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Elio Petri


Als seine Schule bezeichnete er die Straße, die Kommunistischen Zellen, das Varieté und die Arrestzelle. Der 1982 verstorbene italienische Regisseur Elio Petri ist der große Chronist der Anni di piombo. Eine jetzt erschienene DVD-Box macht seine wichtigsten Filme zugänglich.

Sie machen diese Art von Filmen nicht mehr, die Europäer im Allgemeinen und die Italiener im Besonderen – heftig, direkt, persönlich und politisch. Mit der Frage, was man zu sagen hat, nicht mit der Frage, was gesehen werden will. Aber mit allen Sinnen und mit aller Sinnlichkeit. Wenn da Lust ist, dann ist da Lust, und wenn da Verzweiflung ist, dann ist da Verzweiflung, und wenn da Sarkasmus ist, dann ist da Sarkasmus. Und jeder Film ist ein Risiko. Alle tragen dieses Risiko, die Schauspieler, die Kameraleute, die Musiker, die Beleuchter, die Autoren. Im Zweifelsfall wird der Regisseur gegrillt. Jeder Film von Elio Petri war ein Fall für den Zweifel. Jeder bekam seine Schwierigkeiten mit den Produzenten, mit der Zensur, mit der Meinungsmacht der Rechten in Italien, mit der wahlweise dogmatischen oder unentschlossenen Linken, und, nur als Beispiel, mit der grandiosen Ignoranz der deutschen Filmkultur. Für das Mainstream-Publikum waren seine Filme zu schwierig und zu wenig linear, für die politischen Kritiker und die Godardisten waren sie zu frivol und uneindeutig. Und das bürgerliche Feuilleton warf ihm gar vor, er delektiere sich an den Perversionen, die er zeigte. So triumphierte Petri mit einigen seiner Filme auf den Festivals, etablieren aber konnte er sich nicht. Zumal es ihm nie um einen einheitlichen Stil ging; mit jedem Film versuchte Petri neue Methoden, neue Konfrontationen, jeder seiner Filme ist auch ein visuelles Risiko. Wir können hoffen: Petri lag nichts daran, sich zu etablieren.

Es gibt wohl keinen Regisseur, der die politische Kraft des italienischen Kinos in den sechziger und siebziger Jahren, aber auch die Verzweiflung und den ohnmächtigen Zorn der Anni di piombo, der bleiernen Jahre, so abbildete wie Petri. Als er ins Filmgeschäft kam, war das Kino noch eine Volkskunst (wie er selber sagte). So wie der Sport. Wie die populäre Musik. Die Kultur der Arbeiterklasse, aus deren unterem Segment Elio Petri kam. Eine Hoffnung, der Armut zu entkommen, so oder so. Und Petri brachte sich alles selbst bei, suchte sich seine Lehrmeister (wie Giuseppe De Santis) in diesem Spannungsfeld von politischer Aktion und Kultur. »Das Kino war nicht alles in seinem Kino«, sagt der Kritiker Aggeo Savvioli. Das ist es wohl, was immer noch fasziniert an Petris Arbeiten, dieser Mut zu einem radikal unreinen Film. Alles steckte er hinein, die Politik, die pornographische Fotoromanzi, die Psychoanalyse, Marx, den Streik, sein eigenes Leben, das Arbeiterleben seines Vaters, Comics, immer wieder, besonders heftig: die Kunst. »Meine Schule waren die Straßen, die Kommunistischen Zellen, das Kino, das Varieté, die Stadtbibliothek, die Arbeitslosenkämpfe, die Arrestzelle, die Zusammenstöße mit der Polizei, die Ateliers von Malern meines Alters, die Filmclubs. Und ich habe auch von denen gelernt, die man damals ›Berufsrevolutionäre‹ nannte.« Petri arbeitete als Kritiker und als Organisator der Kulturarbeit der Kommunistischen Partei. Er gehörte zu einer Generation der italienischen Linken, die sich dabei aufrieb, den Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis zu überwinden. Und den Widerspruch zwischen Politik und Kunst. Zwischen dem Privaten und dem Politischen, zwischen dem alten und dem neuen Italien. Es konnte ihnen, wie wir wissen, am Ende nicht gelingen.

