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Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit:
Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol
1975 beendet Manny Farber die
Suche der amerikanischen Filmöffentlichkeit nach dem Verbleib des von Andy
Warhol in den mittleren 60ern begonnenen Projekts. Er hat
dessen Fortsetzung nämlich endlich lokalisiert: "It is interesting
that the true inheritors of early Warhol, the Warhol of Chelsea Girls and My Hustler, are in
Fassbinder wird von zwei amerikanischen
Mitarbeitern des Film
Comment
kurz darauf mit Farbers Parallelisierungen konfrontiert(3) und es stellt sich
heraus, dass Farber tatsächlich in einem wichtigen Punkt Recht hatte. In
München kannte man damals den Filmemacher Warhol kaum. Fassbinder nennt
nur Paul Morrissey, und mit dem habe er weniger zu tun, allenfalls Warum läuft Herr R. Amok? und dieser Film, das sagt er öfter, wäre weniger seiner
als der der Gruppe. Fassbinder konzediert – allerdings in Unkenntnis der zentralen
Filmproduktion Warhols, der Filme der Jahre 1964-66 – eine Gemeinsamkeit zwischen
ihm und Warhol: die Arbeit in und mit einer Gruppe.
Nun ist diese Gruppe aber nicht
nur irgendeine. In beiden Fällen handelt es sich um eine Gruppe, die teilweise
zusammenlebt, mindestens aber große Teile ihrer gesamten Zeit miteinander
verbringt. In beiden Fällen wird diese gemeinsam verbrachte Zeit intern
als kulturelle Produktion verstanden. Bei Warhol hieß der Ort, an dem
man die Zeit verbrachte sogar explizit Factory, bei Fassbinder war es ein Theater,
in dem man wohnte und arbeitete. Es hieß erst Action Theater, dann antiteater.
Diese Namen sind sowohl eine Gemeinsamkeit
als auch ein kleiner Gegensatz. In der Factory ging es darum, dem, was sowieso
stattfand, künstlerische Produktion mit allen denkbaren Medien, eine bestimmte
Logik zuzuordnen, die der industriellen und mechanischen Produktion. Dies ist,
so die Idee, kein romantisches Künstlertum, keine humanistisch verstandene
Kreativität, keine Kritik der Kulturindustrie und des Star Systems, sondern
dessen Überbietung. Im Action Theater oder antiteater ging es darum, das,
was sowieso stattfand, ein emotional intensives und ökonomisch prekäres
Zusammenleben, an dem keinesfalls nur Künstler teilnahmen, sondern auch
sogenannte Gammler und Drop outs, also überspitzt gesagt, soziale Romantik
plus Revolte ohne eine entwickelte Kunst, durch die Beschwörung eines institutionellen
künstlerischen Charakters zu stabilisieren.
In beiden Fällen handelt
es sich aber um Namen für künstlerisch produktive Gruppen, die sich
anders als bei den Künstlergruppen der Avantgarde und der Neo-Avantgarde
nur indirekt und vage auf einen künstlerischen Inhalt bezogen. Unter den
vielen Parallelen, die Farber aufzählt, habe ich nicht umsonst die der
sagenumwobenen Produktivität der Factory wie der Fassbinder-Gruppe herausgegriffen.
Diese Produktivität ist bei Warhol zu Beginn und bei Fassbinder dauerhaft
tatsächlich selbst ein künstlerischer Inhalt. Ihr Hintergrund ist
eine neue, schnelle und flexible Verfügbarkeit von zwei Ingredienzien künstlerischer
Arbeit unter seinerzeit neuen historischen Bedingungen: diese sind zum einen
Medien und Medienformate und zum anderen Stoff.
