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Pop-Star
mit Brille
Ich sah Fassbinder, zunächst
als Darsteller, das erste Mal 1969, auf einem Festival. Damals musste ich nicht
einmal den Tod fürchten, die Welt würde sich bald so ändern,
dass mir ein weiteres Leben bevorstand. Was ich jetzt lebte, war nur ein Vorleben,
so wie die Kindheit nur eines gewesen war. Bei einer Versammlung der Eltern
des Kindergartens, in den wir unsere Kinder schickten, sagte ein Vater-Genosse,
eine gewisse Ordnungsfunktion der Polizei müsse man doch anerkennen; dass
sie etwa die Kinder über die Straße brächte, man müsse
notwendige Ordnung und Unterdrückung auseinander halten.
Während Godard nach den Erschütterungen
von 1968 nie wieder zu den Filmen zurückkehrte, die er, mit recht viel
Erfolg, zuvor gemacht hatte, glich Fassbinder bald seine Filme dem an, was jedermann
so unter einem Film versteht. Er gab die Plansequenzen auf und machte die Interaktion
der Darsteller wieder zur Hauptsache. Die Kamera sah sich nicht auf dem Schauplatz
selbstständig um, sie nahm bloß aus ein paar Richtungen das Spiel
der Akteure auf, um das Material für eine Montage zu erzeugen, für
die Akzentuierung des Darsteller-Spiels mit Schnitten. Auch Wenders enttäuschte,
weil er bei seinem ersten großen Film ("Die Angst des Torwarts beim
Elfmeter") mit Schuss und Gegenschuss erzählte. Das war für mich
ein Verrat an der Revolution. Da zeigte sich, dass die Menschen sich nicht darauf
verlassen wollten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, sie gaben der – in
Gedanken – schon demobilisierten Polizei die Uniform und die Waffen zurück.
Bald würde es auch wieder eine Armee geben, mit einem etwas anderen Namen
als zuvor.
Wenn ich einem politischen Freund
oder Genossen zu erklären versuchte, dass es einen Zusammenhang von Filmform
und Politik gab, kam ich damit nicht weit. Wie ein Film erzählte, mit was
für Einstellungen, das war keinem wichtig, während doch bei der Musik
der Sound so viel, oder alles, bedeutete. Viele, die an Adorno ihr Sprachvermögen
geschult hatten, arbeiteten sich den Tag über mit Worten ab und benutzten
am Abend das Kino, das Fernsehen, als Erholungsstätte. So wie die Fabrikarbeiter
von ihrem Arbeitstag so erschöpft sind, dass sie am Abend nur noch Schund
aufnehmen können sollen, waren sie vom politischen Denken und Sprechen
– "Anstrengung des Begriffs" – so erschöpft, dass sie nur noch
einen Italo-Western sehen konnten – "Ermattung des Bildes". Sie kamen
gar nicht dazu, mich zu fragen, wie es denn mit Schuss und Gegenschuss bei den
amerikanischen Regisseuren stand, die ich hochhielt. Ich hätte antworten
können: Godard wie Straub beriefen sich auf Hawks oder Ford, machten aber
Filme, die auf den ersten Blick damit kaum etwas zu tun hatten. Es ging um eine
Essenz, nicht um die Syntax. Ich hatte von den Nouvelle-Vague-Autoren die kanonische
Namensliste übernommen, auch ich versuchte, beim Anschauen etwas ganz anderes
aus den Amerikanern zu machen. Ich sah so sehr von deren manifester Mitteilung
ab, dass ich die Worte, die gesagt wurden, gänzlich überhörte
und nicht auf den Ausdruck der Darsteller sah, eher auf den Raum zwischen den
Filmfiguren.
Für Fassbinder nahm mich
zunächst ein, dass er die Straubs in sein Theater eingeladen hatte und
in dem Stück, das sie dort inszenierten und in ihren Film aufnahmen, mitspielen
ließen. In "Liebe ist kälter als der Tod"
zitierte er eine Sequenz aus "Der Bräutigam, der Komödiant und
der Zuhälter" der Straubs, ein wunderbares langes Travelling über
eine Straße mit Prostituierten, die aber nicht ausgestellt werden, in
der Mitte der Einstellung setzt Bach-Musik ein. Das ist ein starker Effekt.
