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Traumarbeit
Ein
Portrait der Experimentalfilmer Christoph Girardet und Matthias Müller
Strahlend tritt die Professorin
vor den Kinovorhang, an diesem Novemberabend auf dem Braunschweiger Filmfest.
Birgit Hein von der hiesigen „Hochschule für Bildende Künste“ moderiert
eine Auswahl von Experimentalfilmen eines erfolgreichen Künstlerduos an,
das einst in ihrer Filmklasse studiert hatte. Unverhohlener Stolz schwingt mit,
wenn Hein erzählt, wie sie im fernen China die Eilmeldung vom Festival-Triumph
ihrer ehemaligen Schützlinge Christoph Girardet und Matthias Müller
erreichte. Der Kritikerpreis „Canal +“ auf den Filmfestspielen von Cannes ist
als Auszeichnung kaum mehr zu toppen.
Sogar der hochbedeutende deutsche
Kurzfilmpreis in Gold 2006 wirkt da wie ein Nachtrag, mit dem man hastig auf
den internationalen Erfolg des Gespanns reagierte. Und: dass Kulturstaatsminister
Bernd Neumann die Trophäe in der Sektion „Animationsfilme“ verlieh, wirkt
auch etwas schräg. Denn „Kristall“, das Viertelstundenwerk, das an der
Croisette und in Potsdam ausgezeichnet wurde, ist ein Experimentalfilm aus Spielfilmschnipseln.
In ihrer Dankesrede regten die Preisträger auch gleich an, endlich eine
Kategorie „Experimentalfilm“ einzuführen.
Kunst macht bekanntlich viel Arbeit.
Das Klinkenputzen noch mehr. Es ist erstaunlich, wie wenig Girardet und Müller
im eigenen Land gelten, obwohl sie 2007 wieder mit Ausstellungen in Italien,
Belgien und Brasilien voll ausgebucht sind, von Filmfestivals ganz zu schweigen.
Sie arbeiten stets mit raffinierter Doppelstrategie: ihre Filme sind kino- und
museumstauglich. Das fesselt Kunst- und Filmkritiker schon seit längerem.
1999 schrieb Stefan Grissemann in der Wiener „Presse“: „Girardet und Müller
leisten Traumarbeit: Ihre Hitchcock-Eloge wird von allen die schönste bleiben,
schon deshalb, weil in ihr das ungeheuerliche Vokabular jenes mysteriösen
Visualisten unübersetzt bleibt.“
Ihre sechsteilige filmische Hommage
an Alfred Hitchcock nimmt den Satz von Jean-Luc Godard beim Wort, eine wahre
Geschichte des Kinos könne man nicht schreiben, sondern nur mit den ureigensten
Mitteln des Films erzählen. Präziser formuliert, sind die sechs Kapitel
der „Phoenix Tapes“ (1999) eine Art angewandter Medienwissenschaft in Sachen
Thrillermotivik: Filmbilder, Leitmotive aus 40 Filmen des „Masters of Suspense“
„scratchen“ Girardet/Müller mit einer solchen Virtuosität, dass zweierlei
entsteht: Ein Essay über das Schaffen eines Egomanen und ein (fast) autonomes
Kunstwerk zugleich. Für ihr Braunschweiger Heimspiel haben die beiden Filmklassen-Absolventen
der frühen 1990er das wohl respektloseste, freieste Kapitel Nummer vier
ausgewählt: „Why don´t you love me?“ lässt noch einmal tief
in das Herrschaftsgebiet der berüchtigten Hitchcock-Mütter blicken,
zu ihren kranken Söhnen und Töchtern. Wir treffen Norman Bates, den
Serien- und Muttermörder, hören Alex Sebastian aus „Notorious“ („Berüchtigt“)
mit zaghafter Stimme nach der schlafenden Mutter rufen.
„Notorious“ war auch der Titel
der Ausstellung zu Hitchcocks Ehren im Oxforder Museum of Modern Art, das den
Auftrag zu den „Phoenix Tapes“ gab. Christoph Girardet und Matthias Müller
arbeiteten hier erstmals zusammen. Und noch eine glückliche Fügung
war das Zusammentreffen mit dem „Notorious“-Kuratoren Kerry Brougher, der 1996
in Los Angeles die erste bedeutende Schau über das dynamische Verhältnis
zwischen Kino und Bildender Kunst initiiert hatte. Pünktlich zum 100. Geburtstag
des Kinos blickte „Hall of Mirrors“ auf sechzig Jahre Kino-Kunst zurück,
deren Protagonisten vielfach mit „Found Footage“ gearbeitet haben. Etwa Joseph
Cornell mit seinem 1936 revolutionären Zusammenschnitt eines B-Movies.
