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Im Zwischenreich
Mit dem Film „Yella“ hat Christian
Petzold seine Gespenster-Trilogie abgeschlossen – filmische Passagen in die
Schattenzonen deutscher Realität
In der Dämmerung des Kinos
werden wir zu staunenden Kindern, denen Geschichten erzählt werden. Wenn
die Erzählung „rund“ und stimmig ist, gehen wir wie verzaubert über
Auslassungen, Brüche und Ungereimtheiten hinweg. In seinem Film „Die
innere Sicherheit“
tischt Christian Petzold uns einige Unwahrscheinlichkeiten auf. So findet dort
ein steckbrieflich gesuchtes Terroristenpaar zusammen mit der minderjährigen
Tochter Jeanne in einer verlassenen Stadtvilla Unterschlupf. Ein Haus mit vielen
Fenstern. Die Kleinfamilie nistet sich ein, lebt dort im sogenannten Untergrund,
aber keineswegs im Stockdunkeln. Doch kein argwöhnischer Nachbar klingelt,
niemand alarmiert die Polizei. Der Zuschauer stößt sich nicht daran.
Die Geschichte ist wahr, weil sie einer inneren Wahrheit entspringt: Es ist,
als wären diese Gestalten unsichtbar – Gespenster mitten unter Menschen.
„Die innere Sicherheit“, „Gespenster“ und nun „Yella“: die mit dem dritten Film vollendete
Gespenster-Trilogie von Christian Petzold war ursprünglich nicht als Triptychon
geplant. Und doch bot die Vampir-Existenz einer herumirrenden, in kein soziales
Schema mehr passenden Kleinfamilie eine Leitmetapher vor, die auch zwei weitere
Filme tragen sollte. Es geht Petzold nicht um sprichwörtlich Untote, um
Zombies oder gräfliche Blutsauger, auch wenn Murnaus Vampirfilm „Nosferatu“ sein erklärter Lieblingsfilm
ist. Petzolds Gespenster sind paradoxe Figuren: irgendwie nicht von dieser Welt
und doch Archetypen unserer Zeit. Ihre Parallelexistenz findet in einer Epoche
geisterhafter Datennetze, deregulierter Wirtschaftsvorgänge und sozialer
Zersplitterung statt. Ihre Lebensverhältnisse sind die einer verflüssigten,
ephemer und unverbindlich gewordenen Zeit, die der Philosoph und Soziologe Zygmunt
Bauman als „Liquid Modernity“ bezeichnet hat. Wie zurzeit auch in der bildenden
Kunst wird das Geisterhafte in Petzolds Filmen als politische Kategorie ernstgenommen
– und zum ästhetischen Paradigma aufgewertet: Das „Prinzip Gespensterwelt“
ermöglicht es Petzold kitschfrei von Verhältnissen zu erzählen,
die im Grunde jeder Beschreibung spotten.
Die Theoretikerin Judith Butler
hat in einem politischen Essay namen- und gesichtslose Kriegsopfer oder Guantanamo-Häftlinge
als „weder lebendig noch tot, sondern auf ewig gespenstisch“ bezeichnet. Auch
Petzold nähert sich marginalisierten, durch die Maschen der Medienaufmerksamkeit
gerutschten Charakteren. Öffentlich sichtbar werden diese Menschen üblicherweise
nur, wenn sie gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen. So erscheinen
sie auch bei Petzold, allerdings nur in schlaglichtartigen, unscharfen, im wahrsten
Wortsinn Schwarzweiß malenden Bildern von Überwachungskameras. So
wird das Terroristenpaar beim Banküberfall gezeigt, die nicht kreditwürdige
Yella in der Sparkasse, zwei jugendliche Ladendiebinnen auf dem Monitor der
Kaufhaus-Überwachung: banalisierte Bilder, die Petzold nicht wirklich interessieren,
die er als Fußnoten anfügt. Die erzählende Kamera dagegen taucht
ins Schattenreich allgemeinen Desinteresses: Wer will (sonst) schon RAF-Terroristen
als Privat- und Familienmenschen erkennen, sich mit den Sehnsüchten verhaltensauffälliger
Jugendlicher konfrontieren, einer jungen Frau aus dem deutschen Osten beim Scheitern
zusehen? Petzold und seine Darsteller geben solchen Schattenexistenzen ein Gesicht
und eine Geschichte.