Auch Pasolini hatte schon Bach-Musik eingesetzt um eine Verbindung zwischen
den ausgebeuteten Menschen heute und dem Jesusleiden herzustellen, auch er hatte
die Musik mitten in der Szene beginnen lassen, sodass die Willkürlichkeit
der Montage zu empfinden war. Bei den Straubs kam noch hinzu, dass der Film
auf einer Bühne mit Darstellern beginnt, dann das Register wechselt und
auf eine wirkliche Straße ohne Darsteller springt. Und mit dieser Parallel-Verschiebung
ist der Zusammenhang von Ausgebeuteten und Gottessohn deutlich Konstruktion,
eine geometrische Übung, die auf Wahrheit und Schönheit in einem aus
ist.
In "Katzelmacher" gab es ein paar der Darsteller zu sehen, die in "Der
Bräutigam…" gespielt hatten, und es gab ein Godard-Zitat. Eine Frau
gibt einer anderen einen Stapel mit Groschenheftchen zurück und liest eine
besonders schöne Stelle vor. Die gleiche Stelle, die in "Vivre sa
vie" eine Kollegin von Nana im Schallplattenladen vorliest: "Sein
Blick war auf den türkisenen, mit Sternen übersäten Himmel gerichtet,
als er sich mir zuwandte. ‚Alles an Ihnen verrät ein intensives Leben.
Logischerweise müssten Sie…‘ Ich unterbrach ihn: ‚Sie messen der Logik
viel zu viel Wichtigkeit und Einfluss zu.‘"
"Katzelmacher" besteht
nur aus Plansequenzen. Keine einzige Großaufnahme, keine einzige Totale.
Die Kamera bewegt sich nicht, mit einer Ausnahme. Ein halbes Dutzend mal gehen
je zwei Personen über einen breiten Hof, die Kamera fährt dabei vor
ihnen her, eine Klaviermusik ist bei diesen Travellings zu hören, die einzige
Musik im Film. Diese Travellings enden so abrupt, dass manchmal der letzte Ton
nicht ausklingen kann. Diese Fahrten sind eine Art Refrain und sie machen vor
allem deutlich, dass es auch in den Strophen keine wirkliche Bewegung gibt.
Ich glaube, diese Erzählfigur, ein solches formalisiertes Travelling immer
wieder, hat es im Kino noch nie gegeben. Immerfort scheint die Sonne, als wäre
der Film an einem einzigen schönen Tag gedreht.
Männer und Frauen aus einer
Nachbarschaft in München. Auf einem Hof versammeln sie sich, in wechselnder
Besetzung stehen sie in einer Reihe an einem Geländer, das den Schacht
zu einem Keller absperrt. Sie setzen sich auch auf das Geländer oder auf
dessen Fundament. Sie nutzen anscheinend jede Gelegenheit, dort abzuhängen,
wie Jugendliche, die nicht mit den Eltern in der Wohnung sein wollen. In den
Wohnungen aber leben sie allein oder zu Paaren, ohne Eltern und ohne Kinder.
Sie sind auch zusammen in der Gastwirtschaft, auch da in wechselnder Besetzung.
Bei jedem Zusammensein sagt ein jeder kurze Sätze in einem Kunstbayrisch,
wobei eigentümliche Wendungen, so die doppelte Negation, ausgestellt werden.
Sie besprechen kaum etwas Faktisches, selbst das Faktische klingt bei ihnen
wie eine Sentenz. Sie sprechen ständig kleine Lebensweisheiten aus. Die
Männer sind hauptsächlich stumpf und haben einen Zug zum Kleingangster
oder Zuhälter. Die Frauen sind auf das Schönsein und auf die Männer
aus, sie tragen sehr kurze Mini-Röcke. Eine Frau hat etwas Vermögen
und hält sich für etwas Besseres. Alle Schauplätze sind spärlich
dekoriert, an den weißen Wänden ist meistens nichts. Die Kamera steht
immer im rechten Winkel zur Rückwand, so wie es das in der frühen
Kinematographie gab. Auch wenn eine Szene einmal in einem Auto spielt, bewegt
sich dieses nicht ein Stück, das sieht noch künstlicher aus als ein
Sessel oder Gastwirtschaftstisch, aufgenommen im rechten Winkel vor der Rückwand.
