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Darwins
Fiebertraum
Die
Tropen gibt es in Afrika, Asien, Amerika, und es gibt sie in Lesebüchern,
auf bunten Bildern, im Botanischen Garten und im Kino. Die Tropen des Kinos
sind die tropischsten.
Was
man weiß von den Tropen: Es ist verflixt heiß dort, und zwar in
vier Formen. Es gibt die unerträglich feuchte Hitze des Urwalds und die
unerträglich trockene Hitze der Wüste, dazwischen Feuchtsavanne und
Trockensavanne. Um die Wahrheit zu sagen: Richtige Tropen im Kino haben mit
Palmenstränden, Flüssen durch den Regenwald, Tigern, Elefanten und
Schlangen, mit nackten Wilden, dunklen Göttern, Masken, Menschenfressern
und Fieber, mit schönen Frauen und Männern zu tun, die nicht mehr
weiter wissen oder nicht mehr weiter wollen. Was man ahnt von den Tropen: dass
die fremden Menschen (also: wir) hier an den Rand ihrer Belastbarkeit geraten.
Jedenfalls vergesse ich nicht mehr die Hitze meines ersten Tarzan-Filmes.
Hier schwitzen die Großwildjäger und Geldmenschen, die Frauen schwitzen
nicht. Ob Tarzan schwitzt, weiß ich nicht. Er hat eine andere Gleichung
von Körper und Flüssigkeit aufgemacht, jedenfalls zieht es ihn wie
magisch zu allem Wasser. Und das nicht nur, weil Johnny Weissmuller mal Meisterschwimmer
war. Die Tropen werden immer durch Wasser von der Hölle zum Paradies. Der
Wasserfall, das Meer, der See, sogar der Regen. Wenn man es übertreibt
mit dem Wasser in den Tropen, wird es Kitsch. Oder eine Katastrophe. Man weiß
nicht, was schlimmer ist für die Kino-Tropen.
Warum
die Tropen der Leinwand die tropischsten sind? Unter anderem, weil sie nicht
erfunden, sondern erbeutet sind. Die Tropen der Leinwand gehen direkt aus den
»Völkerschauen« und anderen Welt-Darbietungen für den
Bürger wie Zirkus und Tierpark und aus reichen Sammlungen kolonialer Beutestücke
hervor, die man seinerzeit Zoologica und Ethnologica nannte. Für Harry
Piels Der
Dschungel ruft
(1935) zum Beispiel arbeitete einer aus der weitläufigen Familie Hagenbeck,
Johannes Umlauff, der eben mit Zoologica und Ethnologica handelte. Als »wissenschaftlicher
Berater« von Joe Mays Das
indische Grabmal
baute er auf Rügen einen tropischen Urwald und warb echte indische Komparsen.
Die Dichte der Tropen war auf Harry Piels Leinwand größer als an
jedem Ort der echten Tropen. Dafür war alles andere gelogen.
Die
cineastische Tropendarstellung entstand aus dieser Mischung aus Beute, Kolportage-Wahnsinn
und kolonialistischer Vergiftung. Umgekehrt hat ja auch der Völkerschau-Impresario
und Tierfänger John Hagenbeck selber Filme gedreht mit wunderbaren Titeln
wie Darwin
– Im Fieber unter Afrikas Tropensonne
(1920), in dem, wie das Plakat versprach, ein gieriges Menschenaffenwesen eine
Frau verschleppt. In diesem Film steckt schon alles, was King Kong 13 Jahre
später – immer noch fiebrig genug – in narrativ abgefederter Form brachte,
einschließlich des Angriffs des Monsters auf die weiße Frau. »Das
charakteristische Wesen des Urwalds ist Kampf, unaufhörlicher, hartnäckiger
Kampf ums Dasein, das brutale Ringen um Entfaltung und Macht«, versprach
Hagenbeck. Davon handelten Tropenfilme der zwanziger und dreißiger Jahre,
und in Deutschland hörte man solchen Ruf der Wildnis besonders gern.