Zum einen: Warhol kaufte sich
eines Tages eine Bolex. Fassbinder übernahm in einer langen verschlungenen
Kette von Machtkämpfen Theater, weil man damals eben Institutionen einfach
so übernehmen konnte, sie waren in den Tagen der Studentenbewegung verfügbar
geworden. Vor allem aber, davon handelt zum Beispiel "Warnung vor einer heiligen Nutte", stellte er immer wieder im Kampf mit deutschen Fernsehsendern,
Filmförderungen und diversen internationalen Deals den Zwang her, fortgesetzt
zu arbeiten, um im Besitz der lebens- und intensitätssteigernden Produktionsmittel
zu bleiben. In beiden Gruppen gab es die, einem perpetuum mobile verwandte Idee,
dass man durch sichtbare Produktion von Intensität in den Besitz von Produktionsmitteln
kommen konnte, dieser Besitz wiederum und die damit verbundene Produktion steigerte
wiederum die Intensität. Die Konstruktion und Reproduktion dieses Produktionsmodells
war so ein wesentlicher Inhalt der künstlerischen Arbeit – als Voraussetzung
und Inhalt. Alle Zweifel an der Gruppe werden nicht als Zweifel an den Produkten,
sondern als Zweifel an der Lebensform, am Lebensstil und als Klage über
Intensitätsverlust artikuliert. Man denke etwa an Fassbinders beleidigte
Klage über die Gruppenangehörigen, die lieber "ihr kleines Pantoffelleben
führen" wollen in Joachim von Mengershausens Dokumentarfilm "Ende
einer Kommune" von 1970. Ähnlich klingen Warhols Klagen darüber,
dass nach dem Attentat auf ihn nichts mehr dasselbe war.
Für dieses Produktionsmodell
war es aber auch wichtig, dass es keine klar bestimmten Jobs, keine Arbeitsteilung
gab. Wer aus der Gruppe was vor wie hinter der Kamera machte, war im Prinzip
aushandelbar. Der Dichter Gerard Malanga wird zum Peitschentänzer, in "Camp"
führt jeder vor, dass er auch irgendetwas Anderes kann. Die Rollen und
Funktionen vor und hinter der Kamera sind in der Factory und ihrem Umfeld, den
Multimedia-Performances von Jack Smith oder John Vaccaros Theater of the Ridiculous,
absolut im Fluß. Nicht absehbar war aber auch in Fassbinders Umfeld, wer
eigentlich welche Spezialisierungen entwickeln würde. Dass etwa der Regisseur
Peer Raben später sich zum Komponisten spezialisieren wird oder Kurt Raab,
ursprünglich Requisiteur, zum zentralen Schauspieler wird etc. Fassbinder
nutzt diese Ungeklärtheit später öfter als Machtmittel, wenn
er etwa in seiner Zeit als Intendant am Theater am Turm einerseits Mitbestimmungsmodelle
durchsetzt, andererseits die Schauspieler in A- und B-Schauspieler mit unterschiedlichen
Bezahlungen und Pflichten einteilt.(4)
Genau diese Voraussetzung aber,
dass keiner prinzipiell für irgendetwas zuständig ist, jeder alles
machen kann und die technischen und medialen Apparate immer irgendwie zur Verfügung
stehen, sorgt in beiden Gruppen für 1.) die gewünschte Intensität
beim Übergang von Leben in Darstellung, 2.) Konkurrenzkämpfe mit diversen
Verletzten und Opfern, Traumatisierten, Mordversuchen und erfolgreichen Selbstmorden,
3.) für eine hohe produktive Flexibilität, 4.) – und das gilt vor
allem für die Fassbinder-Gruppe – für ein hohes Gespür für
die so entstandenen Machtverhältnisse bei allen Beteiligten: sie liegen
offen zutage und werden ständig ausgetragen und auch politisch diskutiert.
Das stark entwickelte Bewusstsein aber schützt nicht davor, dass ständig
neue Opfer produziert werden.
Zum anderen: die so intensivierte
und in Hassliebesbeziehungen ineinander verstrickte Gruppe liefert selbst sehr
schnell und unmittelbar den Stoff. In Filmen wie Warhols "Camp" oder
den diversen "Screen Tests", in "Couch", "My Hustler"
oder "Sleep", den diversen Filmen mit und über Edie Sedgewick
und unzähligen anderen spielen die Figuren der Factory sich selbst. In
Fassbinders Filmen tragen die Rollen oft die Namen der Protagonisten oder die
Namen anderer Leute aus dem Umfeld. In allen frühen Filmen spielen die
Darsteller entweder sich selbst oder einen andere aus der Gruppe. Hinzugefügt
wird lediglich ein, meist einem schon bestehenden Genre entnommener fiktiver
Rahmen.