Katzelmacher, von Fassbinder gespielt, ist ein Gastarbeiter aus Griechenland
– die Deutschen sagen "Fremdarbeiter", wie im Krieg, und halten ihn
lange für einen Italiener. Sie reden schlecht von ihm und sind sich darin
einig, ohne dass damit die Gehässigkeiten unter ihnen aufhörten. Sie
reden schlecht über ihn auch wenn sie ihn zu einem Bier einladen, was er
nicht versteht oder verstehen will. Als seine Zimmervermieterin mit ihrem Mann
und dem "Griech aus Griechenland" in die Gaststätte kommt, werden
die drei von der Gruppe wieder vertrieben. Und als Katzelmacher einmal über
den Hof geht und dort nur Männer stehen, fallen sie über ihn her und
verprügeln ihn. Das bringt ihn nicht dazu, fortzuziehen. Und auch seine
Wirtin schmeißt ihn nicht raus, weil er ihr für ein Zimmer – das
er mit dem Ehemann teilen muss – 150 Mark zahlt. Das gibt den Ausschlag. Dass
man den ausländischen Arbeitern soviel Geld abnehmen kann belegt, dass
sie für die "Deutsche Wirtschaft" von Nutzen sind.
Der Katzelmacher hat auch eine
Liebschaft mit der Frau, die von Hanna Schygulla gespielt wird. Einmal sitzen
sie zusammen auf einer Bank, und das sieht aus wie bei Stroheim. Das Sonnenlicht
macht aus den Stadtpark-Bäumen einen Zauberwald. "Katzelmacher"
ist schon deshalb politischer als die meisten Filme dieser Zeit, weil er von
Vielen ausgeht und nicht von einer Person oder einem Paar. Die ganze Nachbarschaft
steht in Zusammenhang und die Liebe zum Gastarbeiter ist deshalb vom Gastarbeiter-Verprügeln
nicht zu trennen.
"Warum läuft Herr R. Amok?" sah ich damals im Fernsehen, in schwarz-weiß, weil
wir noch keinen Farbfernseher hatten. Auch die Filme von Rohmer kannte ich nur
von der schwarz-weißen Fernsehwiedergabe, so waren die Gegenstände
und Menschen stärker konturiert und ein Blick in die Bäume (in "La
Collectionneuse") sah so zweckdienlich aus wie die Großaufnahme eines
Revolvers im Gangsterfilm.
Herr R. ist ein angepasster Mensch,
zu Beginn des Films kommt er mit seinen Arbeitskollegen aus der Hintertür
eines Häuserblocks in München, die Handkamera geht ihnen voraus. Die
Kollegen erzählen Witze und R. schweigt dazu. Als sie um die Ecke des Hauses
biegen, kommt ein Auto in den Hofweg gefahren, setzt wieder zurück. In
diesem Augenblick wird deutlich, dass das Auto nicht zur Inszenierung gehörte
und nur zufällig in die Einfahrt einbog, um zu wenden. Eine Einstellung,
für die man nicht bezahlt, die man nicht offiziell macht, mit Polizei-Genehmigung
und Absperrung, nennt man in der Branche eine "gestohlene Einstellung".
Alle Einstellungen in diesem Film über Herrn R. sehen gestohlen aus. Der
Film behauptet, von ganz alltäglichen Menschen in gänzlich alltäglichen
Situationen zu handeln. Aber R. und die Menschen um ihn, Familie, Freunde, Kollegen,
sehen aus, als hätten sie sich ins Bild geschlichen. Fahren sie mit dem
Auto, so ist zu erwarten, dass die Polizei den Wagen gleich anhält, und
sitzen sie in der Gastwirtschaft, muss eigentlich die Wirtin gleich kommen und
sie rausschmeißen.
Der Film will erzählen, behauptet
zu erzählen, welchem Anpassungsdruck der Alltagsmensch in der Bundesrepublik
unterworfen ist. Davon ist nichts zu glauben. Der Hauptdarsteller Kurt Raab
sieht verkleidet aus, hat einen Anzug an wie zur Konfirmation und hat eine Frisur,
als habe ihm die Mutter die Haare gekämmt. Die Darsteller haben deutlich
keine Erfahrung mit dem Erwachsenen-Leben, das sie da spielen und anklagen.
