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Kino
des Ungeheuerlichen
Die Filme von Werner Herzog
Im
Neuen Deutschen Film markierte er so etwas wie eine Außenseiterposition
– mit seiner Vorliebe für Figuren, die bigger than life sind, und mit seinen
aufgeheizten, extremen Bildern. Im Februar kommt Werner Herzog mit „Bad Lieutenant“
bei uns ins Kino. Und er besucht die Berlinale – als Präsident der Internationalen
Jury. Norbert Grob über das Werk des großen Exzentrikers
Werner Herzog ist ein Visionär des Ungeheuerlichen. Er liebt
die Besessenen, die Getriebenen, die Waghalsigen, er liebt die Eiertänzer,
die Feuerschlucker, »die Exzentriker auf der Kippe zum Wahn« (Bernd
Kiefer). Er liebt die Magier, die Titanen, die »Hirten der Sonne«.
so der Titel seiner Arbeit über die afrikanischen Wodaabe.
Herzogs Filme sind voller Figuren, die – ob sie gewinnen oder
verlieren – stets bei ihrer Sache bleiben und immer aufs Neue aufbrechen ins
Reich des Unmöglichen. Erzählt wird von Blinden und Gehörlosen,
von Kleinwüchsigen und Findlingen, von Skifliegern, Schuhfressern, Bergsteigern,
von Eroberern, Hellsehern und Träumern, von fliegenden Ärzten in Kenia,
Tansania und Uganda, von Nomaden am Südrand der Sahara, Artisten und Gauklern
in Udaipur.
So extrem der Anspruch, so maßlos das Tun: Ein Soldat, der
weitgehend verstummt ist, erklärt von einem Tag zum anderen der ganzen
Welt den Krieg. Ein Conquistador behauptet, den spanischen König abgesetzt
zu haben. Ein Sportler dünkt sich in den vollbesetzten Arenen als Opfer,
da »50 000« darauf warteten, dass er »zerschelle«. Ein
Hirte kämpft gegen einen unsichtbaren Bären. Ein Mann mit gelben Haaren
lässt ein Schiff über einen Berg ziehen, mitten im südamerikanischen
Dschungel. Ein Sklavenhändler glaubt, ein Gott zu sein. Frauen suchen sich
auf einem mehrtägigen Fest einen schönen Mann, verschwinden mit ihm
»für ein paar Nächte im Busch« und bringen ihn wieder
zurück. Feuer werden auf den Ölfeldern am Golf mit Dynamit bekämpft.
Und ein Abenteurer will Mensch unter Bären sein, auch wenn er »an
jedem seiner Finger« den Tod riechen kann.
Die Bilder, die diese Abenteuer eher umspielen denn gestalten,
entwickeln eine ganz besondere Eigenständigkeit; sie spiegeln nichts, sie
geraten selbst ins Delirieren. Mal kommen sie ins Schlingern und Schweben, als
habe die Erde ihre Schwerkraft verloren, mal verfallen sie der rasanten Übersteigerung,
als sei die Welt aus allen Fugen geraten. So wird die Kamera (mal von Thomas
Mauch, mal von Jörg Schmidt-Reitwein) zu einer hypnotischen Apparatur.
Plötzlich ist zu sehen, wie Sternenwelten »in grandioser Schönheit«
zusammenbrechen. Wie »beim Warten« die Jahre vergehen. Wie fliehende
Wolken als reißende Flüsse am Horizont erscheinen. Und wie selbst
die Erde zu kochen und alles ineinander zu stürzen beginnt. Immer geht
es, vor allem in den Siebzigern und frühen Achtzigern, um die einzigartige
Besonderheit, die mythische Kraft gewinnt. Ausgangspunkt dafür: die Schauplätze,
die meistens entrückt und unerhört sind, und lange Blicke darauf,
die das Handeln der Menschen mit Nachdruck erfassen, auf dass die Qualität
der Geschehnisse auch der Qualität der Schauplätze entspricht. Die
Sehweise in seinen Filmen, sagt Herzog, sei »eine archäologische«,
weil ihn »die Dinge weniger von ihrer Oberfläche her interessieren,
sondern erst dort, wo sich unter ihnen Risse auftun«.