Warhols Idee der Produktion ging
ungefähr so: Wenn die Konstante Produktion maximal unaufwendig und mechanisch
läuft, dann wird die Variable Person maximal groß, der Star wird
zum Superstar. Da aber jede Erzählung oder Handlung wieder die Produktion
größer und komplizierter machen würde und von der Person und
ihrer Präsenz ablenken, muss der maximal eindrückliche Superstar als
lebendes Bild verharren, als Pose eines Versprechens, eines Potenzials. Selbst
bestimmt, aber noch vor der Handlung.
Fassbinders Grundidee ist ungefähr
die: Im Kapitalismus übersteht das Subjekt sein elendes Leben nur in der
Pose. Pose ist auch hier ein Rest Selbstbestimmung um den Preis der Handlungsunfähigkeit,
aber es ist eine Notlösung, freilich die, an der sich der letzte Rest individueller
Würde zeigt: nichts machen, aber auch keine Scheiße. Pose steht in
der Mitte zwischen Aktion und Passion. Diesen gesellschaftlichen Mechanismus
nicht nur darzustellen, sondern zu reproduzieren ist die Arbeit des Schauspielers.
Die Arbeit des Regisseurs sei es nun, die Pose entstehen zu lassen und dann
wieder kaputt zu machen – so entsteht Bewegung und Narration, die Mechanik und
die Genealogie der Pose wird sichtbar. Fassbinder will ja erklärtermaßen
aufklären. Später wird auch die neuartige medienspezifische Idee der
Pose durch die alte theaterspezifische Idee der Lebenslüge ersetzt. Auf
diesem Wege entfernt sich Fassbinder in einigen Filmen von Warhol.
Die Pose im Sinne eines narzisstischen
lebenden Bildes, einer Kinokategorie, die nicht nach der Narration und der Konsequenz,
sondern nach dem gedehnten Moment strebt, ist auch in einem allgemeineren Sinne
die neue, man kann sagen: minoritäre oder auch in einem weiteren Sinne
queere Position zwischen Selbstermächtigung und Unterdrückung. Erfunden
haben sie James Dean und Montgomery Clift, verfeinert und vom Nebenprodukt zur
Hauptsache befördert hat sie Andy Warhol. Auch Fassbinder liebt die Pose,
zugleich muss er sie zerstören und in die Zange der benachbarten Möglichkeiten,
vollständige souveräne Subjektwerdung und sklavische Abhängigkeit
nehmen. Bei Fassbinder sind die Poser nicht positiv. Die Über-Poser in "Katzelmacher" entwickeln sich zu rassistischen
Widerlingen. Bei Warhol stellt hingegen die Pose ein Versprechen dar. Zunächst
ist sie einfach das, was entsteht, wenn man einen originellen, interessanten
Menschen filmt, die Gewährung des Rechts gefilmt zu werden, das Walter
Benjamin jedem Menschen zugesteht.
Craig Owens hat das Posieren vor
der Kamera mit dem grammatischen Begriff des Mediums verglichen.(5) Man
spricht ja in der grammatischen Terminologie nicht nur bei den Substantiven
von Geschlechtern, sondern auch bei den Verben gibt es das sogenannte Genus
verbi. Die vertrauten Genera verbi sind Aktiv und Passiv, das dritte Geschlecht
ist aber, anders als bei den Substantiven, nicht ein Neutrum, sondern die etwa
im Altgriechischen eigenständig vorkommende Form des Mediums: man übersetzt
das Medium reflexiv. Sich geben versus geben und gegeben werden. Owens und andere
heutige Interpreten von Warhol aus einer Sicht der queer studies kann man so
lesen, dass für sie dieses posierende Subjekt im Medium auch so etwas wie
ein blueprint eines politischen Subjekts ist, jenseits von Sadismus und Masochismus,
jenseits von ungebrochener Macho-Souveränität und minoritären
Opfer.
Fassbinder ist sich da nicht so
sicher. Es ist nicht klar, ob er den Poser nur durch sadistische Angriffe und
masochistische Zustände testen, verstören und letzten Endes erheben
will, oder ob er gerade den Schritt aus der Pose für den eigentlichen und
wünschenswerten Durchbruch zur Politik hält. Man könnte den Unterschied
zwischen beiden in dieser Frage in die Sprache von 1975 übersetzen. Hughes
und Riley unterscheiden im Gespräch mit Fassbinder zwischen der Warholschen
Homosexualität als Folge sexueller Unterdrückung und Fassbinders Homosexualität
als Spiegelbild der Heterosexualität. Farber stellt Fassbinders "marxist
world" dem "liberated SoHo" gegenüber. Die in den 90ern
ausgetragenen Diskussionen zwischen "subkulturalistischen" und "universalistischen"
Befreiungstheorien werfen hier die Schatten ihrer Antagonismen voraus.