Eine Sequenz, die mir damals sehr
gefiel, spielt am Arbeitsplatz von R., die Kamera schweift von ihm ab zu seinen
Kollegen. Eine Frau schreibt auf der Maschine, ihr Klappern begleitet die ganze
Szene, in der nicht gesprochen wird. Ein Bauzeichner ist zu sehen, der mit äußerster
Akribie seine Zeichengeräte einrichtet und dann ein paar Bäume neben
ein Gebäude setzt. Es geht um die Darstellung eines großen Wohnblocks
und sicher soll auch dargestellt sein, dass die Sklavenarbeit des Zeichnens
sich in der Sklavenexistenz in solchen Wohnblocks fortsetzt. Der Ordnungswahn
regelt das Leben. Das Leben auf den rechteckigen Grundflächen kann nur
ein überreglementiertes und überall gleiches sein – allerdings fasst
auch eine Filmkamera jedes denk- oder erträumbares Bild in den gleichen
rechteckigen Rahmen. Gegen die falsche Ordentlichkeit rebelliert der Film, indem
er mit der Handkamera in Plansequenzen umherschweift und dabei vorgibt, er habe
kein bestimmtest Ziel. Eigentlich ist jede Szene in diesem Film durchaus geeignet,
zu einem Bild von R. und seiner Umgebung beizutragen, bei der Umsetzung aber
schämt sich der Film zu sagen, was er sich zu sagen aufgetragen hat. Er
fängt etwas an und nimmt es zurück.
Ich glaubte damals daran, dass
alles ganz anders werden müsse, wenigstens im Film. Es gab zu Beginn der
siebziger Jahre durchaus schon Filme, die versuchten, politische Positionen
in die Alltagssprache des Kinos einzuführen. Von Entristen also, die ihre
Filmpersonen etwas Fortschrittliches tun oder sagen ließen, während
der Film so aussah wie jeder andere.
Stand ich an einem Morgen mit
Flugblättern vor einem Fabriktor, meistens einem der Berliner Elektrowerke,
nahm kaum eine der Frauen ein Blatt auch nur an. So erfuhren wir nicht, ob die
Frauen – die meisten ungelernten und angelernten Arbeitskräfte waren weiblich
– mit einem Wort wie "Entfremdung", "Entsublimierung", "tendenzieller
Fall der Profitrate" nichts anfangen konnten oder nicht wollten. Also wurden
die Flugblätter umgeschrieben, in die vermeintliche Alltagserfahrung der
Fabrik-Arbeiterinnen übersetzt. Und wie diese Umschreibungen kamen mir
auch die neuen politischen Filme vor. Wie die Beispiele, die der Lehrer in der
Schule gibt: eingekleidete Rechenaufgaben. Die Filmpersonen redeten und handelten,
damit der Lehrstoff nicht trocken blieb. Eine klassenkämpferische oder
feministische Haltung schrieb man den Filmpersonen natürlich auch in den
Mund, damit sie wenigstens im Film so sprachen, wie wir uns das fürs Leben
wünschten.
Der Film über Herrn R. musste
mir schon deshalb damals gefallen, weil Fassbinder die Versöhnung von herkömmlichem
Film und neuer Politik nicht erpressen wollte. Mit seiner Fernsehserie, "Acht
Stunden sind kein Tag" ist er dieser falschen Versöhnung nahe gekommen.
In dieser Serie soll ständig der Beweis geführt werden, dass Arbeiter
oder Hausfrauen auch Film- oder Fernsehhelden sein können. Wenn sie auf
ihren Rechten bestehen und fortschrittlich sprechen, tun sie das in der gleichen
Weise, in der die Figuren in "Katzelmacher" ihre Ressentiments vortragen.
Ihre Ansichten sind eingefleischt. Wenn Fassbinder bei den Szenen in der Fabrik
die sprechenden Arbeiter mit Reiß-Schwenks verband, kam mir das nicht
nur hässlich vor. Es kam mir vor wie eine offensiv gemachte Hilflosigkeit.
Die Arbeiter riefen sich von Maschine zu Maschine etwas zu, wie man das in der
Gastwirtschaft von Tisch zu Tisch tut. Die Maschinen wurden damit Gasthaustischen
gleichgesetzt und es blieb aus dem Spiel, dass die Maschinen selbst die Arbeiter
zu einander in Beziehung setzen. Jedenfalls die einzelnen so von einander trennt,
dass Dialogworte diese Kluft nicht einfach überbrücken können.
Standen wir mit Flugblättern
vor einer Fabrik, so wollten die Arbeiterinnen kein Blatt von uns haben, die
Frauen aus den Büros aber gaben uns einen interessierten Blick. Mit unseren
manifesten Botschaften drangen wir nicht durch, eher mit der Geste unseres Tuns.
