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Vom Meister lernen

 

Keinem Filmemacher wurden mehr Untersuchungen und Analysen gewidmet als dem Master of Suspense: Eine Rutschpartie durch das Spiegelkabinett der Hitchcock-Theorie zwischen Götterverehrung und Entzauberungsversuchen.

 

Die Filmtheorie-Geschichte der letzten fünf Dekaden lässt sich auch als Hitchcockthriller denken: Da gibt es plötzliche Wendungen, folgenschwere Täuschungen, Verfolgungsjagden über wechselndes Terrain und undurchschaubare Doppelagenten. Und der Schatz, die Formel, der MacGuffin, hinter dem sie alle her sind: Das ist das Werk von Alfred Hitchcock.

 

Der Anfang der Geschichte ist wohlbekannt: Im Paris der fünfziger Jahre beschließt eine hollywoodverrückte Bubenbande, versammelt um die „Cahiers du Cinéma“, dass der Filmemacher Alfred Hitchcock mehr wäre als ein trivialer Spannungsmechaniker: Für den Mittzwanziger François Truffaut war Hitchcock ein ebenso unnachgiebiger Moralist wie Formenschöpfer: kein Studiohandwerker, sondern ein Künstler von Weltrang, der mit den Mitteln des Konfektionskinos seine höchstpersönlichen Obsessionen verfolgte. In ihrer wegweisenden Monographie von 1957, dem wohl ersten konzentrierten Akt intellektuell abenteuerlustiger Hitchcock-Exegese, deuten die Kritikerkollegen Claude Chabrol und Eric Rohmer den verehrten auteur gar als durch und durch katholischen Philosophen der Erbsünde: Noch heute kommt kaum eine Hitchcock-Studie am Motiv der „Schuldübertragung“ vorbei, das die beiden aus des Meisters Werk heraus präparierten.

 

Die Behauptung, der Master of Suspense hätte bis dahin in der Öffentlichkeit bloß „als eine Art Suppenfabrikant“ gegolten (so „Cahiers“-Nachfahre Serge Daney), ist allerdings bereits die erste falsche Fährte in der Hitchcock-Story: Seit seinen ersten Regiearbeiten Mitte der Zwanziger hatte sich der untersetzte Brite mit erstaunlichem Durchhaltevermögen einen Ruf als begehrter A-Regisseur erarbeitet und erhalten – und zwar nicht zuletzt mithilfe der Kritik. Bereits in den 20ern hatte er in Grundsatzreden immer wieder betont, wie unverzichtbar das Wohlwollen der Kritiker für einen Regisseur sei, um sich als Marke gegen den Druck der Produktionsfirmen durchzusetzen: Hitchcock hat seine Exegeten immer schon mitbedacht.

 

Das Presseurteil blieb aber zwiespältig: Als „der Welt besten Regisseur unbedeutender Filme“ bezeichnete Hitchcock bereits 1930 der Kritiker und Dokumentarfilmvisionär John Grierson. Dieser Befund – brillante Form, wenig Substanz – war es, gegen den sich die thematischen Analysen der französischen Hitchcockianer wandten, mit Erfolg: Truffauts erstmals 1966 herausgegebener Interviewband „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ ist nach wie vor eines der zwei, drei berühmtesten Filmbücher überhaupt.

 

Seit der französischen Öffentlichkeitsarbeit ist zumindest in der Filmtheorie nicht mehr daran zu rütteln, dass Hitchcocks Schaffen von fundamentaler Bedeutung für ein Verständnis von Kino überhaupt ist – auch wenn dieses Verständnis nicht immer ein positives war: Für die marxistisch-strukturalistischen film studies der 70er Jahre war es genau Hitchcocks exemplarische Meisterhaftigkeit, an der sich die ideologischen Fallen des patriarchalisch-kapitalistischen Mainstreamkinos schlechthin festmachen ließen.

 

Wie seine Filme ihr Publikum ganz und gar in ihre Erzählung einwickeln, ihm Identifikationsfiguren zuweisen und wieder entziehen, das machte sie (etwa in den detaillierten Zerlegungen von Raymond Bellour) zu perfekten Beispielen ideologischer „Anrufung“ nach Louis Althusser: der Regisseur als omnipotenter Fädenzieher und Verführer.

 

Währenddessen kritisierten feministische Theoretikerinnen, dass Hitchcocks durchbohrende Kamerablicke und seine Gewaltobsessionen (lehrbuchhaft verdichtet in der Duschszene von „Psycho“) meist auf Kosten der Frauen gingen. In Laura Mulveys „ Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (1975), einer Gründungsurkunde feministischer Filmtheorie, nimmt Hitchcocks „Vertigo“ dann auch eine Schlüsselrolle ein: als Beispiel dafür, wie sich das illusionistische Erzählkino weibliche Figuren gefügig macht oder bestraft.

Die pauschale Vorstellung, Hitchcock würde von feministischer Seite seither als misogyner Dreckskerl abgetan, ist freilich nicht einmal zur Hälfte wahr: Zahlreiche feministisch informierte Analysen (beispielhaft: Tania Modleskis spannende und äußerst lesbare Studie „The Women Who Knew Too Much“) haben sich inzwischen bemüht, die hitchcockianische Sexualpsychologie in ihrer vertrackten Widersprüchlichkeit zu erschließen. Selbst in Mulveys feministischer Kriegserklärung nimmt „Vertigo“ eine zwiespältige Rolle ein: halb Ausdruck männlicher, sadistisch-fetischistischer Blicklust, halb kritische Reflexion darauf.

 

„Warum sollen wir Hitchcock ernst nehmen?“ Diese Frage, die der britische Filmkritiker Robin Wood 1965 noch an den Anfang seines auteuristischen Meilensteins „Hitchcock’s Films“ stellte, ist ob der schieren Menge an Hitchcock-Literatur inzwischen obsolet. Hans J. Wulffs Bibliographie „All About Alfred“ kam Ende der Achtziger auf fast 3000 Artikel und Bücher zu Leben und Werk des Filmemachers, 70 davon allein zu „Psycho“. Das anhaltende wissenschaftliche Interesse hat wohl auch damit zu tun, dass kaum eine andere Karriere derart anschaulich durch die Filmgeschichte führt, vom Stummfilm bis zur Fernsehsendung. Als Kronzeuge und Agent medienkultureller Veränderung war Hitchcock zuletzt auch in Diskussionen zum zeitgenössischen, postklassischen Kino präsent: Etwa, wenn Linda Williams untersucht, wie der Urschocker „Psycho“ sein gefügiges Publikum ins Horrorfilmkreischen einlernte. Oder wenn Gilles Deleuze an zentraler Stelle seiner Kino-Philosophie beschreibt, wie Hitchcocks hoch vernetzte „mentale Bilder“ das klassische Handlungskino an seine Grenzen trieben.

 

Für die unerhörte Anziehungskraft von Hitchcocks Bildern hat Slavoj Žižek, Kulturtheoretiker-Popstar und seit Mitte der 90er Hitchcockianer der Stunde, eine nicht unplausible Antwort gefunden: Gerade die völlige Bedeutungsleere typischer Hitchcockmotive (aufwärts tastende Hand, Auto am Abgrund) würde seine einzigartige Handschrift ausmachen und zum peniblen Durchinterpretieren verleiten. Dass das selbst schon wieder eine Interpretation ist, weiß Žižek selber. Aus dem Hitchcock-Labyrinth führt kein Weg nach draußen.

 

Joachim Schätz

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.falter.at

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