Es gibt aber auch bei Warhol eine
andere, eine zweite Instanz, die sich zwischen die rein mechanische Kamera und
die reine Pose schiebt – ohne jetzt zur Narration zu streben. Diese Instanz
verkörpert mehrfach Warhols Kollaborateur und Script-Autor Ronald Tavel.
Während des "Screen Tests No 2" mit Mario Montez stellt dieser
später vor allem als Theaterautor hervorgetretene Ronald Tavel aus dem
Off einige Fragen an Montez. Montez bewirbt sich für eine Rolle und anders
als bei den meisten anderen Filmen aus der Screen- Test-Reihe scheint es sich
tatsächlich um eine Art Casting zu handeln, jedenfalls glaubt Montez das.
Montez, der u.a. in Jack Smiths "Flaming Creatures" eine Drag-Rolle
gespielt hat, soll auch hier für eine weibliche Rolle vorsprechen. Doch
Tavel treibt ihn immer weiter in die Enge und demütigt ihn. Schließlich
befiehlt er ihm seinen Hosenschlitz zu öffnen. Montez ist sichtbar im Kern
seiner Person zutiefst beschämt, beleidigt und gedemütigt. Zum einen
wegen der immensen allgemeinen Respektlosigkeit und sexuellen Demütigung
an sich, zum anderen wegen der spezifischen Demütigung seiner sexuellen
Identität als Drag Performer.
Zugleich erscheint dem Zuschauer
Montez Verwirrung und seine Scham auf verwirrende Weise als ein schöner
und vor allem beabsichtigter Moment. Die verhaltene Empörung und Unsicherheit
von Montez, die in keinem Verhältnis zu Tavels Gemeinheit steht, nicht
weil Montez höflich wäre, sondern weil ihn Tavel so getroffen hat,
öffnet einen unüberschaubaren moralischen Abgrund, der sich zwischen
der Zumutung und Beleidigung und ihrer Grundlosigkeit öffnet. Während
die starre Kamera immer mehr zum Freund des Darstellers wurde, zu seinem Anker
in seiner Darstellung, erscheinen die immer sarkastischeren Regieanweisungen
von Tavel bodenlos und gemein. Montez wirkt wie von einer Waffe getroffen. Der
Moment hat eine Tiefe, die dazu führt, dass der Voyeurismus und die Identifikation
oder Empathie mit der beschämten Figur sich gegenseitig verstärken
und infrage stellen.
Douglas Crimp hat darauf hingewiesen,
dass hier strukturell und historisch ein proto-politischer Moment steckt, der
eben nicht so sehr in einer Aufklärung über sexuelle Unterdrückung
läge, sondern in der Mobilisierung gerade der Besonderheit des queeren
Subjekts(6) – und zwar in einem historischen Sinne für die proto-politische
Entwicklung von queer politics vor Stonewall, die Crimp "Queer before Gay"
nennt als auch im Sinne einer Mechanik der Entstehung und Herstellung von Präsenz
und Ausstrahlung. Im Anschluss an Eve Kosofsky Sedgwick beschreibt Crimp wie
Tavels wohl gesetzte und sadistisch fein komponierte Grausamkeit schließlich
die "außerordentliche Reinheit des Superstars" hervorbringt:
"Er hat nichts an sich als Glamour", zitiert Crimp Stefan Brechts
einschlägiges Werk "Queer Theater" aus dem Jahre 1972. Mit anderen
Worten, erst die zusätzliche Arbeit eines Dompteurs und Dominators bringt
die Qualität dieser Reinheit hervor, die Warhol ursprünglich für
die reine, nur von dem Darsteller und einer demütig aufzeichnenden Kamera
erwartet hatte.
Warhol brauchte also eine Doppelspitze.