Aberwitziges
Schon in Lebenszeichen (1967) ist Herzog weder auf ein Genrebild aus noch auf erzieherische
Wirkungen beim Zuschauer. Auch an der Geschichte, die er erzählt, ist er
nicht sonderlich interessiert. Ihm geht es allein um die Faszination, die von
den Personen und Dingen, den Dörfern und Landschaften der griechischen
Insel Kos ausstrahlt. Die innere Linie des Films folgt einer poetischen Vision:
dem Aberwitz der absoluten Verlorenheit inmitten ungewöhnlicher Sicherheit,
der extremen Tat auf extreme Untätigkeit. Der Soldat Stroszek wird – nach
einer Kopfverletzung im Kampf – nach Kos versetzt, um das alte venezianische
Kastell zu bewachen, dort aber dreht er plötzlich durch, wirft Frau und
Kameraden aus der Burg und schießt mit Kugeln und Raketen los. Seine Rede
dazu: »Man muss Licht mit Licht bekämpfen. Oder eine Stadt ist nur
wie eine sich nach Vergewaltigung sehnende Jungfrau.« Herzog nimmt den
Amoklauf als Parabel auf das Kontrapunktische allen Tuns: auf die Enge in der
Weite, das Dunkle im Hellen, auf das Kontemplative im Aktiven. Auch darauf,
wie auf ein Übermaß an Duldung (Passivität) die Rebellion (Aktivität)
folgt, auf das Grandiose die Erbärmlichkeit.
Von Anfang an steht also Exotisches im Zentrum, Urbildliches,
Mythisch-Mystisches, auch Halluzinatorisches, dazu Grenzerfahrung und Untergangsvision.
Herzogs Helden machen sich auf den Weg, um die äußersten Grenzen
zu erreichen oder sogar zu überschreiten. Sie mögen sich irren oder
verlaufen, wichtig bleibt, dass sie um keinen Deut ablassen von dem, wonach
sie streben. Das Weltall ist »Un-Sinn«, aber jeder muss sich Wut
dagegen erhalten, um seine Chance zu wahren. Das Unmögliche soll angegangen
werden, auf dass nicht das Armselige triumphiert.
Wichtig dabei: Die Herausforderung zur Entgrenzung bleibt nie
nur Thema, sie ist integraler Bestandteil der Filmarbeit selbst. Was Herzogs
Figuren angehen, ist nicht nur Aufgabe für die Darsteller, sondern auch
für Regisseur und Team (für Kamera- und Tonleute im Besonderen). Für
Fata Morgana ist er 1968/69 mit seinen Technikern nahezu sieben Monate in
Afrika: in Kenia, Tansania, Algerien, Niger, Obervolta, Mali und an der Elfenbeinküste.
Danach dreht er im Grunde rund um die Welt: unter anderem in Peru, Mexiko, Australien,
Indien, Ost- und Nordafrika, Amerika, auf der Karibikinsel Guadeloupe und in
der marokkanischen Sahara. Ihn treibt es einfach, weit zu gehen, »gehen,
gehen, bis die Welt aufhört« – so sein Geständnis gegenüber
Reinhold Messner am Ende von Gasherbrum – Der leuchtende Berg (1984).
Schon vor einem Vierteljahrhundert, in Wenders’ Tokyo
Ga (1985), erklärte Herzog, als er eher durch
Zufall in Tokio auf seinen Freund und Kollegen traf: »Wir brauchen ganz
unbedingt Bilder, die mit unserem Zivilisationsstand und mit unserem Inneren,
Allertiefsten übereinstimmen. Da muss man eben dann notfalls auch mitten
in einen Krieg hineingehen oder wo auch immer es notwendig sein sollte. Ich
würde mich nie beklagen, dass das zum Beispiel manchmal schwierig ist,
dass man auch mal 8000 Meter hoch auf einen Berg steigen muss, um noch Bilder
zu bekommen, die noch rein und klar und durchsichtig sind. (…) Ich würde
auch auf den Mars fliegen oder den Saturn mit der nächsten Rakete, in die
ich einsteigen könnte.« Für Herzog gilt: Wer die Welt herausfordert,
darf nicht bloß Geschichtchen erzählen, er hat es mit allen Mitteln
durchzuführen – also Wirklichkeit werden zu lassen. Nur so wird der Irrealis
der Ideen in den Indikativ der Filme überführt.
