese Filme über Gewalt und Blicke sind auch Filme
über das Filme- und Bildermachen).
Die neue Schönheit kann nicht ohne
Schrecken sein; die bis zum Ende todernste Jodie Foster in »Silence of
the Lambs« macht all das, was vordem die Männer machten, das Eindringen
mit der phallischen Waffe in die dunklen, blutigen Räume, das Sortieren
der Wahrnehmung, die Konsequenz der Investigation, und sie tut es doch, wie
Jamie Lee Curtis vordem in Kathryn Bigelows »Blue Steel«, ganz und
gar als Frau. Das will sagen, daß sie deswegen nicht aufhören muß,
eigene Identität zu erkämpfen, während die Männer, die gefährlichen
Künstler wie die dummen Karrieristen, sie beständig verlieren. Wir
wissen auch von Janet Frame von Anbeginn, wie schön sie ist, und wie schön
durch sie die Welt. Aber Schönheit existiert nicht, sie geschieht; Gott
existiert und ist deswegen uninteressant, die Engel geschehen; das Bild existiert
und ist deshalb uninteressant, der Blick aber geschieht. Edward mit den Scherenhänden
schaut aus der Hölle der Unschuld heraus, wie jemand, der alles zum erstenmal
sieht, und muß es gleich bearbeiten. Ja, das ist ein Wesen aus dem Märchen.
Der eigene Körper ist so unvollkommen;
er blutet, stärker als die Lumpen, die man sich um die Scheide binden soll;
ein sanfter Augenblick nur trennt ihn vom Tod; er fügt sich selber und
anderen Schmerzen zu, unbeabsichtigt; er ist das Ziel der Attacke. Ganz elementare
Angriffe finden auf ihn statt; Seth wird mit Wasser abgefüllt, wo er nicht
gleich schlafen kann »Werd’ endlich erwachsen und schlaf!« sagt
die Mutter), so wie der Vater sich gleich darauf mit Benzin abfüllt; Janet
attackiert sich mit Süßigkeiten, die ihre Zähne zerstören;
Edward greift sich immer wieder mit den Scherenhänden ins Gesicht, Clarice
Starling hat einen blutigen Fleck im Auge. Aber noch stärker ist die Erfahrung
des Verfalls draußen. Seth sieht nur Menschen, die in sich zusammenfallen,
historisch, oder dramatisch wie Sheriff Ticker, dem Hunde, Bienen und Schweine
Teile seines Körpers genommen haben. Dolphin Blue sagt, jeden Morgen, wenn
sie aufsteht, bleibe ein Teil ihres Körpers im Bett zurück. Hannibal
Lecter wird mit immer neuen Masken versehen. Janet Frame, am Ende, hat gelernt,
wie man sich fotografieren läßt (so, als wäre man mit den Hügeln
und Wiesen wirklich zu neuer Harmonie gelangt: als habe man die Natur dann doch
besiegt); sie schreibt Schönheit; Edward schneidet Schönheit, Clarice
wird auf nicht weniger synthetische Weise schön, indem sie das Erdfarbene
aller ihrer Erfahrungen akzeptiert, so wie Edward die bonbonfarbene Welt akzeptiert
hat. Die Schönheit ist ein Zerfallsprodukt, das den Zerfall nicht aufhält.
Höhepunkt und Umkehr der Kinogeschichte:
Wir sehen nicht mehr Menschen zu, wir sehen Menschen beim Sehen zu. Und wir
beobachten, wie ambivalent das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit
ist. Janet Frame erlebt ihre Passion an der Gemeinschaft, an der Kommunikation
und ihre Erlösung in der Öffentlichkeit, die über die sinnliche
Erfahrung hinausgeht. Clarice Starling wird aus der Konfrontation in die Organisation
entlassen; Edward mit den Scherenhänden (der verkleidetste und depressivste
aller dieser Helden der Nachmoderne) ist überhaupt nur für die Zeit
gesellschaftlich lebensfähig, in der er öffentliche Reputation genießt.
