zur startseite
zum archiv
zu den essays
Der
Gott der kleinen Räume
Vor 25 Jahren, am 29. April 1980, starb Alfred
Hitchcock. Für den Regisseur war Intimität im Kino erstens eine Einstellungsfrage,
zweitens eine des Dekors. Nicht nur in seinen vier „Kammerspielfilmen“ vermochte
er dem Publikum die Liebe, die Gewalt, das Drama auf engstem Raum nahe zu bringen.
Ingrid Bergman und Cary Grant
war er eher peinlich: der vielleicht längste Kuss der Filmgeschichte. Was
als zärtliche Umarmung auf die Leinwand kam, waren bei den Dreharbeiten
zwei Schauspieler im Würgegriff ihres Regisseurs. „Ob ihr euch wohlfühlt
oder nicht, das ist mir egal,“ soll Alfred Hitchcock zu seinen genervten Stars von „Notorious“ (1946) gesagt haben,
„mich interessiert nur der Effekt auf der Leinwand.“ Ein höchst sinnlicher
Effekt, auch für den heutigen Zuschauer. Auf dem Balkon ihres Appartements
fängt das Paar mit dem Küssen an. Die Skyline von Rio verschwimmt
vergessen im Hintergrund. Die Kamera bleibt im Close-Up an den Liebenden, während
sie übers Abendessen reden und sich küssend durchs Wohnzimmer bewegen,
zum klingelnden Telefon. Grant klärt Geschäftliches, herzt seine Partnerin
dabei weiter, dann muss er ins Büro. Hitchcock drehte die Bewegung vom
Balkon zur Wohnungstür ohne Zwischenschnitt. Eine Einstellung, die zweieinhalb
Minuten dauert.
Die Illusion von Intimität – Hitchcock übertrug
sie später auf seine Mordszenen – ist nicht nur eine Frage von Einstellungslänge
und Großaufnahme. Es ist die Inszenierung, das Licht, es sind die sanften
Kreise, die Hitchcocks Kamera um ein Paar zieht, in „Notorious“ oder später
in „Vertigo“. Unvergesslich bleibt die 360-Grad-Schraube um
James Stewart und Kim Novak, während sich der Raum vom Hotelzimmer zum
historischen Pferdestall wandelt. Zeit und Ort verunklaren, der Bildkader wird
zur Blase, in der nur die Liebenden existieren. „Der Kameramann weiß genau,
dass ich keine Luft um die Figuren herum und über ihren Köpfen haben
will“, sagte Hitchcock zu Truffaut und fügte hinzu: „Wenn ich Luft will,
sag´ ich´s.“
Natürlich überspitzt Hitchcock hier, als
gäbe es in seinen Filmen nur Großaufnahmen. Aber besonders in den
Agententhrillern „The
39 Steps“ (1935), „Saboteur“ (1942) oder „North
by Northwest“ (1959) hätte Hitchcock
eine permanente Nähe zum Protagonisten nicht durchhalten können. Mitfühlende
Großaufnahmen kontrastieren mit kalten Rundblicken auf weite Landschaftsräume,
in denen der Held wie verloren wirkt. Am Schluss von „North by Northwest“ leistet
sich Hitchcock ein ironisches Doppelspiel mit Einstellungsgrößen:
Sein Held kraxelt wie geschrumpft zwischen steinernen Präsidentengesichtern
herum, die in den Mount Rushmore gehauen sind. Hitchcock filmt Cary Grant im
Panoramaformat und George Washington in Großaufnahme. In einer Einstellung.
In seinen filmischen Räumen arbeitet Hitchcock
gern mit Größenverzerrungen, hintersinnigen Details, doppelten Böden.
Wie seinem Vorbild F. W. Murnau gelingen ihm expressive Wirkungen mit vorwiegend
realistischen Mitteln. Eines seiner Lieblingsmotive ist das des goldenen Käfigs:
Ingrid Bergman muss im Verlauf von „Notorious“ einen Nazi heiraten und lebt
dann in seiner noblen Villa. Dort spioniert sie zusammen mit Cary Grant den
Gatten aus. Der kommt ihr schließlich auf die Schliche. Bergman sitzt
nichts ahnend in der Falle. Hitchcock ließ eine barock-überladene
Wohnzimmerdekoration bauen. Die folgende Szene demonstriert, wie er die Plausibilität
von Räumen den Regeln des Suspensekinos unterordnet: Wir sehen die Bösen
in einer Einstellung – den Nazi-Ehemann und seine furchtbare Mutter –, vereint
in heimlicher Mordlust. Bergman sitzt ihnen gegenüber, in einem monströsen
Sessel, der sie optisch vom Umraum isoliert. Als sie begreift, dass sie vergifteten
Kaffee getrunken hat, steht sie auf, voller Panik, um das Zimmer zu verlassen.