Die Anekdote um Kinskis Flucht vom Set für Aguirre, der Zorn Gottes (1972) und Herzogs Drohung, er werde ihn erschießen, bevor
er abhauen könne, bleibt, ob sie nun so stattgefunden hat oder nur gut
erfunden ist, sinnbildlich für den Aberwitz herzogscher Imagination. Filme
zu machen, ist für Herzog lange Zeit eine prometheische Kunst. Er will
den Menschen das Feuer bringen; dafür ist er dann auch bereit, von seinen
Göttern auf ewig an den Felsen gekettet zu werden.
Über Herzogs Verhältnis zu Klaus Kinski, seinem »liebsten
Feind«, ist viel geredet, viel geschrieben, viel gefilmt worden. Eine
Verbindung zwischen Aberwitz und Wahn, wie bekannt. Deshalb an dieser Stelle
nur kurze Hinweise. Für Kinskis filmische Performances war es – und dies
sogar in seinen dritt-, viertklassigen Genrefilmen – charakteristisch, dass
er sich besonders schmückte: mit einem augenfälligen Kostüm,
einer pompösen Frisur, einem absonderlichen Requisit. Stets sollte äußerlich
sichtbar werden, dass da einer auch im Innersten außergewöhnlich
ist. In den Filmen für Herzog ist dieses Prinzip beibehalten: Rüstung
und Helm in Aguirre, das weiß geschminkte Gesicht in Nosferatu (1979), die kurzen Stoppelhaare in Woyzeck (1979), die gelben Haare und der weiße Anzug in Fitzcarraldo (1982); nur sind Gestik und Mimik von größerer Differenziertheit
und Finesse. Bei Herzog, so Georg Seeßlen, »ist Kinski der Mensch,
der zum Äußersten geht, an den Rand der Welt, der Wahrnehmung, der
Sprache und des Lebens«. In gewisser Weise gelingt da etwas Abenteuerliches.
In den mal besessenen, mal eher monströsen Figuren schimmert nuanciert
durch, was sie beseelt und verletzt, was sie treibt und kränkt. So ist
stets etwas Doppeltes geboten: Gestaltung und zugleich Herausforderung, Darstellung
und zugleich Reflexion.
An Grenzen
Wichtige Strategien: die langen Blicke in die Welt, mal starr,
mal sorgfältig bewegt, Blicke, die nicht enden wollen, bis sie zu Einblicken
ins Innerste werden. In Fata Morgana (1970): all der Zivilisationsmüll
inmitten einer paradiesischen Weite, »Stoff für Träume und Ängste«
(Alf Brustellin), Flugzeug- und Autowracks in der Sandwüste, einige auf
dem Dach liegend, verfallene Gebäude, verbrannte Erde, dazwischen auch
unzählige Tierkadaver; einmal singt Leonard Cohen »So long, Marianne«.
In La Soufrière
(1977): die verlassene Stadt Bas-Terre, menschenleer, »gespenstisch wie
ein Science-Fiction-Ort«, in der aber noch die Ampeln regelmäßig
schalten, die Telefonzellen funktionieren und da und dort die Aircondition,
die Kühlschränke und die Fernseher; »die Straße gehört
den Tieren«: Schweinen, Eseln, Hühnern, Hunden. In Jag
Mandir (1991): die Paläste des Maharadschas
von Udaipur, die im Wasser seines Sees zu versinken drohen, am Anfang aber in
ihrer majestätischen Größe gefeiert werden. In Lektionen
in Finsternis (1992) schließlich: die zerstörten,
zerbombten Stätten der Zivilisation und danach die brennenden Felder, als
sei die Hölle auf Erden ausgebrochen.
Andererseits die zugeneigte Sicht auf Menschen und ihre so fremden
Obsessionen. In Im Land des Schweigens und der Finsternis (1971): auf die blinde Frau, die einen unbekannten Baum abtastet
und, als ihr erklärt wird, es sei ein Bambus, erstaunt bemerkt, Bambus
habe sie sich aber ganz anders vorgestellt. In Aguirre: auf den zornigen Conquistador und seine Reise zum goldenen Paradies
El Dorado, die zur Irrfahrt wird auf einem Fluss ohne Wiederkehr; wobei einmal
mitten in der Wildnis ein Segelschiff zu sehen ist, hoch oben in einem Baum.
In Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner (1974): auf den Skispringer und seine Vision vom freien Fliegen,
von Herzog in der Zeit extrem gedehnt. In Jeder für sich und Gott gegen alle (1974): auf die rettende Mühe um Kaspar, dessen natürlicher
Witz alle Ordnung auseinanderreißt, politische, religiöse, philosophische;
auch auf den Traum davon, dass ein Mensch den anderen Menschen nicht ein Wolf
ist. In Nosferatu: auf Lucy und ihre Selbstopferung, um das Böse aus der Welt
zu schaffen, während sie übersieht, dass es im eigenen Haus gerade
neu geboren wurde. In Fitzcarraldo schließlich: auf den »Eroberer des Nutzlosen«,
der an seine Utopie von der Oper mitten im Urwald glaubt, dafür aber zunächst
die Wildnis besiegen muss; er scheitert schließlich daran, weil die Eingeborenen,
die für ihn arbeiten, andere Visionen haben.
Herzog rekonstruiert die Ereignisse nicht, er sucht sie in der
Fremde zu entdecken, das heißt, er setzt unwirtliche Orte in Szene, als
könne nur dort das Ungeheuerliche passieren, und erfasst sie dann präsentisch,
also im Moment des Geschehens selbst. Wobei er seine Darsteller nicht dirigiert,
um sie nach seinem Bilde zu ordnen, sondern sie in ihrem jeweiligen Zustand
bestärkt, um sie mit ihrem Wahn, ihrer Ekstase, ihren Erregungen neu zu
erkennen.
Einen existentialistischen Impuls hat Thomas Koebner in Herzogs
Werk konstatiert: »Grenzsituationen ziehen ihn magisch an, Widerstände
gleich Berge, die man konkret überwinden muss, die Herausforderung der
Natur, die immer noch übermächtig zu sein scheint, (…), die Erfahrung,
dass man etwas aushalten muss, um zu sich selbst zu kommen, ohne Plage keine
Erleuchtung.« Die Welt herausfordern, um sie neu zu entdecken, um sich
immer aufs Neue an ihr zu messen, das hat ohne Zweifel etwas Existenzialistisches,
aber es ist bei Herzog stets gepaart mit Selbstentäußerung und Sendungsbewusstsein.
Ungesehenes
In seinem späten Film Grizzly Man (2005), in dem er das Filmmaterial des Bärenmenschen Timothy
Treadwell ordnet und ausbaut, bemerkt Herzog, dass »scheinbar leere Momente«
oft »eine seltsame, geheimnisvolle Schönheit haben«. Bilder
entwickelten »manchmal ein Eigenleben« und würden »selbst
zum Star«. Selbstverständlich ist dies auch ein Verweis auf die eigene
ästhetische Intention.
Bilder, die selbst zum Star werden, sie sind in Herzogs Œuvre
Folge zweier Strategien: zum einen durch Entdeckung von unbekannten Tatsachen
(weil Teil von fernen Kulturen), gleichzeitig zum anderen aber auch durch Verwunderung
vor dem Fremden im Allseits-Bekannten (weil Teil des Ungeschauten in der eigenen
Kultur); beide Strategien sind im Bresson’schen Sinne »als Entdeckungsreise
auf einem unbekannten Planeten« zu verstehen.
Der »Laubfrosch«
Man mag Herzogs Filme bewundern oder ablehnen, entgehen kann man
ihnen nur mit Ignoranz. Doch niemand kann ihm absprechen, Bilder mit seinen
Kameraleuten entworfen zu haben, die so nie zuvor zu sehen waren. Die Ankunft
mehrerer Jets, aus Distanz fotografiert, starr, frontal von vorne, in Fata Morgana. Die erregende Kreisfahrt am Schluss von Aguirre, die wirbelnd anzieht, weil alles dahingeht und doch nicht endet;
der Conquistador blickt noch immer wild nach vorne. Das abenteuerliche Schauspiel
der Natur zu Beginn von Herz aus Glas, wenn die Wolken in die Berge ziehen und ins Rasen kommen, als
bildeten sie einen Fluss zwischen den Wäldern an den Hängen; dazu
die Worte des Hirten Hias: »Der Rand der Welt fängt an zu stürzen.«
Die weißen Dämpfe, die aus dem Vulkan Soufrière in den Himmel steigen, so schnell, als könnten sie nicht
rasch genug fliehen; dazu Herzogs Stimme: »Die Erde bebt überall!«
Das angeschlagene Schiff, leicht zur Seite geneigt, am Ende von Fitzcarraldo, auf dem das Opernensemble aus Manau ein Stück aus Bellinis
»I Puritani« gibt – und so das ökonomische Scheitern verwandelt
in einen musikalischen Triumph. Schließlich das letzte Bild in Wodaabe (1990), wo ein Nomade sein Dromedar über eine Brücke
zieht, aus größerer Entfernung gegen die abendliche Sonne aufgenommen,
so, als nutze er seine mythische Bindung an die Natur, um danach selbstbewusster
den Unbilden der Zivilisation zu trotzen.