»Barbarische Schönheit«,
das verlangt Ridley von seinem Film, und barbarische Schönheit ist auch
Ziel, Metamorphose immerhin, der anderen. Wir sehen erst Janet Frame blicken,
neugierig, höllisch unschuldig, dann sehen wir die Blicke auf sie: die
kalten Blicke der Ärzte, die sie als Objekt der Ausgrenzung sehen, die
Blicke des spießig-wahnsinnigen Mannes, der sie sich als Objekt für
eine spießig-wahnsinnige Ehefrau erkürt, den Blick der spanischen
Frauen, die sie dem amerikanischen Teufel verfallen sehen, dessen Blick, liebhaberisch,
auf die nackte Janet, die im Meer badet. Und am Ende hat Janet gelernt, beides
zu praktizieren und zu verbergen, zu blicken und angeblickt zu werden.
MYTHOS. Es ist ganz einfach, auch nachmodern
(nach-aufklärerisch auch: aus einer selbstverschuldeten/selbst inszenierten
Unmündigkeit ist kein Mensch zu führen) funktioniert das dreiaktige
Drama: die Isolation/Entfremdung/Sünde, auf die die Passion, das Opfer,
die symbolische Tat folgt, führt zu Erlösung, Befreiung, Tod und Metamorphose.
Etwas anderes könnten wir gar nicht verstehen. Aber die Hierarchie beginnt
zu schwinden, während die Bilder an Autonomie gewinnen. Das Kino, lernen
wir, ist die Kunst des Verschwindens, des Nicht-Bildgewordenen. Hitchcock zeigt
einen Mord, ganz ohne einen Mord zu zeigen; Kubrik macht mit einem Schnitt die
semiotische Komplizenschaft von Vergangenheit und Gegenwart deutlich. Das Jetzt
ist die Zeit, die im Kino nicht vorkommt. Wir gehen auch deshalb ins Kino, weil
es jetzt nichts anderes gibt (beim Fernsehen ist das anders: beim Fernsehen
können wir uns lieben, langweilen, umbringen). Aber diese Absenz bezeichnet
ein klassisches Kino, das nicht mehr existiert. Das nachmoderne Kino entdeckt,
neben Barbarei und Mythos, den Augenblick, entfernt vom Roman und Theater, näher
an der Malerei. Nichts anderes als Märchen kann dieses Kino der Metamorphosen
erzählen, gewiß, und es überfällt uns doch, ganz neu, mit
einer Behauptung, die sagt: »Jetzt.«
Die wahnwitzige Frauenwelt von »Edward mit den Scherenhänden«,
die Glasblicke zwischen Clarice Starling und Hannibal the Cannibal, Dolphin
Blues vergeblicher Aufbruch, Janets Wachsen in den eigenen Körper – das
kann der Film zeigen mit einem neuen Gestus. Er sagt: Jetzt (es ist das Bild,
das entstanden ist und im Augenblick sich nicht kümmert um die Moral und
das Abgebildete), und er enthebt sich damit der Vergleiche und Hierarchien.
Auf Greenaway, Lynch und Almodóvar folgt ein postmodernes Gebrauchskino,
besser noch, neues Sehen.
Janet Frame, eine wundervolle Schriftstellerin,
ist sehr viel präziser, unnachsichtiger als die literarische Erfindung,
um die es im Film geht. Sie beschreibt, zufällig vielleicht, nicht so sehr
ihren Film, als eine mögliche neue Art von Kino: »In my childhood
I had displayed number riddles, memorizing long passages of verse and prose,
mathematical answers; now, to suit the occasion, I wore my schizophrenic fancy
dress.« Wie gefährlich das ist, zeigt der Film, zeigt das Kino der
Gegenwärtigkeit. Distanz und Nähe, Raum und Zeit, das sind Lebensmittel
unter gesellschaftlicher Kontrolle.