Während er mit der Kamera zu seiner geliebten Maschine verschmolz und sich
quasi als Spiegel anbot, und Tavel (oder andere wie Chuck Wein, der in "Beauty
# 2" die arme Edie Sedgewick quält), die mit Regieanweisungen und
auf die einzelnen Akteure zugeschnittenen Fragen und Verunsicherungen die Spiegelung
in der Rolle gefährdeten. Dabei war für die Factory-Akteure die Fallhöhe
besonders hoch. Sie hatten schließlich auf ihre Rolle gewettet, sie sollte
tragfähig sein, wurde sie kaputt gemacht, wie bei Mario Montez, gab es
keine andere Identität, keine allgemeine Schauspieler-Profi-Routine, auf
die sie sich zurückziehen konnten. Mit Warhols Kamera hatten sie sich geeinigt,
dass sie mit dieser Kamera-Person identisch werden würden, Tavel durchbrach
diesen Vertrag, indem er sich benahm wie ein Regisseur. Fassbinder, das wäre
meine These, wäre eine Synthese aus Warhol und Tavel, dem good cop des
spiegelnden Mediums und dem bad cop des sadistischen Theatertyranns. Diese Synthese
ist nicht nur die Synthese aus zwei scheinbar gegensätzlichen Schauspielertheorien
sondern auch zweier verschiedener Medienpraktiken, zwischen dem nackten, gefährlichen
Präsenz auf der Bühne, verschärft dadurch, dass auf dieser Bühne
in Kommune und Factory mein Leben stattfindet, einerseits und der sicheren Situation,
in der ich eine Kamera allein durch meine idiosynkratische, glamouröse
Präsenz zwingen kann, mir zu folgen andererseits.
Man hat sich immer gewundert,
warum es Fassbinder so leicht fiel, zwischen Theater und Film, aber auch Film
und Fernsehen zu wechseln, hat seine Meisterschaft der Adaption von einem Medium
zum anderen gelobt. Genau das ist aber die eigentliche synthetische Fähigkeit,
die sich in den beiden gegensätzlichen Ideen der Schauspielerführung
spiegelt: einerseits soll der Schauspieler gar keiner sein, sondern nur eine
beautiful person, die nur ihre Pose, die ihr Leben ist, zur Schau stellt; andererseits
soll der Schauspieler durch persönliche Verletzungen auf das Unwahre seiner
Pose zurückgeworfen werden in den Abgrund der Darstellung, bei der es gerade
für ihn, den Schauspieler/Superstar des Warhol-Typus keine Versicherung
gibt.
Diesen Moment gibt es nun bei
Fassbinder andauernd. Für die frühen Filme hat auch wieder Farber
eine sehr schöne Formulierung gefunden, er spricht von dem Prinzip der
Musical Chairs – also dem Spiel, das im deutschen Sprachraum "Reise nach
Jerusalem" heißt. Eine Gruppe ist in Bewegung, eine ganze beiläufige
Szene lang, in der im Grunde nur Posen eingenommen und ausgefüllt werden
und plötzlich trifft einen die Keule der Demütigung und er ist am
Boden oder draußen. In "Warnung vor einer heiligen Nutte" hat
Fassbinder die eher flachen Bühnenbilder seiner allerersten Filme etwas
weiter geöffnet. Die posierenden Gruppen stehen nun in der Tiefe eines
Raumes, meistens ein Hotelfoyer oder ein Filmset. Wieder stehen Paare und kleine
Grüppchen an der Bar oder knutschen oder betreiben das, was man früher
Engtanz nannte, zu Fassbinders geliebten Leonard-Cohen-Songs. Die Bewegung besteht
nun darin, dass immer einer in die Gruppe einbricht, jemanden beleidigt und
der Gedemütigte zur nächsten Gruppe zieht, wo er entweder erneut beleidigt
wird oder einen anderen Vorgang auslöst, der in einer Demütigung endet.
Wir schauen also zu, wie sich
die Personen gruppieren, sich in Posen stabilisieren und dann in der Pose zerschmettert
werden und vor Scham die Gruppe verlassen müssen. Später schälen
sich bei Fassbinder aber Einzelschicksale heraus. In "Faustrecht der Freiheit", "Händler der vier Jahreszeiten" und "Angst essen Seele auf" geht es nicht mehr um einen endlosen Zirkel von Pose und
Zerstörung, sondern um exemplarische Schicksale, um Narration und Entwicklung.
Hier kann die Logik der Pose nicht mehr greifen und womöglich sind diese
Filme auch im Sinne der oben angedeuteten Möglichkeit als ein Einspruch
gegen die Pose zu lesen.
