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Die
Kamera zum Laufen bringen
Wegweisend am frühen sowjetischen Kino war,
dass die Filmemacher sich als Medienkünstler begriffen – sie arbeiteten
jenseits etablierter Standards und entwarfen mit jeder Arbeit auch das Medium
und dessen Grundlagen neu. Was hat das mit Public Viewing zu tun, mit der gegenwärtigen
Zirkulation und Produktion bewegter Bilder? Eine ganze Menge
Was ist eine Public-Viewing-Arena unter kinematografischen
oder medienkulturellen Aspekten? Ein großes Freiluftkino? Ein aufgeblasenes
Wohnzimmer, das den Familienmuff ins Monströse steigert? Eine ganz neue
Form von Öffentlichkeit? Oder einfach eine digitale Bewegt-Bild-Installation?
Die Umgebungen und Architekturen, in denen man sich laufende Bilder anschaut,
haben sich in den letzten Jahren vervielfacht. Bis jetzt hat man sich in erster
Linie gefragt, was diese Entwicklung für eingeführte Institutionen
wie das öffentliche, aber dunkle, das Alltagsleben unterbrechende Kino
einerseits, den privaten, aber in der Helligkeit der Normalität genutzten
Fernsehapparat andererseits bedeutet. Aber auch die zuständigen wissenschaftlichen
Disziplinen und Zeitungsressorts werden in dieser Weise durcheinander gewirbelt
– und vor allem die Institute, die sich um Archivierung, Präsentation und
Definition der bewegten Bilder und ihrer Installation kümmern: die Filmmuseen
und die kommunalen Kinos.
Die Antwort liegt womöglich in der Vergangenheit.
Film war nicht immer mit einer einzigen feststehenden Aufführungsform verbunden,
gerade politische Filmemacher haben immer wieder nach anderen Abspiel-Installationen
und Produktionsformen gesucht, um die Verbindung von Kunst und Öffentlichkeit
neu zu fassen. In den letzten zwei Monaten zeigte das österreichische Filmmuseum
einen üppigen Schatz des "Kinos der Revolution". Die größte
Dziga-Vertov-Retrospektive außerhalb Russlands und eine ähnlich ehrgeizige
Sergej-Eisenstein-Werkschau, flankiert von 50 weiteren Filmen der anderen zentralen
Kino-Revolutionäre, von Kuleschow bis zu Pudowkin. Dazu erscheint ein Katalog,
der die ziemlich sensationelle Sammlung vorstellt, die das österreichische
Filmmuseum von Vertov besitzt: zu einem großen Teil unveröffentlichte
Skizzen, Notate, Briefe sowie Fotos und Plakate, die bei kaum einem anderen
Filmemacher in so einem entscheidenden Sinne zum Werk gehören wie bei Vertov
– dem Kamerapraktiker und Filmtheoretiker, der sich nie das eine ohne das andere
vorstellen konnte; für den jeder Film ein je neuer Entwurf des Kinos an
sich war. Darin war er zwar eine einzigartige Figur und doch eine, die so nur
im Zusammenhang dieses "Kinos der Revolution" entstehen konnte, von
dem dieses Projekt des Filmmuseums handelt.
Gemeint sind damit die heroischen Jahre des sowjetischen
Films, als die Vorstellung, am Bau einer neuen politischen Welt unmittelbar
beteiligt zu sein, sich mit dem Ziel verband, ein neues Medium und dessen gesellschaftliche
Orte zu konstruieren. Sowjetische Filmkünstler der 20er wie Sergej Eisenstein
und Dziga Vertov verstanden sich nicht als bloße Künstler, die im
Rahmen eines vorgegebenen Mediums und kulturellen Formats dieses auszufüllen
hätten. Jedes einzelne Werk, jede einzelne Arbeit postulierte einen oder
den (politischen) Sinn der Kunst überhaupt. Sie muss daher im Zusammenhang
mit Legitimationsdiskursen verstanden werden, die damals die Zeitschriften und
Manifeste füllten oder als Vorträge gehalten wurden. Kino hatte –
insbesondere in der Sowjetunion – noch keinen gültigen Standard, der dann
von Fall zu Fall erfüllt werden konnte; eine Aufgabe, die der Regisseur
übernahm, sobald die Produktion ihm ein Drehbuch in die Hand drückte.
Nein, Kino bestand eher aus singulären Medienkunstwerken, nicht aus lauter
Fällen einer Disziplin, eines Standards und seiner Regeln.