Wir scheiterten politisch und hatten kulturell Erfolg. Fassbinder beteiligte
sich nie an der Werbung für einen neuen Lebensstil. Sein Erfolg aber trug
zu unserem, zweifelhaftem, bei. Fassbinder hatte mit allem, was er tat, Erfolg.
Selbst eine Fernsehserie über Arbeiter, in der von der Kollektivität
oder wenigstens Massenhaftigkeit der Arbeiter-Existenz nichts zu finden ist,
wurde ihm als Erfolg gutgeschrieben.
Die Intellektuellen in den USA
begannen schon in den Siebzigern in Fassbinder den Autoren zu sehen, der die
Gender-Fragen ansprach. In der Bundesrepublik war Fassbinder, zu Lebzeiten,
etwas anderes. Die Bundesrepublik war nach dem Krieg schnell reich geworden
und schämte sich etwas ihres neuen Reichtums. Nicht, weil es der Krieg
gewesen war, der die industriellen Produktionsanlagen modernisiert und die Massenfertigung
ermöglichte hatte. Das Sprechen vom Wirtschaftswunder war sich nicht bewusst,
dass die industrielle Kapazität nach Kriegsende größer gewesen
war als vor dem Krieg. Scham wurde empfunden, weil man zwar Geld hatte, aber
keine Lebensart.
Das begann sich nach 1970 zu ändern,
nun gab es Kleidung aus Deutschland, die sich exportieren ließ, und aus
der Scham wurde ein Triumphieren. Es war mir schwer erträglich, dass der
"Junge Deutsche Film" in der Welt großes Ansehen gewann und
in der Bundesrepublik so getan wurde, als wäre er die Entsprechung zur
Nouvelle Vague. Damit waren die Ansprüche der Nouvelle Vague zunichte gemacht.
Als Fassbinders vorletzter Film,
"Die Sehnsucht der Veronika Voss" im Fernsehen gezeigt wurde, war mir schon die erste Szene
unerträglich. Im Kino wird ein UFA- Film aus der Nazi-Zeit gezeigt und
Fassbinder sitzt im Zuschauerraum und sieht sich das mit großem Interesse,
mit Bewunderung, an. Der Film ist in Schwarz-Weiß, die Titel und vor allem
die Blenden sollen auf die fünfziger Jahre verweisen. Glücklicherweise
spielt der Film sonst weniger auf das Kino der Fünfziger in der Bundesrepublik
als auf das aus den USA an. Der Film soll in München spielen, aber es drehen
sich so viele Ventilatoren, als spielte die Geschichte in den Südstaaten.
In den Fünfzigern waren die Südstaaten in der Bundesrepublik durch
Tennessee Williams gegenwärtig. In seinen Stücken kamen Homosexualität,
Impotenz, Frigidität vor, ohne dass diese Worte ausgesprochen wurden. Sexualität
erschien in diesen Filmen wie ein entlegenes historisches Ereignis, wie die
Königs-Kriege in den Shakespeare-Dramen.
Die Grundidee zu "Veronika
Voss" ist rasant. Eine Nervenärztin verschreibt ihren Patienten Drogen
und lässt sich das teuer bezahlen. Sie presst ihre Kunden aus, sie müssen
ihr alles Eigentum überschreiben und wenn sie nichts mehr haben, bleibt
ihnen nur noch die Selbst-Tötung mittels Drogen, womit das Testament wirksam
wird. Der Film erzählt als Nebenstrang, wie ein altes jüdisches Ehepaar
von der Ärztin um Antiquitäten und Haus gebracht wird und sich das
Leben nimmt. Der Mann zeigt einmal die Tätowierung vor, er ist im Lager
gewesen. In der Bundesrepublik werden die Juden enteignet, wie vor der Deportation.
Dahinter steckt keine staatliche Stelle, es gibt nur einen korrupten Beamten
bei der Gesundheitsbehörde, der den Drogenhandel deckt. Es geht dem Film
darum, dass man mit Drogen Träume verkauft. Der Drogenhandel gehört
zur Traum-Fabrikation, wie das Kino. Die besitzgierige Ärztin, zu deren
Entourage auch ein dicker GI gehört, der stets US-Schlager summt, wohnt
in einer Wohnung aus reinem Weiß, das blendet wie der Schnee. Der Haushalt
der Ärztin, ihr Küchen-Kabinett ist eine Verächtlichmachung der
deutschen Kino-Industrie.
