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Hier, da, dort und weg

Sie rufen nicht Vergnügen, sondern Empörung hervor. Aber sind sie weniger manipulativ? Anmerkungen zum globalisierungskritischen Dokumentarfilm.

 

Krankenhäuser in Manila. Schlachthöfe in Nigeria. Schiffsabwracker an den Stränden Pakistans. Tomatengewächshäuser in Südspanien, fliegende Händler in Mexiko City, Schwefelbergwerke in Indonesien, ein Aufstand gegen die Privatisierung von Wasser in Bolivien. All das und noch viel mehr ist zu sehen in globalisierungskritischen Dokumentarfilmen der letzten Jahre. Im Versuch, das Unrecht der Welt vor Augen zu führen, ist der Dokumentarfilm selbst global geworden. Man ist hier, da, dort, dann gleich wieder weg. Der Zuschauer bekommt Namen, Eindrücke und Gesichter, Fetzen von Lebensgeschichten, Schlaglichter, Bilder, eine angedeutete Erklärung von Zusammenhängen hier, einen kurzen Verweis auf Kontexte da.

 

Im einfachsten Fall werden die Bilder so schlicht zu Illustrationen einer längst fertigen These. Das ist etwa in Florian Opitz’ kürzlich in unseren Kinos angelaufenem "Der große Ausverkauf" zu beobachten, der mit einem Autoritätszitat beginnt. Es spricht Joseph E. Stiglitz, der wegen seiner Neoliberalismuskritik gefeuerte einstige Chefökonom der Weltbank. In Großaufnahme beklagt er, dass die Wirtschaft längst abstrakt funktioniert, unter Absehung von Individuen und deren Schicksalen. Und der Regisseur versucht im Gegenzug, der Abstraktion Gesichter wiederzugeben; er führt in Einzelschicksalen vor, wohin die Privatisierung elementarer Lebensgüter führt. Eine These, ihre Illustration, dann auch Dokumente lokalen Widerstands: ein tapferer Trupp, der in Soweto die vom Versorger gekappten Stromkabel wieder anschließt, der erfolgreiche Kampf gegen die Privatisierung des Wassers.

 

Gleich drei in den letzten Jahren entstandene Filme führen mit etwas anderen Mitteln als Opitz vor, wie die Produktion und Verteilung von Lebensmitteln, also den heikelsten Gütern, aus dem Ruder läuft. Als katastrophisch erweisen sich dabei freilich, das macht Erwin Wagenhofers "We Feed the World" (2005) deutlich, sowohl das alles andere als neoliberale EU-Subventionierungsmodell als auch die globalisierungstypische Produktionsverlagerung in Billiglohngebiete. Wagenhofer rückt immer wieder Arbeiter vor Ort sowie Manager und Mitarbeiter der multinationalen Konzerne ins Bild. Einen Sonderstatus als Quasi-Stimme des Films bekommt Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und einer der Protagonisten der Globalisierungskritik.

 

Wo Wagenhofer nicht explizit wird, arbeitet er mit Suggestionen. Etwas ist aus dem Gleichgewicht, das sagen bereits die ersten Bilder von "We Feed the World". Tonnenweise wird in Wien täglich Brot überproduziert, und das, was sich nicht verkauft, wird in riesigen Lastern abtransportiert und entsorgt. Mit diesem Beginn scheint der Film nur zu dokumentieren und setzt doch schon ein absurdes und darum beinahe unwiderlegliches Bild. Er produziert, anders gesagt, schlagende Evidenz für die Widervernunft einer Logik, die weder dem Prinzip der Sättigung noch dem der gerechten Verteilung gehorcht. Dieser erste Eindruck bestätigt sich, wohin der Film sich auch bewegt. In den Tomatenplantagen im wasserarmen südspanischen Almeria, im brasilianischen Regenwald und auch im Porträt jener Konzerne, die den Landwirten in aller Welt ihr durchsetzungsfähiges, aber steriles Saatgut verkaufen.

 

In seiner Machart unterscheidet sich Nikolaus Geyrhalters Dokumentation "Unser täglich Brot" (2005) beträchtlich von Wagenhofers Film. Geyrhalter setzt ganz auf die Kraft seiner Bilder. Man sieht auch hier die Tomatenplantagen, die Tötungs- und Auswertungsfabriken, in denen Tiere scheinbar fast ohne menschliches Zutun von Lebewesen in Lebensmittel verwandelt werden. Klinisch nüchtern durchtrennen Maschinen die Kehlen, transportieren, was einmal lebendig war, auf Laufbändern durch menschenleere Hallen zum nächsten Verarbeitungsschritt. In den streng komponierten Bildern schlägt der Blick des Films aufs Unmenschliche jedoch unversehens in einen unmenschlichen Blick um. Die Kamera macht, je starrer und intensiver sie die Maschinen fixiert, diese selbst zum Faszinosum, in einer von Affirmation kaum noch zu unterscheidenden Mimikry. Und zwar, weil sie die eigene Auswahl, die Position des eigenen Blicks und die sorgfältige Komposition der Bilder wirken lässt, ohne sich oder dem Betrachter gegenüber noch Rechenschaft abzulegen über die Machart und Herstellung dieser Wirkung.

 

Auf einen einzigen Schauplatz konzentriert sich dagegen Hubert Sauper in seinem Film "Darwins Albtraum" (2004), der die Geschichte des Viktoriabarschs erzählt. In den Sechzigerjahren wurde der dort bis dahin nicht heimische Fisch im Viktoriasee ausgesetzt. Seither vermehrt er sich beständig und hat längst die Arten-Ökologie des Sees zerstört. Nur auf den ersten Blick sieht die Ansiedlung des Viktoriabarschs nach einer Erfolgsgeschichte aus. Der Fisch ist in den wohlhabenden Nationen beliebt und hält eine ganze Industrie in Tansania in Gang.