So wie Douglas Crimp die Strategie
Tavels im "Screen Test No 2" im Kontinuum proto-politischer schwuler
Kultur vor Stonewall gelesen hat und in der vorhin beschriebenen Weise gerade
in der Vertiefung der Pose und ihrer Zuspitzung in Momente der Scham und damit
verbundener Ausstrahlung und nicht in ihrer normalisierenden Eintragung in ein
Drama ihren wesentlichen Punkt einer spezifisch queeren Politik sieht, die heute
durch die Homogenisierung und Desexualisierung schwuler Kultur in den USA"
gefährdet sei, so hat Fassbinder darauf bestanden, keine "romantische
Sicht auf das Leben der Homosexuellen"(7) zu entwerfen, sondern, wie er
sich ausdrückt, zu zeigen, dass alle seine Minderheiten eben einfach nur
Unterdrückte seien, wenn auch markierte Unterdrückte.
Crimp weist dagegen darauf hin,
dass diese Beschämung (oder Bestrafung) im Kontext einer frühen Selbstverständigung
einer schwulen Community gelesen werden muss. Fassbinder hat die posierenden
Subjekte universalisiert: es sind Proletarier, Gastarbeiter, Prostituierte und
andere Marginalisierte. Dennoch funktionieren auch bei Fassbinder ihre Posen
und Beschämungen genau so, wie sie von Warhol/Tavel bzw. Crimp als schwule
bzw. queere konstruiert sind, nach dem gleichen Mechanismus. Und das gilt nicht
nur für die fiktiven Charaktere, sondern auch und vor allem für das
Verhältnis der Darsteller zu ihrer Rolle. Die Rolle ist zugleich Chance
der Selbstdarstellung und Beschämung. Folgt man indes Crimp, und dafür
gibt es bei Fassbinder viele Bilder, führt aber gerade diese Beschämung
zu dem Glanz der Figuren in einem queeren Sinne.
Was Fassbinder nur anderes macht,
ist, dass er die Beschämung aus der Immanenz der Darstellung löst,
sie gilt auch den fiktiven Charakteren. Ja, sie verschiebt sich immer mehr zu
den unglaublichen Ungerechtigkeiten, die diese erleiden müssen. Wie sagt
doch Farber über das entscheidende Element der Plots des mittleren Fassbinder:
Humiliation; daily, hour by hour, in the shop, at breakfast, humiliation everywhere(8).
Diese fortgesetzten Demütigungen sind aber nur locker an Plots gebunden,
sie haben nur sehr locker etwas mit Entwicklung zu tun. Sie sind eher zirkulär
wie Höllenstrafen und Hadesqualen – so statisch wie die Pose selbst. Die
Demütigung bricht nicht wie bei Warhol und Tavel in die Pose ein, sie ist
genauso permanent wie diese – und sie hat noch einen anderen, einen zusätzlichen
Hintergrund. Die Demütigung ersetzt nach und nach die Pose und wird zu
einer eigenen, ähnlichen, aber alternativen Struktur. Sie erscheint nämlich
nun vor dem Hintergrund einer unfassbaren Ungerechtigkeit. Während die
Demütigung bei Tavel/Warhol punktuell und gemein ist, ist sie bei "Angst
essen Seele auf", "Händler der vier Jahreszeiten" etc. unfassbar
ungerecht und strukturell. Die Opfer leben in ihr wie in einer Pose, nur dass
sie nicht mehr die Macht haben, sich im Vollbesitz ihrer expressiven und exhibitionistischen
Kräfte an eine Straßenecke zu stellen oder sich in eine bestimmte
Schale zu werfen: sie werden gestellt.
Doch wie bei "Screen Test
No 2" hat die Ungerechtigkeit etwas Schönes, nein sie hat etwas Erhabenes.
Sie ist unendlich und scheint uns verschlingen zu können, aber wir stehen
diesseits mit aller unserer Empathie und schauen zu. Fassbinder hat wiederholt
darauf hingewiesen, dass man die Schönheit des Leidens verstehen lernen
muss, um seine Filme zu verstehen(9). Dennoch ist da kein simpler Masochismus
gemeint, der ja immer schon die eine Demarkationslinie der Pose gebildet hat
und als Nachbar jederzeit zur Verfügung steht. Im Masochismus wird das
Leid gesucht und gefunden: es kann keine Erhabenheitseffekte geben, es bleibt
diesseitig. Der Erhabenheitseffekt entsteht vielmehr durch das Gegenüber
der ungerechten Macht und das Gerechtigkeitsgefühl, das sich beim Zuschauer
einstellt, der versucht, sich des Bodens, der Sicherheit zu versichern, der
ihn davor schützt, in diesen Abgrund zu stürzen.