Vertovs Filme sollten filmische Flugblätter,
Plakate, Zeitungen sein, er reiste im "Kinowagon" der Agitzüge
durch die junge Sowjetunion und arbeitete an medienbezogenen Reflexionen des
Kameraauges oder möglicher Funktionen des Tons – wie an seinem, schon im
letzten Jahr vom österreichischen Filmmuseum in einer DVD-Edition herausgegebenen
Meisterwerk "Entuziazm" vorzüglich zu studieren ist (siehe taz
vom 3. 11. 2005). Er drehte filmische Wochenschauen und Tageszeitungen, experimentierte
mit frühen fahrbaren Tonfilmkamerawagen, er wollte die Kamera "zum
Laufen bringen", in die Welt hineintragen – eine ähnliche technisch-politische
Expansion der Kinoproduktion, wie wir sie heute bei der Rezeption erleben, wenn
auch weitgehend ohne die Politik.
Dies führt uns direkt in die Problematik, was
heute ein Filmmuseum sein soll und kann. Denn zu der Geschichte dieser Institutionen
gehört ja ein bestimmtes Bild vom filmischen Künstler, in der Regel
dem Regisseur als Auteur. Daher ist das Prinzip der Werkschau und der Retrospektive
das Standardmodell, mit dem Filmmuseen arbeiten und an dem sie auch, so sie
dafür Geld haben, ihre begleitenden didaktisch-archivarischen Aufgaben
orientieren.
Dziga Vertov war aber eher Medienkünstler als
Auteur: ein Künstler, der die Politik eines Mediums von dessen technischer
Hardware aus ins Offene entwirft, statt von eingeführten Genres und Werken
auszugehen. Ein Medienkünstler kann sich nicht auf die bereits eingeführten
Standards der Verwertung des Mediums zurückziehen und etwa "einfach
erzählen", er muss zunächst das medienpolitische Format der Erzählung
aus den vorgängigen objektiven Komponenten zusammenfügen: gesellschaftliche
Realität, technisch-mediales Dispositiv, Operateur.
In Vertovs berühmtestem und elegantestem Film,
"Der
Mann mit der Kamera" geschieht
das exemplarisch: Zwischen einem objektiven Apparat (Kamera), dessen subjektiven
Operateur (Mann) und deren gemeinsamen Gegenüber, dem Sujet (ein Tag in
der Großstadt) entsteht, so die These des Films, ein ebenso einmaliges
wie zwingendes synthetisches Ergebnis. Dieser Film ist keinem Genre zuzuordnen:
So haben sich Dokumentation, Impression, Erzählung, Reflexion und gegenstandslose
Musik nie wieder zusammengefügt. Er ist aber weniger eine Meisterleistung
im Rahmen einer Tradition als ein Solitär, der sich aus seinem selbst gesetzten
konzeptuellen Rahmen begründet. Jede einzelne filmische Arbeit muss, und
bei diesem Axiom konvergieren die sowjetische Filme und die konzeptuelle und
postkonzeptuelle Kunst von heute, immer wieder neu nicht nur sich selbst, sondern
auch die ganze Gattung begründen.
Die sowjetische Phase der politischen und technischen
Neuerfindung filmkünstlerischer Produktion spiegelt sich, wenn auch ein
bisschen schräg, in der heutigen Neuerfindung der filmischen Rezeption
– wie sie eine Reihe von Künstlern, die, von Video und Experimentalfilm,
von der bildenden Kunst oder von den Computerkünsten kommend, "Black
Boxes", "Viewing Arenas" und "Quasi-Cinemas" bauen.
Verzerrt wird diese Spiegelung durch die weniger mobilen politischen Verhältnisse.
Doch deren bleiern neoliberale Unausweichlichkeit könnte auch als Aufgabe
verstanden werden, den standardisierten und an alten Gebräuchen orientierten
Formaten bewegter Bilder eine grundsätzliche Infragestellung des Film-Projektor-Projektion-Dark-Room-Zusammenhangs
und seiner gesellschaftlichen Rolle zuzumuten.