Womit wir wieder dort wären, wo alles
aufzuhören begann, beim Kino, das gegen das Verschwinden arbeitet, statt
es zu zelebrieren. Es kann, ganz unterschiedlich, neue Fragen stellen, das Augenblickliche
und Elementare betreffend, aus der Hölle der Unschuld heraus (weil auch
alles verschwunden ist, was sinnvoll dem Kino hätte vorschreiben können,
wohin es sich zu entwickeln hat). Aber das ist nur so eine Idee. Als gäbe
es keine Filmindustrie.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Konkret 06/1991
Edward
mit den Scherenhänden
EDWARD
SCISSORHANDS
USA
– 1990 – 104 min. – Verleih: 20th Century Fox, Fox (Video) – Erstaufführung:
18.4.1991/7.10.1991 Video/13.12.1992 premiere – Produktionsfirma: 20th Century
Fox – Produktion: Denise Di Novi, Tim Burton
Regie:
Tim Burton
Buch:
Caroline Thompson
Kamera:
Stefan Czapsky
Musik:
Danny Elfman
Schnitt:
Richard Halsey
Darsteller:
Johnny
Depp (Edward)
Winona
Ryder (Kim)
Dianne
Wiest (Peg)
Anthony
Michael Hall (Jim)
Vincent
Price (Der Erfinder)
Das
Schweigen der Lämmer
THE
SILENCE OF THE LAMBS
USA
– 1990 – 118 min. – Verleih: Columbia Tri-Star, RCA/Columbia (Video) – Erstaufführung:
11.4.1991/5.11.1991 Video/5.3.1994 RTL – Produktionsfirma: Strong Heart/Demme
Prod. – Produktion: Gary Goetzman, Edward Saxon, Kenneth Utt, Ron Bozman
Regie:
Jonathan Demme
Buch:
Ted Tally
Vorlage:
nach einem Roman von Thomas Harris
Kamera:
Tak Fujimoto
Musik:
Schnitt:
Craig McKay
Darsteller:
Jodie
Foster (Clarice Starling)
Anthony
Hopkins (Dr. Hannibal Lecter)
Scott
Glenn (Jack Crawford)
Ted
Levine (Jame Gumb)
Anthony
Heald (Dr. Frederick Chilton)
Brooke
Smith (Catherine Martin)
Charles
Napier (Sergeant Boyle)
Diane
Baker (Sen. Ruth Martin)
Kasi
Lemmons (Ardelia Mapp)
Roger
Corman (Hayden Burke)
Paul
Lazar (Pilcher)
Chris
Isaak
George
A. Romero
Schrei
in der Stille
REFLECTING
SKIN
USA
/ Kanada – 1990 – 95 min. – Verleih: atlas, atlas (Video) – Erstaufführung:
6.6.1991/27.11.1991 Video/14.6.1992 RTL plus – Produktionsfirma: Fugitive Features/Zenith/British
Screen/Canadian Film Commission – Produktion: Ray Burdis, Dominic Anciano
Regie:
Philip Ridley
Buch:
Philip Ridley
Kamera:
Dick Pope
Musik:
Nick Bicât
Schnitt:
Scott Thomas
Darsteller:
Viggo
Mortensen (Cameron Dove)
Lindsay
Duncan (Dolphin Blue)
Jeremy
Cooper (Seth Dove)
Sheila
Moore (Ruth Dove)
Duncan
Fraser (Luke Dove)
Ein
Engel an meiner Tafel
AN
ANGEL AT MY TABLE
Neuseeland
– 1990 – 158 min. – Verleih: Pandora, Matthias (16 mm), Arthaus (Video) – Erstaufführung:
25.4.1991/25.4.1994 arte/2.5.1994 Video – Produktionsfirma: Hibiscus/New Zealand
Film Commission/Television New Zealand/ABC/Channel 4 – Produktion: Bridget Ikin,
John Maynard
Regie:
Jane Campion
Buch:
Laura Jones
Vorlage:
nach der Autobiografie von Janet Frame
Kamera:
Stuart Dryburgh
Musik:
Don McGlashan, Peter Iljitsch Tschaikowski, Franz Schubert
Schnitt:
Veronica Haussler
Darsteller:
Kerry
Fox (Janet Frame)
Alexia
Keogh (Janet als Kind)
Karen
Fergusson (Janet als Jugendliche)
Iris
Churn (Mutter)
Kevin
J. Wilson (Vater)
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