Im Kino sind die Gespenster zuhause.
„Film ist überhaupt: Gespenstersehen“, schreibt Elfriede Jelinek, die Leinwand
sei „der Ort, wo etwas erscheint und spurlos wieder verschwindet“. Petzolds
Figuren scheinen sich an das Flüchtige in ihrem Kinoleben gewöhnt
zu haben. „Wo ist deine Freundin?“ wird Nina am Ende von „Gespenster“ gefragt.
„Weg.“ antwortet sie. Es ist ein endgültiges „Weg“, doch keine Trauer schwingt
in dieser Stimme. Nina ist ein Heimkind, das mit einer Reinigungskolonne durch
den Berliner Tiergarten zieht. Sie trifft dort auf die mittellose Toni, die
sich alleine durchbeißt. Zwischen den Mädchen entsteht eine fragile
Freundschaft, mehr Schein als Sein, mehr Wunsch als Wirklichkeit. Als Toni von
der Bildfläche verschwindet, ist Françoise plötzlich da. Auch
sie ein Petzold’sches Gespenst, gut betucht zwar, doch die zwanghafte Suche
nach ihrem Kind, das vor Jahren in Berlin entführt wurde, hat Françoises
Existenz gläsern werden lassen. Nina könnte ihr verschwundenes Mädchen
sein. Doch letztlich dient das Mädchen nur als Spielball von Françoises
Zwangsgedanken. Überhaupt will in diesem Menschenpuzzle nichts zusammenpassen,
die Paarungen Nina-Toni und Nina-Françoise ergeben auf fast tragische
Weise keinen Sinn. Nina: ein unbeschriebenes Blatt, das hin und her geblasen
wird.
Ende der 1970er-Jahre war der
Regisseur Roland Klick für das Filmprojekt „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“
vorgesehen. Dass es dazu nicht kam, bedauert Christian Petzold in einer E-Mail-Diskussion
mit Christoph Hochhäusler und Dominik Graf. „Dieses Umhergehen, Driften
durch Berlin“, skizziert Petzold das Vorhaben von Klick (und spricht gleichzeitig
für seine „Gespenster“), „Kinder, deren Gesichter zu alt sind, und Erwachsene,
die nur ausbeuten, missbrauchen. Den Produzenten war dann klar, dass man damit
keine müde Mark verdient und dann durfte irgendein anderer weitermachen.
Das wäre ein anderes Genre gewesen. Neorealismus.“
Neorealismus und Phantastik schließen
sich nicht aus. Ein „absolut phantastischer Film im eigentlichen Sinne des Wortes“
sei Roberto Rossellinis „Deutschland im Jahre Null“, hat Jean-Luc Godard einmal gesagt. Das 1947 im Trümmer-Berlin
gedrehte Drama eines deutschen Jungen, der zum Erfüllungsgehilfen einer
noch herumgeisternden Nazi-Ideologie wird, begriff Godard als eine Art elaborierten
Monsterfilms, den er mit Tod Brownings „Dracula“-Version und Hitchcocks „Die
Vögel“
verglich. Das Kind, so Godard, „verkaufte Zigaretten, es machte nur lauter Dinge,
die Erwachsene machen […] Das war ein Ungeheuer, das keins sein wollte.“
Auch Yella in Christian Petzolds
neuem Werk ist ein Ungeheuer wider Willen, in einem Film, der deutlicher als
seine Vorgänger von phantastischen Elementen geprägt ist. Petzold
arbeitet mit verstörenden Geräuschen, die keinen Ursprung im aktuellen
Bild haben und setzt erstmals auf eine Alptraumlogik, die das realistisch grundierte
Ausgangsgeschehen zunehmend überlagert. Vordergründig geht es um eine
junge Frau, die aus ihrer ostdeutschen Heimat in den Westen aufbricht und ihre
gescheiterte Ehe mit dem Bankrottier Ben ad acta zu legen versucht. Ihr bietet
sich die Chance, als Assistentin für den zielstrebigen Philipp zu arbeiten,
der für eine Private-Equity-Firma tätig ist. Doch Ben klebt wie Pech
an ihren Fersen. So flüchtet Yella vor Ben durch einen Hotelflur, trommelt
in Panik an Philipps Zimmertür, während ihr schattenhafter Ex-Mann
bedrohlich näher kommt. Philipp öffnet die Tür. Umarmung. Schnitt
auf den Gang: Ben ist verschwunden. Man gewinnt den Eindruck, die Männer
wären ein und dieselbe, janusköpfige Person, denn sie sind nie gemeinsam
im Bild zu sehen. Rätselhaft.