Was für eine Art Kino konnte aus dieser Schule entstehen? Der Aufstieg Elio Petris in der damals in der Tat sehr offenen und sehr dynamischen italienischen Filmwirtschaft, nach einigen Drehbüchern und Kurzfilmen, war schnell und heftig. Mit seinem Spielfilm-Debüt »L’assassino« (»Würden Sie Alfredo einen Mord zutrauen?«) aus dem Jahr 1961 war er schon bei den Filmfestspielen in Berlin erfolgreich. Es ist eine Parabel, ein bisschen wie eine politische Relektüre von Kafkas »Prozess«, und doch auch wieder ganz anders, Fortsetzung und Revision des Neorealismus. Das erste Bürgerporträt Petris.

Marcello Mastroianni spielt diesen Alfredo Martelli als ermatteten Zyniker. Ein römischer Antiquitätenhändler, der durch schmutzige kleine Geschäfte reich geworden ist, wird eines Tages ohne Grund verhaftet. Nachdem man ihn lange in Unwissenheit gelassen hat, konfrontiert man ihn mit der Anklage: Er soll seine frühere Geliebte ermordet haben. Der Kommissar Palumbo, der erste von etlichen Polizisten in Petris Filmen, deren Methoden nichts mit Rechtsstaat und Demokratie zu tun haben, sondern eher direkt aus der Mussolini-Zeit zu stammen scheinen, drängt ihn in die Enge und zu unangenehmen Selbstoffenbarungen. Alfredo scheint es vor sich selbst zu grauen. Doch dann stellt sich seine Unschuld in diesem Fall heraus, und Alfredo fällt sofort in sein altes Verhalten zurück.

Mit Marcello Mastroianni unternimmt der Regisseur bereits in »L’assassino«, was er in einer Reihe weiterer Arbeiten mit ihm fortsetzen wird: eine radikale Demontage des italienischen Mannes. Zugleich beginnt seine Abrechnung mit der bürgerlichen Klasse, den neuen Bürgern des Booms immerhin, die ihren Egoismus und ihre Ängstlichkeit nicht einmal in höchster Gefahr ablegen. Vor allem aber ist es ein Film über die illegalen Praktiken der Polizei, was sofort zum Skandal und zu juristischen Problemen führte. Nicht zum letzten Mal in Petris Karriere. Und einer der Skandale (so erfahren wir aus dem umfangreichen Bonus-Material der »Elio Petri Edition«), betraf den Umstand, dass ein Polizist eine Wohnung mit schmutzigen Schuhen betrat, was ein guter italienischer Polizist nach Meinung der damaligen Zensur gewiss nicht gemacht hätte!

In »I giorni contati« (etwa: Die Tage sind gezählt) aus dem Jahr 1963 wechselt Petri nicht nur die Tonart, sondern auch die Perspektive. Nun erzählt er eine andere, eine Verweigerungsgeschichte aus der Arbeiterklasse. Der 54jährige Klempner Cesare (Salvo Randone) erlebt nach der Arbeit im Bus, wie ein Fahrgast tot auf einer Sitzbank aufgefunden wird. Gestorben an einem Herzinfarkt, einfach so. Als er am nächsten Morgen von seiner Vermieterin, bei der er seit dem Tod seiner Frau lebt, geweckt wird, weigert er sich aufzustehen. Cesare will nicht mehr arbeiten, er will leben. Er geht nicht mehr zu seiner Arbeitsstelle, sondern ins Museum. Er trifft sich mit seiner alten Liebe, die er dann doch nicht geheiratet hat, und besucht sein Heimatdorf. Aber die Existenz als Oblomow der Arbeiterklasse endet ganz einfach, weil Cesare das Geld ausgeht. Er lässt sich auf einen Versicherungsbetrug ein, doch im letzten Augenblick schreckt er davor zurück, sich den Arm brechen zu lassen. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu seiner Arbeit zurückzukehren. An dem Tag fährt er mit dem Bus nach Hause – und stirbt.