In einer Zeit, in der etwa im Arsenal-Kino in Berlin
immer häufiger Bewegt-Bild-Installationen zu sehen sind – zum Beispiel
in der Show "Poor Man’s Expression" – und sich damit Filmmuseen und
kommunale Kinos endlich einem Teil der Entwicklung zuwenden, die sich die bildende
Kunst und ihre Biennalen fast zur Gänze unter den Nagel gerissen zu haben
scheinen, wird die Reformulierung des Film- und Kinomuseums auch vom anderen
Ende des Zeitpfeils her nötig. Um eine Verbindung herzustellen zwischen
der standard-kritischen Vergangenheit und der Standard-Auflösung der Gegenwart:
Bildende Künstler von Stan Douglas bis Sharon Lockhart, Douglas Gordon
bis De Rijke/De Rooij und Phänomene zwischen "Time Based Painting",
Internetkino, neuen Animationsformen und VJing irrlichtern heute zwischen dem
ökonomisch üppigen, aber geschichtsvergessenen Markt der bildenden
Kunst einerseits und dem von staatlicher und öffentlich-rechtlicher Unterstützung
zunehmend abgekoppelten Welt des nichtkommerziellen Kinos andererseits. Es käme
aber darauf an, diese neuen, längst über den Underground hinausreichenden
Phänomene von Kritik, Auflösung und Überbietung der bisherigen
Bewegtbild-Standards nicht nur dem Kunstmarkt zu überlassen, sondern auch
in den Kontext ihrer Geschichte zu stellen: der Kinogeschichte. Um diese Verbindung
zu vervollständigen, muss man die historischen Positionen von Filmemachern
rekonstruieren, die das bewegte Bild jenseits seiner standardisierten Verwertung
in der konventionellen Kinoarchitektur gesehen haben.
Die wird in absehbarer Zeit ohnehin ein Fall für
das Museum werden. Die Abspielstätten digitaler Bilder diversifizieren
zusehends, und das Kino verliert dabei die Rolle des primären und authentischen
Ortes der Filmerfahrung. Ausstellungen wie "Kino wie noch nie", die
Antje Ehmann und Harun Farocki zu Beginn des Jahres in der Wiener Generali Foundation
kuratiert haben, werfen einen Blick auf dessen letzte hundert Jahre, der in
einer Weise zugleich liebevoll und strukturalistisch distanziert Topoi und Konstellationen
herausarbeitet, als wären die Jahrzehnte des einen verbindlichen Standards
schon längst Geschichte.
Der im Heimkino-Quality-Bezahlsender wie HBO oder
DVDs konsumierende Kulturbürger löst derweil die fanatisch-nerdige
Programmkinoratte ab. Damit das selbstständige kulturelle Format Kino nicht
zwischen diesem Pol auf der einen und den Bewegt-Bild-Installations-Biennalen
des Kunstmarkts auf der anderen Seite aufgerieben wird, ist eine Selbstreflexion
nötig, die natürlich zunächst die Institutionen anstoßen
müssen, die dazu überhaupt noch den nichtkommerziellen Freiraum haben.
Die relativ vielen Jahre zwischen der Einführung
des Tonfilms und dem Anbruch des Digital Age blieben von technisch-medialen
Einschnitten unbehelligt. Daher konnte sich eine Klassik entwickeln, in der
das Kino und seine Genres ein Instrument für etwas anderes werden konnten:
Erzählen, Dokumentieren, Agitieren etc. Bis in die ersten Ton-Jahre hinein
und heute wieder war der Gegenstand der Filmkunst nicht das Erzählen, sondern
das Entwerfen von (kritischen, reflexiven) Wahrnehmungsmodellen und deren Architektur.
Ein Film wie "Time Code" von Mike Figgis war ein Zeichen dafür,
dass auch das kommerzielle Kino dafür offener geworden ist. Der Erfolg
eines Matthew Barney kommentiert dies von der anderen Seite. Der Geschichte
dieser Entwürfe von Wahrnehmungsmodellen kann das Filmmuseum seine Kontinuität
zurückgeben.
Eine Dimension davon wäre der heute so stark
gemachte Installationscharakter von bewegten Bildern. Den kann man mit viel
Zimmerleuten und Stellwänden thematisieren, man kann aber auch, und das
ist oft näherliegend, billiger und vor allem wichtiger, durch die Sammlung,
Aufbereitung und Publikation von Texten und Materialien und durch die Einführung
des in der bildenden Kunst selbstverständlichen Katalogs in das Instrumentarium
des Filmmuseums die Archäologie dieser Entwicklung als politische bergen.
Dafür müssten diese Museen aber so ausgestattet sein, wie es zurzeit
nur die Institutionen der bildenden Kunst sind. Vielleicht hilft ja eine Tobin-Steuer
zugunsten der Filmmuseen auf Spekulationsgewinne beim Verticken von Bill-Viola-Installationen.
Diedrich Diederichsen
Ab 13. Juli
zeigt das Berliner Arsenal-Kino die Eisenstein-Retrospektive "Revolutionär
des Kinos – Kino der Revolution"
"Die Vertov-Sammlung
im Österreichischen Filmmuseum/The Vertov Collection at the Austrian Film
Museum", hrsg. vom Österreichischen Filmmuseum, Thomas Tode und Barbara
Wurm, dt. u. engl., Wien 2006, 288 Seiten mit zahlr. Abb., 20 €
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der taz vom 30.6.2006
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