Am anderen, quasi dokumentarischen
Ende der Skala bleibt Christian Petzold auch in „Yella“ seinem Leitspruch treu,
das Kino müsse sich für die Dinge des Alltags interessieren. Er schickt
seine Titelfigur in eine ihr selbst fremde Welt des Joint-Venture-Kapitals und
lässt sie in knallharten Geschäftsverhandlungen die Spielregeln, Tricks
und Kniffe der Broker und Finanzhaie erlernen – Szenen, die Petzold aus Harun
Farockis Dokumentarfilm „Nicht ohne Risiko“ entlehnt hat. Auch dieser Raum der
vermeintlich kühlen Köpfe und abstrakten Werte hat etwas Gespenstisches,
liegt jenseits von Gut und Böse. Yella – wie zuvor Jeanne und Nina – ist
eine Figur mit ausgeprägtem Moralgefühl, das in einem „Zwischenreich“
auf die Probe gestellt wird. Yella vergisst sich, pokert hoch, wird schuldig
– und zieht schließlich ihre bitteren Konsequenzen. Wer will, kann „Yella“
als filmischen Entwicklungsroman lesen.
Für den „Final Twist“ hat
sich Christian Petzold von einer Ambrose-Bierce-Erzählung anregen lassen.
Vielfältige literarische Motive durchziehen seine Filme. Sie geben indes
nicht den Stoff für die Geschichten vor (Stoff ist die moderne Wirklichkeit),
sondern fungieren als Subtexte für filmische Handlungen. Petzold nutzt
das Verfahren auch am Set, Jean Renoir nannte es „Italienische Probe“: Während
der Drehproben erzählt Petzold Geschichten, um das mimisch-gestische Arsenal
seiner Schauspieler zu erweitern. Während der Dreharbeiten zu „Gespenster“
erzählte Petzold das Grimmsche Märchen vom „Totenhemdchen“, das von
einer Mutter handelt, die in Trauer um ihr totes Kind gefangen ist. Eine Rolle
dürfte auch „Hänsel und Gretel“ gespielt haben, zumindest wirkt Françoise
für Sekunden wie eine Hexe, wenn sie Ninas Fußknöchel betrachtet
und dann mit zitternden, knochigen Händen nach dem Mädchen greift.
Nina selbst wirkt in einigen Parkszenen wie ein modernes Aschenputtel, das Wohlstandsmüll
aufklaubt.
In allen drei Filmen spielt Wasser
eine tragende Rolle: Yella entsteigt der Elbe wie eine unheilbringende Undine;
Nina und Toni erleben ihre erste, magische Begegnung am Ufer eines kleinen Sees
im Tiergarten. Auf Ninas T-Shirt prangt ein blaues Segelschiff-Motiv mit dem
vieldeutigen Schriftzug „120 Jahre Chiemsee-Regatta“. Die Ex-Terroristen in
„Die innere Sicherheit“ benutzen Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ als Erkennungszeichen.