Auch in diesem Film geht es um eine Transformation des Neorealismus: die Verknüpfung der menschlichen mit der politischen Perspektive. In seinem nächsten großen Film nimmt Petri scheinbar vollständig Abstand davon. »La decima vittima« (»Das zehnte Opfer«, 1965) ist ein stylischer Science-Fiction-Film, ähnlich dem »Millionenspiel« von Wolfgang Menge, bei dem es um das gegenseitige Morden von Jägern und Opfern zum Vergnügen der TV-Zuschauer und zum Vorteil der Werbung geht. Zwischen Marcello Mastroianni und Ursula Andress tobt ein Liebes- und Überlebenskampf. Man könnte den Film als Satire über das Entertainment oder als Abbildung der sexuellen Ökonomie der gelangweilten Klasse ansehen. »La decima vittima« verzichtet auf den Trick des Neorealismus, der Brutalität und Oberflächlichkeit der Zeit eine Geste der Menschlichkeit entgegenzusetzen; Elio Petri treibt, auch cineastisch, die Oberflächlichkeit auf die Spitze. Und auch in »Un tranquillo posto di campagna« (»Das verfluchte Haus«, 1969), halb surrealistische Traumdeutung, halb Parodie der Giallo-Genres, scheint die Leinwandoberfläche so schmerzlich intransparent, als wäre sie wirklich von der Künstlerkarikatur (Franco Nero in einer Rolle, die ursprünglich für Jack Nicholson konzipiert war) mit kräftigem Pinselstrich gefüllt. Petri hat Nero von einem amerikanischen Actionpainter instruieren lassen, und so geschieht etwas Sonderbares: Während wir einem Künstler beim Verrücktwerden oder einem Verrückten beim Künstlerwerden zusehen, sehen wir auch, dass Malen ein Handwerk und eine körperliche Arbeit ist. Noch etwas anderes geschieht in diesem Film. Es ist die erste Zusammenarbeit von Petri und Ennio Morricone. Die beiden entwickeln eine neue Funktion des Soundtracks. Geräusch wird Musik, Musik wird Geräusch; innere und äußere Musik verschmelzen miteinander.

In seinen folgenden Filmen greift Petri so direkt in die italienische Politik ein, dass der Zorn der Rechten nicht auf sich warten lässt, aber auch einstige Parteigänger der Linken auf Distanz gehen. »A ciascuno il suo« (»Zwei Särge auf Bestellung«, 1967) nach einem Roman von Leonardo Sciasca führt in die Mafiaverstrickungen der Insel Sizilien. Es ist die Geschichte eines idealistischen Professors (Gian Maria Volonté), der nicht glauben will, dass hinter dem Mord an drei Männern nur eine gewöhnliche Rachegeschichte steckt. Professor Laurana recherchiert selbst in dieser Sache, der Polizei, natürlich, ist nicht zu trauen, und er scheitert. Nicht nur am Verbrechen, nicht nur an der Korruption, nicht nur an den Beharrungs- und Schweigekräften, sondern auch an sich selbst. Der Film ist nur einerseits ein Exemplar des Cinema di dinuncia dieser Zeit; sehr deutlich dagegen ist der Unterschied zu Filmen von Damiano Damiani oder gar Francesco Rosi. Deren Strenge und Nüchternheit ist nicht die Sache Petris. Er schmückt aus, tändelt, zögert. Petri packt so viel Unreines in seine Filme, dass sie auseinanderzubrechen drohen. Petri, das Arbeiterkind und (wenn auch widerspenstiges) Mitglied der Kommunistischen Partei, will und kann Täter und Opfer nicht auseinanderdividieren. Darin spiegelt sich auch ein uritalienischer Konflikt, der mit Elio Petris Kindheit zu tun hat: Der aufrechte Arbeiterklassevater (der sich, wie der Held von »I giorni contati«, eines Tages einfach weigerte, weiter zu arbeiten) und die streng katholische Mutter, voll Bildersucht und Erlösungshoffnung, ergänzten einander und lagen zugleich im Dauerstreit miteinander. Nicht nur das Leben, auch der Tod ist nicht für alle gleich, und darin mag Petris Film einzigartig sein, dass er die Klassen aus der existentiellen Perspektive ihres Sterbens heraus betrachtet. Petri gelingt, was Bernardo Bertolucci später an seiner Arbeit rühmen wird: die Verbindung von Sozialkritik und Existentialismus.