In diesem Spannungsmoment verschiebt Hitchcock seine Figuren im Raum und verschleiert
das durch Schuss-Gegenschuss-Montage. Bergman wankt geradeaus zu einer Tür,
zu der sie logischerweise gar nicht gelangen kann. Das böse Paar baut sich
vor einer zweiten Tür auf, die korrekterweise in einem anderen Winkel erscheinen
müsste. Hitchcock biegt die Raumkoordinaten nun zu einer schnurgeraden
Achse: erste Tür, Heldin, böses Paar, zweite Tür. Zusätzlich
wechselt das Licht, sodass die Bösen an Bergmans Tür einen Schatten
werfen. Das Opfer „sieht“ seine Peiniger also vor und hinter sich. Die Blicke
konstruieren den Raum.
Manchmal gewährt Hitchcock seinen Zuschauern
einen exklusiven Blick. Das sind nicht nur die Gottesperspektiven von oben auf
die Topographie eines Raums. Ein auktoriales Kabinettstück gelang Hitchcock
in „Strangers
on a Train“ (1951). Dort inszenierte
er eine Suspenseszene aus der Kanalrattenperspektive. Dem schurkischen Bruno
ist ein Feuerzeug in den Gulli gefallen, er muss es schnellstmöglich herauskriegen.
Hitchcock setzt die Kamera in den dunklen, engen Schacht und zeigt uns, was
kein Mensch sehen kann: Wir sehen Brunos Hand, die nach dem Feuerzeug fingert,
das ihm zunächst einen Absatz tiefer rutscht, bis er es doch zu fassen
kriegt. Wir fiebern mit dem Bösen, eine aufregende Szene, gleichzeitig
eine kühne Metapher. Denn das Feuerzeug steht symbolisch für Brunos
Gegenspieler Guy. So zeigt Hitchcock einen Cliffhanger im Kleinen – mit homosexuellen
Untertönen. Hitchcock dreht hier das Grundmuster aus „Young and Innocent“
(1937) um: Der Mann reicht der Frau die Hand und zieht sie aus dem Abgrund.
In „Strangers on a Train“ verdreht Hitchcock das Motiv und inszeniert es in
der Nusschale.
Er liebte das Drama auf engstem Raum: Schon sein
vorletzter britischer Film „The
Lady Vanishes“ (1938) spielte über
weite Strecken in einer einzigen Zugdekoration. Im Jahr 1944 wagte der Regisseur
ein Experiment der radikalen Art: Ein Film, der ausschließlich in einem
Rettungsboot spielt. Während der reale Krieg über den Globus tobte,
steckte Hitchcock acht „Schiffbrüchige“ in eine Bootsattrappe im Studio-Wasserbassin
und inszenierte den Kampf der Kontinente auf dieser schwankenden Bühne.
„Lifeboat“ ist eine Parabel über die Uneinigkeit der
Alliierten und eine Warnung, die Nazis nicht zu unterschätzen. Nachdem
ein deutsches U-Boot ein amerikanisches Schiff versenkt hat, geht es selbst
unter. Es retten sich: eine zynische, attraktive US-Journalistin, ein deutscher
U-Boot-Kommandant, ein linker Heizer, ein rechter Warenhauskönig, ein strenggläubiger
schwarzer Steward, eine Krankenschwester, ein Schiffsfunker, ein schwer verletzter
Steuermann. Eine Beinamputation findet statt, ein Lynchmord, Liebe und Verrat,
Sonnenglut und Seestürme: Virtuos wechselt Hitchcock die Stimmungen und
setzt in ungewohnter Vielfalt Einstellungsgrößen und Kamerapositionen
ein. Der räumlichen Beschränkung musste Hitchcock der Regisseur mit
abwechslungsreicher Montage beikommen.