Andreas Baader liebte das Buch, weil er im weißen Wal den Leviathan, die
hobbes’sche Allegorie für den allmächtigen Staat, erkannte. Der Familie
im selben Film gab Petzold Grundzüge des „Fliegenden Holländers“,
einer Ahasver-Figur, die ruhelos die Meere durchstreift. Wie der Verfluchte
der Sage seine Befreiung durch die Liebe einer Frau erringen kann, so erhält
auch diese Gespensterfamilie die Chance – durch Liebe erlöst zu werden
(wie überhaupt die Umarmungen in den drei Filmen Momente ein Auftauchen
aus dem Geisterhaften bedeuten). Im fahrenden Käfig ihres leichentuchweißen
Autos, dem Bauch ihres Gespensterschiffs, gibt es kaum ein Entrinnen. Die widerstreitenden
Gefühle bleiben auf engem Raum, Konflikte implodieren. Es gibt wohl keinen
anderen Regisseur, der Autoszenen derart subtil kadriert wie Petzold.
In einer späten Szene von
„Gespenster“ sehen wir, wie Françoise Nina in ihrem Auto mitnimmt – Nina,
ihre vermeintliche Tochter. „Schlafen konntest du nur im Auto, nur beim Fahren“,
so schwelgt die Ältere in der Vergangenheit, sagt „Du“ und spricht doch
an Nina vorbei. Oder durch sie hindurch, wie durch ein Gespenst. Petzold trennt
das „Paar“ in Profileinstellungen. Eine filmische Banalität, die sonst
nie auffällt, entfaltet hier unterschwellig seine Wirkung: die Fahrtrichtung
wechselt mit jedem Schnitt. Françoise und Nina sitzen im selben Wagen,
ohne dasselbe Ziel zu haben. In „Yella“ potenziert sich diese visuelle Kontrapunktik.
Die Titelfigur ist innerlich gespalten. Nach ihrem spektakulären Brückensturz
im Auto, der Elbe kaum entstiegen, sehen wir Yella schon mit triefenden Kleidern
im Zug nach Hannover sitzen. Petzold schneidet dann auf die vorbeirauschende
Landschaft und montiert, im Pingpong-Prinzip, konträre Bewegungsrichtungen
ineinander. Wohin geht die Fahrt? Es ist wie verhext: Die Protagonisten der
Gespenster-Trilogie, so mobil sie auch scheinen, kommen nicht wirklich vom Fleck.
Im Auto, in voller Fahrt, im horizontalen
Sturz, kehren sich Entwicklungen um, werden Rollen getauscht. Am Ende der „inneren
Sicherheit“ schläft der verwundete Vater auf dem Rücksitz, wie ein
Kind. Und in einer regressiven Geste legt Jeanne ihren Kopf in den Schoß
der Mutter, die neben ihr das Auto steuert. Dann folgt der Unfall, ein Sich-Überschlagen
wie in einem Wellentunnel – und eine symbolische Geburt: In den finalen Sekunden
des Films erwacht das Mädchen auf einem Rapsfeld, meterweit vom Wrack des
Familienwagens entfernt. Unverletzt richtet Jeanne sich auf, sichtlich zögert
sie, sich noch einmal umzublicken zum Auto, das „kieloben“ im Blütenmeer
versinkt. Jeanne ist kein Gespenst mehr. Der Abspann kommt plötzlich. Als
wäre das wahre Leben eine ganz andere Geschichte.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-dienst
Yella
D 2007 – Regie, Buch: Christian Petzold. Dramaturgie: Harun Farocki. Kamera: Hans Fromm. Schnitt: Bettina Böhler. Musik: Stefan Will. Mit: Nina Hoss, Devid Striesow, Hinnerk Schönemann, Burghart Klaußner, Barbara Auer, Christian Redl, Selin Barbara Petzold, Wanja Mues. Piffl Medien, 88 Min., Start(D): 13.9.2007
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