„Found Footage“ ist die Praxis, „entliehenes“ Filmmaterial aus Werbe-, Lehr-,
Dokumentar- oder Spielfilmen zu dekonstruieren, neu zu arrangieren, zu strecken
oder zu Endlosschleifen zu binden. Mochten sich die Konventionen des Kinos auch
immer wieder lähmend verfestigen, die Kino-Künstler wussten das im
Medium schlummernde Potenzial stets freizulegen. Und wirkten auf Spielfilm oder
Musikvideo zurück. Was wäre ein Michel Gondry ohne die Experimentalfilmer
der Achtzigerjahre?
Auch bei Girardet und Müller
steht eine „Fernsehkindheit“ hinter der künstlerischen Eindämmung
von Bilderfluten. Sie kritisieren das jeweilige filmische Vokabular, manchmal
höhlen sie es aus, aber nie, erklärt Michael Müller, „ stellen
wir uns über das Material, so toxisch, ideologisch, problematisch es auch
sein mag.“ Die neuneinhalb Minuten von „Manual“ (2002) sind ein hervorragendes
Beispiel für die Geburt der Kurz-Tragödie aus dem Geist des Trash:
Die Künstler sammelten technoide Bilder aus US-Fernsehserien und montierten
daraus enervierende Sequenzen von Männerhänden, die sinnlose Knöpfe
drücken und hektisch Schalter umlegen. Zwischendrin haucht eine körperlose
Frauenstimme Besänftigendes aus Hollywoodmelodramen.
Welten treffen auch im Preisträgerfilm
„Kristall“ (2006) aufeinander. Untersucht wird die Spiegelmetapher in Spielfilmen.
Nicht nur, dass Girardet/Müller disparates Material aus 130 Spielfilmen
zusammengefügt haben wie ein Spiegelmosaik – Zwischen Ingrid Bergman,
Gregory Peck und vielen anderen Paaren herrscht Geschlechterkrieg, auch wenn
er mit freundlicher Übernahme beginnt: Die Herren sind zunächst spendabel
und die Damen strahlen, weil ihre Dekolletés mit Edelsteinen behängt
werden. Doch bald spiegeln sich die einsamen Heldinnen, bevor mit der Rückkehr
der Männer Zwietracht im Rahmen lauert. Schließlich splittert Glas.
Brutaler Höhepunkt: Eine Männerfaust schlägt ein Loch an die
Stelle des Spiegels, wo eben noch das Gesicht Lana Turners zu sehen war. Eine
Hinrichtung, wenn auch symbolisch. Dass „Kristall“ überhaupt in die Cannes-Auswahl
kam, verdankt sich der Entscheidung, die Arbeit nicht als reine Installationskunst
zu konzipieren. „Ursprünglich wollten wir mit zwei Leinwänden arbeiten,
die sich wie Spiegel gegenüberstehen. Die weibliche Aktion einerseits sollte
von den Männerfiguren auf der anderen Seite wiederholt werden“, sagt Christoph
Girardet. Da er und Matthias Müller sich nie an eine Ausgangsidee klammern,
stets mit dem Material frei improvisieren, stellte sich eine lineare Dramaturgie,
die Verknüpfung zu Spiegel-Motivketten, als ergiebiger heraus.
Für den Kurzfilm „Play“ (2003)
haben sich Girardet/Müller durch Unmengen von Theaterszenen aus Spielfilmen
gewühlt. Nicht die Bühnensituation interessierte sie, sondern die
gespielte Reaktion der „Zuschauer“ – Paul Newman, Julie Andrews oder Liz Taylor
– nebst Starkollegen und Statistenmassen. Anders als bei anderen Filmen, wird
hier nicht mit Dunkelpausen oder Diskontinuität operiert. Die amüsante
Absurdität von „Play“ liegt gerade im nicht abreißenden Perpetuum
der künstlichen Handlung. Das Crescendo und Decrescendo des Applauses,
das wohlige Sich-zurücklehnen, die irritierte, dann auch panische Reaktion
im Zuschauerraum: Die Künstler haben das höchst raffiniert zu einer
erzählerischen „Melodie“ orchestriert, mit visuellen Presto-Passagen, Tonartwechseln
und gedehnten Rubati. Man kann ihre technische und filmästhetische Geschicklichkeit
nur bewundern.