Das italienische Kino machte sich in dieser Zeit schon auf den Weg nach innen. Petri aber wurde nur radikaler. Viel Hoffnung kann er seinen Zuschauern aber nicht machen. »Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto« (»Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger«, 1970) führt etliche Narrationen seines Werkes zusammen: Der Chef der Mordkommission (Gian Maria Volonté) begeht einen Mord und legt alle Spuren deutlich aus, um sich überführen zu lassen. Aber das System lässt eine solche Aufklärung nicht zu. »Der Staat ist krank«, erkennt der Protagonist, und er tut, was Petris Helden fast immer machen: Er macht weiter. In »La classe operaia va in paradiso« (»Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies«, 1971) schildert er, wie individuelle und kollektive Revolten, wie die Ansätze neuer Bündnisse scheitern, wie das Privatleben das Politische zerstört, und umgekehrt. Der Superarbeiter, der, eher wider Willen, zum Zentrum des Widerstands wird, hat am Ende nicht einmal mehr die Möglichkeit, zu verstehen, was eigentlich mit ihm passiert ist. Es ist der zweite Film der »Neurotischen Trilogie« von Petri, die von den drei Diskursen handeln, die die Gesellschaft der Jahre von Boom und Blei zusammenhielten: Arbeit, Macht (»Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger«) und Geld (»La proprietà non è più un furto« aus dem Jahr 1973, der es nicht auf den internationalen Filmmarkt schaffte).

»Todo modo« aus dem Jahr 1976 führt direkt in die Verschwörungen der italienischen Politik und in die Politik des compromesso storico, mit dem der christdemokratische Politiker Aldo Moro das unmögliche Bündnis von Democrazia Cristiana und Kommunisten schmieden wollte. Zwei Jahre später war Aldo Moro (in Petris Film noch der einzige Überlebende der mörderischen Intrige) tot, und »Todo modo« wurde zum verschwundensten Film von Elio Petri.

Und wieder einmal ist es, bei aller direkten politischen Realität, auch ein Trip in Albtraum und Vision. In allen Filmen Petris wird diese Grenze mehrfach überschritten. Man weiß nicht, wo die gewöhnliche Realität von Korruption und Gewalt endet und wo ein Alptraum namens Italien beginnt. Denn es waren die Jahre des Booms, die Jahre der Medienwellen, die Jahre des seltsamen Ineinanders von traditioneller Beharrung und schockhafter Modernisierung. Wie schon in dem Ehefilm »Il maestro di vigevano« (1963) arbeitet Elio Petri an einer Chronik der verfehlten Modernisierung. Es ist, als habe Petri mit seinem unreinen Film versucht, den Neorealismus mit der Neurosenlehre der Psychoanalyse, aber auch mit Tendenzen der modernen Malerei zu verknüpfen, als wäre es ihm, hier und dort, um eine Art von filmischem Kubismus gegangen, der einen Gegenstand von verschiedenen Perspektiven zu sehen gestattet. Diese Methode nimmt er im Spielfilm von »Documenti su Giuseppe Pinelli« (1970) geradezu wörtlich: Er montiert alle Erklärungen für den angeblichen Selbstmord des Anarchisten Pinelli, bis nur noch die eine Möglichkeit übrigbleibt: die Ermordung durch die »Staatsdiener«.

»Todo modo« war vielleicht ein letzter Aufschrei gegen das politische System der endlosen Korruption und Gewalt. Es ist ein Zornausbruch gegen die politische Klasse in Italien, und nicht einmal einstige Mitstreiter der Linken wollten Petri in dieser Radikalität folgen. Der Regisseur machte noch weiter, ein wenig, aber »Todo modo« setzt einen Punkt hinter seine Arbeit.

Petri war, wenn man es schon in solch einem Modell sehen will, Pier Paolo Pasolini näher als Jean-Luc Godard. Er verzweifelte am Weg der Arbeiterklasse in den Konsumismus und an der Unfähigkeit des Bürgertums zu Moral und Demokratie. Und er sah in all seiner Verzweiflung, seinem Zorn und seinem Sarkasmus genau hin. Elio Petri starb viel zu früh mit 53 Jahren 1982 in Rom.

Elio Petri Edition (»Das verfluchte Haus«, »Zwei Särge auf Bestellung« und »Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies« plus Bonus-DVD) erscheint bei Koch Media.

»Das zehnte Opfer« ist bei Bildstörung/Alive erschienen.

Georg Seeßlen

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in der: Jungle World

 

 

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