Im Gegensatz zur klassischen Tragödie,
die ja ähnlich funktioniert, aber zur Grundlage hat, dass genau das Gesetz,
das den mit Empathie besetzten Protagonisten ins Unglück stürzt, von
uns bejaht wird und werden muss, ist diese Gerechtigkeitsidee, die sich im Negativ
an den Ungerechtigkeiten entwickelt, erst im Werden. Sie ist unfertig, wir schauen
ihr zu, wie sie sich bei uns entwickelt. Das ist in jedem Falle politisch: es
ist eine Gerechtigkeit a venir und doch ist sie auch unmittelbar und quasi spontan
zur Stelle. Sie wirkt auf den ersten Blick banal, weil sie sich so verlässlich
einstellt wie die Tränen sich im Melodram einstellen, aber sie beruft sich
nicht auf Selbstverständlichkeiten zwischen Guten und Bösen, sondern
muss mit den Konfliktabgründen umgehen, die sich unter lauter Opfern entwickeln.
Es gibt einen Bezugspunkt der Bosheit außerhalb des Konflikts – außer
den aus der Ungerechtigkeitserhabenheit sich negativ entwickelnden Gerechtigkeitsgefühlen.
Wir sind gezwungen, um dies aushalten zu können, uns Gerechtigkeit vorstellen
zu müssen.
Vermutlich hat Fassbinder wie
Warhol die gesellschaftliche Produktion der Pose und die technisch darstellerische
im Leben der Darsteller und ihrer Gruppe immer wieder parallelisiert. Die verheerenden,
immer wieder gemeldeten und in Memoiren von Fassbinder-Vertrauten und auch ihm
selbst gerne geschilderten, Grausamkeiten innerhalb der Gruppe(10) scheinen
die auf der fiktiven Ebene dargestellten Ungerechtigkeiten überlagert und
befeuert zu haben. Nur in der Gruppe gab es dann den, den es in den Filmen oft
nicht gibt: den Chef, den Machthaber, die Autorität. Die Leute haben ihn
dann geliebt und gehasst, die Zuschauer hatten den Vorteil, darüber hinaus
geraten zu können.
Diedrich Diederichsen
Dieser Text ist zuerst in französischer Übersetzung erschienen in: Trafic, Revue du cinéma, Nr.55, Automne 2005, darauf in: new filmkritik für lange texte [http://filmkritik.antville.org/]
(1) Manny Farber, Rainer Werner Fassbinder, Film Comment Vol.
11, No 6, Nov./Dez. 1975, zitiert nach derselbe, Negative Space, New York: da
capo 1988 S.307f.
(2) a.a.O., S.312
(3) John Hughes/Brooks Riley, A New Realism, Film Comment Vol.
11, No 6, Nov/Dez 1975, zitiert nach dieselben, Ein neuer Realismus, (deutsch
von Marion Schmid), in: Robert Fischer(Hg.), Fassbinder über Fassbinder,
Frankfurt/M: Verlag der Autoren 2004, S.348f.
(4) Kurt Raab/ Karsten Peters, Die Sehnsucht des Rainer Werner
Fassbinder, München: Bertelsmann 1982, S.137
(5)
Craig Owens, Posing, in derselbe, Beyond Recognition.
Representation, Power and Culture,
(6) Douglas Crimp, Mario Montez, for shame, in Diederichsen, Frisinghelli,
Gurk, Haase, Rebentisch, Saar und Sondergger (Hg.), Golden Years – Positionen
und Materialien zur queeren Subkultur 1959-1974, Graz: Camera Austria, im Druck
(7)
Hughes/ Riley, a.a.O., S.348
(8) Farber, a.a.O., S.313
(9) John Hughes/Ruth McCormick, Der Tod der Familie – Rainer Werner
Fassbinder über "Angst vor der Angst", in Robert Fischer (Hg.), a.a.O., S.394
(10) Wolfgang Limmer/Fritz Rummler, "Alles Vernünftige
interessiert mich nicht", in Fischer, a.a.O., S.510ff
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