Auf das ungewohnte Terrain der
eigenen Inszenierung wagte sich das Künstlerpaar mit „Mirror“ (2003). Zumindest
Christoph Girardet hatte zuvor fast ausschließlich mit „Found Footage“
gearbeitet. „Mirror“ entstand vor „Kristall“ und entfaltet bereits dessen Thematik:
Das Spiegelmotiv und die Paarsituation. Gedreht wurde an vier Tagen in einem
Bielefelder Konzertfoyer, dessen Atmosphäre durch ein nostalgisches Ambiente
geprägt ist. Die Künstler ließen sich von einem Ausspruch Michelangelo
Antonionis inspirieren: „Die Personen einer Tragödie, die Orte, die Luft,
die dort geatmet wird, sind manchmal fesselnder als die Tragödie selbst,
ebenso die Momente, die ihr vorausgehen und ihr folgen, wenn die Handlung stillsteht
und die Rede verstummt.“ Im Dunstkreis der Abendgesellschaften von Antonionis
„Die Nacht“ und Alain Resnais´ „Letztes Jahr in Marienbad“ präsentiert
„Mirror“ einen erstarrten Frauen-und-Männer-Reigen in unbewegten Tableaus.
Es geht um Beziehungen, um die zu acht Minuten gedehnte „split second“ im zeitlichen
Niemandsland zwischen Trennung und Gerade-noch-Zusammensein. Dieser zwischenmenschliche
Wackelkontakt wird in der Lichtregie durch ein beständiges Glühbirnenflackern
unterstrichen, das Figuren und Interieur im Vorder-, Mittel- und Hintergrund
miteinander verbindet und gleichzeitig trennt. Bewegung findet eigentlich nur
in den Augenmuskeln des Betrachters statt. Aber trotz des weitschweifig-breiten Scope-Formats
beruht auch die Panoramawirkung der Bilder auf einem Trugschluss. „Scherzeshalber
nennen wir unser Verfahren ‚Cinemascope für Arme’“, erklärt Girardet.
Das Breitformat wurde aus jeweils zwei Teilbildern so zusammengesetzt, dass
ein Raumkontinuum simuliert und gleichzeitig gebrochen wird. In der Bildmitte
ist stets eine haarfeine Sollbruchstelle spürbar; selbst frontale Großaufnahmen
einzelner Gesichter sind auf diese Weise sich selbst entfremdet.
Zu Recht schwärmte Hans Schifferle
in der „Süddeutschen Zeitung“ von „großem Kino, verdichtet, gedichtet.
Der Blow-up eines verzauberten Augenblicks, ein Liebesthriller.“ Der Thrill
ist nur auf der großen Leinwand des Filmtheaters wirklich auszukosten.
Auf dem Braunschweiger filmfest bot sich die seltene Gelegenheit, das Nacht-
und Schmuckstück „Mirror“ aus dem Kinodunkel leuchten zu sehen. Prof. Birgit
Hein kannte nur die DVD-Fassung und war selbst überrascht von der ästhetischen
Brillanz dieses Films. Wie immer bei dem Künstlerpaar fasziniert auch hier,
wie sie thematische Kontinuität bewahrt und doch ein Solitär geschaffen
haben. Wiederholung? „Der Horror!“, rufen Girardet/Müller unisono. „Wenn
du auf eine Formel reduziert werden kannst, ist es das Ende der Kunst.“ Aber
das Ende ihrer Filmspule ist gottlob nicht abzusehen.
Jens Hinrichsen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: film-dienst 01/2007
„arsenal experimental“
Seit Oktober 2005 sind sämtliche Filme, Videos und Installationen
von Matthias Müller im Verleihprogramm von „arsenal experimental“ in Berlin,
seit August 2006 auch alle Arbeiten von Christoph Girardet. „arsenal experimental“
erweitert die Kapazitäten des Verleihs der Freunde der deutschen Kinemathek
gezielt für den Experimentalfilmbereich in Deutschland und versteht sich
als Verleihinitiative im Grenzbereich zwischen Film und bildender Kunst, die
dort ansässige Arbeiten durch Verleih, Vertrieb und Vermittlung im In-
und Ausland betreut. In der „edition arsenal experimental“ ist außerdem
„The Memo Book“ erschienen, eine zweisprachige Publikation zu den Filmen und
Installationen von Matthias Müller, herausgegeben von Stefanie Schulte
Strathaus. Weitere Informationen zu den Filmemachern sowie zum Programm von
„arsenal experimental“ gibt es im Internet: www.fdk-berlin.de/de/arsenal-experimental
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