Auch Veronika Voss ist süchtig
– weil ihr Starruhm nicht anhält. Weil ihre große Zeit – die mit
der der Nazis zusammenfiel – vorbei ist. Sie war am Handel mit der Droge Kino
beteiligt und ist dabei selbst süchtig geworden. Sie stirbt daran. Das
ist heroischer als Überleben und Geschäfte-Machen – so charakterisiert
der Film die Kino-Industrie und die Bundesrepublik im Ganzen.
Die Darstellerin der Veronika
Voss, Rosl Zech, hat Szenen zu spielen, in denen sie taumelt, weil ihr die Droge
fehlt, und sie verpatzt aus dem gleichen Grund eine Filmszene – aus Gnade hat
man ihr einen Drehtag gegeben. Wenn sie das Drogenabhängigsein zu spielen
hat, tut sie das mit Minen und Bewegungen, die zum Repertoire des hysterischen
Stars gehören, zu dem sie sich stilisiert hat. Schlimmer ist, wenn die
Männer um sie herum Betrunkene spielen. Um Rückblenden als solche
zu kennzeichnen, wird ein Filter benutzt, der jedes Licht im Bild zu einem strahlenden
Stern vergrössert – ein Effekt aus dem Revue-Film. Eine solche Kennzeichnung
fehlt für die Droge – die Droge bleibt eine Leerstelle. Die Droge wird
nicht ins Bild gesetzt, ansonsten ist der Film voller Effekte. Wenn der alternde
UFA-Star zu Beginn des Films einen Sport-Reporter kennenlernt und beide zusammen
eine Fahrt in der Straßenbahn unternehmen, gehen hinter den Fensterscheiben
der Bahn ganze Wasserstürze nieder. Solche Übertreibungen sind damit
begründet, dass der Fassbinder-Film auf das Kino der fünfziger Jahre
anspielt, als das Erbe des UFA-Films noch lebendig war und es den Mut gab zu
etwas Größerem als dem Leben. Fassbinder hat großes Vergnügen
daran, mit den Effekt-Maschinen des Kinos umzugehen und führt die Effekte
eher vor, als dass er sich ihrer bedient. Wenn eine Straßenbahn, die zwischen
den Bavaria-Studios und München verkehrt, in vielen Einstellungen geboten
wird, in denen große Wasser an den Fenstern vorbeistürzen, ist das
ein Beweis für die Tatsächlichkeit der Straßenbahn und ein Schein-Beweis
für die Rekonstruktion der historischen Zeit, in der der Film spielt. Wenn
der Erzählapparat so sehr über einen Schauplatz gebietet, muss er
sich doch in diese Zeit gänzlich versetzt haben. So gelingt Fassbinder
ein Sprung in die Vergangenheit ohne all zu viel Historisieren. Gerade indem
er nicht behauptet, die Welt die er zeige, ginge neben dem gezeigten Ausschnitt
ebenso weiter.
Während die Bilder in vielen
Fassbinder-Filmen wurschtig waren – sind sie hier sehr genau, und manche sind
betörend schön. Viele sind der Konstruktion des Sets eingeschrieben.
Selbst wenn einiges an der Virtuosität angeberisch ist, ist das eine sympathische
Angeberei. Vielleicht, weil Fassbinder das alles nicht so wichtig war, weil
es ihm eigentlich nur auf ein paar Blick-Beziehungen ankam.
Nach seinen ersten Filmen gab
Fassbinder die Plan-Sequenzen auf suchte nach Gelegenheiten, das Anschauen oder
Angeschaut-Werden in Szene zu setzen. Nach Augenblicken, in denen der Blick
den Worten eigentlich nicht viel hinzufügen kann, und doch gewagt wird.
Das Pathos dieser Augenblicke war stark und dafür verzieh man Fassbinder,
dass seine Filme so vieles verweigerten. Keine Gewalt und kein Sex, auch die
Schönheit eher behauptet als bewiesen.
Dass Fassbinder mit solchen Filmen
ein internationaler Star werden konnte, war kaum wahrscheinlich. So unwahrscheinlich
wie dass eine Pop-Sängerin mit Brille in die Charts kommt.
Harun Farocki
Dieser Text ist zuerst in französischer Übersetzung erschienen in: Trafic, Revue du cinéma, Nr.55, Automne 2005, darauf in: new filmkritik für lange texte [http://filmkritik.antville.org/]
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