 

Tag für Tag werden riesige Mengen in Transportflugzeugen exportiert. Diese mitunter im Wasser und neben dem Flughafen bruchlandenden Flugzeuge sind das Leitmotiv des Films. Sie erscheinen als das Relais zwischen der lokalen Produktion unter katastrophalen Bedingungen und der globalen Konsumtion zu Schleuderpreisen. Die Fischindustrie als wichtigster Arbeitgeber vor Ort behandelt die Arbeiter selbst als Material, um das sich, wenn es verschleißt – also zusammenbricht, erkrankt oder stirbt – keiner mehr kümmert. Der Film gibt den auf ihr bloßes Leben und ihre Arbeitskraft Reduzierten eine Stimme, schwebt aber ständig in der Gefahr, sie in der Reduktion auf dieses Schicksal bei bester Absicht noch einmal für die eigene globalisierungskritische Generalthese zu funktionalisieren.

 

In eine ähnliche Falle tappen immer wieder auch die Filme von Michael Glawogger, der in "Megacities" (1998) und "Workingmans Death" (2004) die wohl ausgedehntesten Reisen in die Rand- und Verelendungszonen der Weltgesellschaft unternimmt. Wie kaum ein anderer Filmemacher zeigt Glawogger Interesse am arbeitenden Menschen, daran, wie miserabel bezahlte Knochenarbeit gerade mal die nackte Existenz sichert, von den Schwefelbergwerken Indonesiens zu Schlachthöfen in Nigeria und Schiffswrackzersägern an pakistanischen Stränden. Ausdrücklich gibt Glawogger den arbeitenden Menschen ihre eigene Stimme, lässt sie von ihrem Elend erzählen. Aber in diesen Szenen und erst recht bei der Beobachtung ihrer Arbeit setzt er sie oft allzu pittoresk ins Bild und blendet politische und ökonomische Kontexte im Interesse der Bildwirkung aus.

 

Wenn die Steadycam minutenlang den Arbeitern auf zerklüfteten Wegen durch Nebelschwaden beim Schwefelabbau folgt und das noch mit John Zorns Musik unterlegt wird, dann entfaltet es eine hypnotische Wirkung, die den Knochenjob ins ästhetisch Attraktive verfälscht. Man sieht mit Staunen und genießt, was für die Arbeiter die reine Hölle ist. Natürlich verschweigt Glawogger das nicht, natürlich kann man das wissen, natürlich wird man das nicht vergessen. Man muss aber kein Verfechter eines naiven Sozialrealismus sein, um festzustellen, dass hier etwas nicht stimmt. Die schwebende Leichtigkeit der Steadycam ist ein fundamental falsches Mittel – und dieser Widerspruch macht deutlich, dass im Dokumentarfilm jede kinematografische Entscheidung auch eine ethische, ja eine politische Dimension hat.

 

Die globalisierungskritischen Filme bewegen sich in einem Feld, in dem jede schnelle Evidenz als vermeintliche Selbst-Evidenz des Gezeigten problematisch ist. Denn natürlich gibt es auch im Dokumentarfilm Schauwerte und special effects. Sie rufen nicht wie im Unterhaltungskino Thrill und Vergnügen, sondern gerechten Zorn und Empörung hervor – sind deshalb aber nicht weniger manipulativ. Auch abseits der Agitdok-Methoden eines Michael Moore kann das Dokumentarkino zum Instrument werden, das vorgefertigte Ansichten und Gefühle reproduziert und verstärkt. Darin liegt einerseits seine Kraft zur Mobilisierung. Je einseitiger die Darstellung auf Ausbeutung und Elend fokussiert, desto wahrscheinlicher die aufrüttelnde Wirkung. Hubert Sauper etwa ist in "Darwins Albtraum" in der Wahl seiner Mittel wenig zimperlich. Ohne Scheu sentimentalisiert er den Mord, den einer der Flugzeugpiloten an einer Prostituierten begeht, indem er eine Szene, in der man sie unbeschwert singen sieht, nach ihrem Tod noch einmal vorführt. Aber gerade die starke Wirkung dieser Filme wird zum Problem, wenn allzu schnell das Einverständnis des Betrachters als selbstverständlich vorausgesetzt wird, Kontexte vereinfacht, Ambivalenzen unterschlagen werden.

 

Diesem Dilemma kann der Dokumentarfilm mit globalisierungskritischen Absichten nicht ausweichen. Es kann nur darum gehen, sich ihm offen zu stellen. Nichts ist schwieriger, als dem anderen – dem Ausgebeuteten – eine Stimme zu geben, die ihn nicht auf seinen Opferstatus reduziert. Jede Geste der Solidarisierung droht gleich zu machen, was nicht gleich ist. Einfache Lösungen gibt es in dieser Lage naturgemäß nicht. Aber die Bilder nicht einfach als Mittel zu nehmen zum Zweck, die Montage nicht als Zurichtung von Bildern zu Thesen zu begreifen, die eigene Position transparent zu halten, Zweifel zu haben am vermeintlichen eigenen Wissen, offen zu bleiben für die eigene Hilflosigkeit: Filme, die sich an diese Maximen hielten, sähen anders und im besten Sinne überzeugender aus als große Teile derjenigen, die man kennt.

 

Ekkehard Knörer

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in der taz vom 7.6.2007

 

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