Beispielhaft für Herzogs Kino generell: eine Episode aus
Jeder für sich und Gott gegen alle. Da stellt einer – deutlich als Wichtigtuer charakterisiert –
eine Frage, auf die es scheinbar nur eine einzige Antwort gibt. Es geht um die
Frage an den Wanderer an einem Kreuzweg, ob er aus dem Dorf der Lüge oder
dem der Wahrheit komme. Der Logiker behauptet, die Lösung könne nur
durch doppelte Negation erzielt werden. Also durch die Frage, ob er mit Nein
antworten werde, wenn er gefragt würde, ob er aus dem Dorf der Lügner
kommt. Kaspar Hauser, Herzogs Heros dagegen: Es würde doch genügen,
ihn einfach zu fragen, »ob er ein Laubfrosch ist«.
In gewisser Weise funktioniert das Knüpfwerk unter Herzogs
meisterlichen Filmen ganz ähnlich. Eine Ausgangssituation wird entworfen,
diffizil in Anspruch und Atmosphäre, ambivalent in Konstruktion und Konflikt,
wenn auch einfach im Thema. Dann scheint es im weiteren Verlauf so, als könne
es nur einen Weg geben: mal den in die Katastrophe, also ins grandiose Scheitern;
mal den in die Ergebung, also ins resignative Überleben.
Doch schließlich gibt es eine wundersame Zuspitzung, die
alles, was zuvor zu sehen war, auf eine selbstverständliche Ebene hebt.
Herzog stellt in gewissem Maße die Laubfrosch-Frage – und findet dadurch
zu einer (nahezu) heiligen Klarheit. Die Freiheit der Anarchie in Auch Zwerge haben klein angefangen (1970), nachdem die »kleinen« Zöglinge nicht
nur die Mauern ihrer Anstalt, sondern auch die Konventionen des feinen Essens
brechen. Die Annahme des eigenen Wahns in Aguirre, wenn der hybride Held auch dann nicht aufgibt, als seine Tochter
von einem Pfeil durchbohrt ist und die wilden Affen um ihn herum zu tanzen beginnen:
»Wenn wir das Meer erreichen, werden wir ein größeres Schiff
bauen und damit nach Norden segeln und Trinidad der spanischen Krone entreißen.«
Die Überwindung aller Feindseligkeit in Jeder für sich und Gott gegen alle, wenn Kaspar Hauser akzeptiert, dass er für die anderen
vor allem ein Problem ist: »Ja, mir kommt es vor, dass mein Erscheinen
auf dieser Welt ein harter Sturz gewesen ist.« Der allumfassende Ausbruch
von Wahnsinn in Herz aus Glas, als nicht nur der Fabrikant seine eigene Glashütte anzündet,
sondern auch der hellseherische Hirte Hias gegen unsichtbare Gestalten zu kämpfen
beginnt. Der definitive Entschluss in Stroszek (1977), die Niederlage zu akzeptieren, sie aber zuvor noch mit
einem karnevalesken Akt zu besiegeln, mit einem hoppelnden Kaninchen auf einem
Feuerwehrauto, einem tanzenden und einem Klavier spielenden Huhn, das alles
vor einer bunten Gondelbahn, kein Ausweg mehr, nirgends. Schließlich die
scheinbare Überwindung der Hindernisse in Fitzcarraldo, wenn das Schiff doch noch über den Berg geht und in den
anderen Fluss gleitet, beim Gesang von Enrico Caruso; auch wenn am Morgen danach
die Anstrengung zunichte gemacht ist, für kurze Augenblicke schien die
Utopie gelungen, das Unfassbare wahr geworden zu sein.