Bei seinem nächsten „Kammerspielfilm“, Hitchcocks
erster Eigenproduktion „Rope“ (1948) legte sich der Regisseur ein zusätzliches
Korsett an: „Rope“ spielt nicht nur in einer einzigen Appartementdekoration,
der Film ist zudem in nur einer Einstellung gedreht (mit wenigen kaum wahrnehmbaren,
technisch bedingten Schnitten). Die Beteiligen fanden die Dreharbeiten nervenaufreibender
als den fertigen Film. In der Tat wirkt die Geschichte um eine Cocktailparty
mit versteckter Leiche etwas schwerfällig. Schuld daran dürfte die
Drehweise sein. Der Zuschauer hängt am Gängelband einer hin- und herschwenkenden
Kamera, er merkt, dass Hitchcock ihn führen will und ist so eher von der
Technik gefesselt als vom Drama.
„Dial
M for Murder“ war dann der dritte
Hitchcockfilm mit reduziertem Schauplatz. Das Set ist eine Zweizimmerwohnung
in London, in der ein geldgieriger Ehemann den Gattinnenmord inszeniert. Grace
Kelly soll das Opfer einer Tötung „per Telefon“ werden und ersticht den
gedungenen Mörder in Notwehr. Hitchcock tat den Film später als Routinearbeit
ab, drehte allerdings die Mordszene mit einem ausgefeilten Sinn für räumliche
Dimensionen. Die vom Produzenten verlangte 3D-Technik nutzte Hitchcock für
eine seiner raffiniertesten Einstellungen (die auch ohne Stereo-Brille funktioniert):
Grace Kelly, schon halb erdrosselt, streckt dem Publikum ihre Hand entgegen,
bittet quasi um die rettende Waffe, eine Nähschere. Das Publikum wird in
den symbolischen Raum des Dramas hineingelotst.
Der filmischen Fingerübung folgte Hitchcocks
fesselndstes, komplexestes Ein-Raum-Drama: „Rear
Window“ (1954) ist die Apotheose
des hitchcockschen „Kammerspielfilms“. Die Kammer wurde allerdings zum gigantischen
Studioset erweitert: Der künstliche, in Greenwich Village situierte Hinterhof
erstrahlte im Sonnenlicht von 1.000 Starkstromlampen. Die Paramount-Leitung
erlaubte dem Regisseur sogar die raumschaffende Demontage des Studiofußbodens,
damit der Garten im Kellergeschoss des Ateliers angelegt werden konnte. „Rear
Window“ ist ein Mikrokosmos, ein Dutzend Filme in einem. In der Riesenpuppenstube
gegenüber von James Stewarts Wohnung erzählt Hitchcock Episoden von
hoffnungsvollen, erträumten oder gescheiterten Paarbeziehungen. In den
kleinen Geschichten spiegelt sich die Hauptstory des Protagonistenpaars, gespielt
von James Stewart und Grace Kelly. Sie meinen, einen Mörder bei der Beseitigung
seiner Spuren beobachtet zu haben. Der guckt am Schluss zurück und will
dem Zeugen an den Kragen. James Stewart, der mit seinem Gipsbein nicht aus der
Wohnung herauskommt, sitzt in der Falle.
„Wir sitzen alle in unserer privaten Falle“, sagt
Norman Bates in „Psycho“, „wir sind wie die Ratten, wir kratzen und schlagen,
aber nur in die Luft oder uns gegenseitig. Wir kommen der Freiheit dadurch nicht
einen Zentimeter näher.“ Eine pessimistische Deutung des Lebens – als Sackgasse.
Sie prägt die kleinen Räume in Hitchcocks Spätwerk: Denken wir
nur an die Dusche in „Psycho“: Dead End für Marion Crane. In „The Birds“ (1962) sperrte Hitchcock dann Tippi Hedren in eine
Telefonzelle, die von allen Seiten attackiert wird. Das flüchtende Liebespaar
in „Torn
Curtain“ (1966) findet Unterschlupf
in der Kostümkiste einer reisenden Theatertruppe und wird darin um ein
Haar von Kugeln durchsiebt. Zur fast tödlichen Falle wird auch das Auto
für das Protagonistenduo in Hitchcocks letztem Film „Family Plot“ (1974).
Auf abschüssiger Serpentinenstrecke versagen die Bremsen. Hitchcock macht
daraus die Persiflage einer Liebesszene: Der Mann versucht zu lenken, die Frau
– sie hat sich zuvor über mangelnde Zuwendung beschwert – klammert sich
an ihn. Liebeshunger und Todesgefahr auf engstem Raum. In „Notorious“ hatte
Hitchcock solche Momente noch romantischer inszeniert.
Jens Hinrichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: film-dienst 10/2005
zur startseite
zum archiv
zu den essays