Immer das gleiche in den großen Filmen: das Ausreizen der
Situation, bis diese sich – durch Annahme oder Widerstand, durch Überwindung
oder Ausbruch – zuspitzend klärt. Herzog selbst dazu, 1978: Er gehe gerne
»bis an den Rand der Unwahrheit, um eine intensivere Form der Wahrheit
bloßzulegen«.
Was also bleibt? Vor allem Abenteuerliches, in Thema und Form.
Es gibt kein Maß, keine Scheu, aber das gilt für Herzog generell
(sogar für ihn selbst, wenn er zu Fuß nach Paris pilgert, um Lotte
H. Eisner die Ehre zu erweisen; oder wenn er mit seinen Kameraleuten vor dem
Vulkan La Soufrière darauf wartet, dass er ausbricht). Vielleicht ist
gerade dies sogar das Ungeheuerlichste in Herzogs Werk: Dass er in der Kontradiktion
zum Gewöhnlichen dem Titanischen auf die Spur kommt – im Übermaß
auch das Selbstverständliche, in der Weite auch das Nichts, im Übermenschlichen
auch das Schäbige. Noch einmal Lebenszeichen, dort heißt es am Ende, Stroszek trage aufgrund des Unmaßes
seiner Auflehnung titanische Züge und sei deshalb elend und schäbig
gescheitert, wie alle seinesgleichen. Dazu eine lange Kamerafahrt in eine weite
Landschaft, »wo man auf etwas wartet und es kommt einfach nichts, es bleibt
nur eine leere Ebene mit einer Staubfahne«.
Anderes
Mitte der 1970er Jahre hat Herzog einmal bekannt, ihn wundere
es, »dass andere Filmemacher Auswahl an Themen haben und sich überlegen,
welches Buch sie jetzt verfilmen sollten«. Er habe nie die Möglichkeit
besessen, dies oder jenes zu machen, »sondern eben nur dieses eine«.
In den letzten Jahren nun hat er mehrfach die Chance bekommen, diese oder jene
Stoffe zu verfilmen: so etwa Invincible für Fine Line Features und Warner Bros. (2001); Rescue Dawn für Top Gun Prod. und MGM (2006); zuletzt Bad Lieutenant (2009).
Hat dies jedoch den Visionen seiner Konzeption von Kino größere
Kraft verliehen? Eine Anregung dazu aus Grizzly Man. Da entschuldigt ein alter Freund die schrulligen Eigenarten
des Bärenmenschen, seine kleinen Lügen, seine Verstellungen. Auf dem
Land, wo er groß geworden sei, gebe es das Sprichwort: »Wenn es
die Kühe nicht erschreckt, wen interessiert’s?« Es ist die Umkehrung,
die auf Werner Herzogs Werk passt: Weil seine Filme erschrecken und stören!
Seine Filme erschrecken und stören die Kühe, und sie erschrecken und
stören die Menschen. Und das ist gut so!
Werner Herzog
Jahrgang 1942, wuchs auf einem Bauernhof auf, zog später
mit seiner Mutter nach München und soll schon mit 14 gewusst haben, dass
er Filme machen würde. In den Sechzigern studierte er Geschichte, Literatur
und Theaterwissenschaften, begann zu schreiben und zu inszenieren. Bereits für
sein Spielfilmdebüt Lebenszeichen (1967) wurde er mehrfach ausgezeichnet. Es folgten Klassiker
des Neuen Deutschen Films: Aguirre, der Zorn Gottes (1972), Kaspar Hauser – Jeder für sich und Gott gegen alle (1974), Stroszek (1977). Herzogs Vorliebe für extreme Außendrehs brachte
ihn 1982, mit Fitzcarraldo, ins Gerede. In den späten Achtzigern verlagerte sich sein
Fokus auf den Dokumentarfilm; dem deutschen Kino hatte er sich da schon entfremdet.
Weitere Filme: Land des Schweigens und der Dunkelheit (1971), Nosferatu: Phantom der Nacht (1979), Woyzeck (1979), Wo die grünen Ameisen träumen (1984), Cobra Verde (1987), Cerro Torre – Schrei aus Stein (1991), Mein liebster Feind – Klaus Kinski (1999), The Wild Blue Yonder (2005), Rescue Dawn (2006). Bad Lieutenant startet am 25.02.2010
Norbert
Grob
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd Film
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