Merian
C. Cooper und Ernest B. Schoedsack, die Regisseure von King
Kong,
kamen aus einer ähnlich abenteuerlichen Ecke. Cooper hatte in den zwanziger
Jahren in Persien und in Ostafrika dokumentarische Abenteuerfilme gedreht. Als
sein Freund, der Naturforscher Douglas Burden, im Zoo der Bronx zwei drachenähnliche
Warane ausstellte, kam Cooper auf die Idee, einen Schaukampf zwischen Waranen
und Affen aufzuführen. Anstelle solcher darwinistischen Realityshows realisierte
er dann ein Leinwand-Märchen; unter dem Einfluss des Studios und seines
Koregisseurs verschwanden allzu lüsterne Szenen zwischen dem Affen und
einer ursprünglich so gut wie unbekleideten Frau; der Kampf des Affen mit
dem Drachen (Monster der Evolution gegen Monster der Mythologie) bekam romantischere
Züge. Dass in King
Kong
Böcklins Bild von der Toteninsel zitiert wird, zeigt den Zusammenhang von
romantischem Verfall und Tropenfantasie.
Alle
Tropenfilme nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfen mit der sexuellen und politischen
Vergiftung ihrer Bilder. Nun verschwimmen die Grenzen zwischen Tier und Mensch,
Magie und Realität, Besitz und Verlust im schönen Scheitern der letzten
Romantiker. Aguirre ergreift
Besitz von einem Sumpf- und Waldland, das man nicht in Besitz nehmen kann, und
das Land ergreift Besitz von seinem Eindringling. Die Geschichten von Tarzan, der
Cobra
Woman,
von Aguirre, der
Familie in The
River
oder von La
Mort en ce jardin
ähneln sich darin, dass sie nicht zu Ende gehen können.
Der
Kolonialismus erlebt hier, in sündiger Hitze, seine lustvolle Auflösung
Die
Tropen, das bedeutet, dass Paradies und Hölle ineinandergeschoben sind.
Vom Paradiesischen ist der Schrecken ewiger Langeweile gefallen und von der
Hölle das Strafgericht. In den Tropen sind die Lust und das Grausame gleichgesetzt.
Alles hier ist zugleich schön und gefährlich. Wenn jede Filmlandschaft
das Anagramm eines Körpers ist, dann sind die Tropen eher das Innere eines
Körpers. Ich vermute: das Innere eines weiblichen Körpers. Oder vielleicht
noch genauer: Die Tropen sind das Innere des weiblichen Körpers, wie es
sich ein unerwachsener Mann der westlichen Industrielandschaft vorstellen kann.
Was da für Geheimnisse lauern, das erschließt sich in den Pflanzen,
Tieren, Lichtern. Die Tropen sind ein Traum aus einer Zeit, da Feuchtgebiete
noch hoch romantisch waren. Wer in die Tropen will, will in einen heiligen Körper.
Die
Tropen sind der Ort, an dem der Kolonialismus in seine Auflösung gerät.
In einem Film wie Apocalypse
Now
könnte man den Vietnamkrieg auch als letzten abgeschlagenen Angriff auf
die Tropen sehen. Und hier hört, irgendwie, auch die Wissenschaft auf,
so wie die Traurigen
Tropen
des Claude Lévy-Strauss uns an diesen Punkt führten, an dem eine
einfache und erschreckende Einsicht lauert: Keine Gesellschaft ist vollkommen.
Also weder die »ursprüngliche« (die man hier finden könnte,
als tropische Kinder-Gesellschaft, zerfallen in himmlische nackte Unschuld und
höllische Lust von Kopfjagd und Menschenfresserei) noch die utopische,
die man erträumt, als Missionar oder Träumer oder Wissenschaftler.
Jean
Renoir hat, bevor er The
River
drehte, einen Indien-Film ohne Elefanten-Tiger-Jagd, eine einfache Farbenlehre
für das Tropische im Film aufgestellt: »Die Landschaften der Île
de France umfassen Myriaden von Tönen, die sich vermischen. Die arme Kamera
ist da verloren, und das, was sie davon wiedergibt, ist eher wirr. Tropische
Vegetation bietet dagegen eine beschränkte Auswahl an Farben: Die Grüns
sind wirklich grün, die Rots wirklich rot. Deshalb ist Bengalen, wie viele
andere tropische Länder, so geeignet für die Farbfotografie. Die Farben
dort sind nicht kräftig, auch wenn sie unvermischt sind.« Was auch
für das Licht gilt; tropisch ist der Mangel an Übergang. Es dämmert
nicht in den Tropen. Wahrscheinlich ist europäisches Denken hier so verloren,
weil es an den Zustand der Dämmerung gebunden ist. Die Götter sind
gedacht in ihrer Dämmerung und die Freiheit in der ihren. Sogar die Liebe
der Europäer ist eine Sache der Dämmerung. Damit zusammenhängen
mag, dass auch Renoirs Geschichte einer englischen Familie, die in Indien lebt
»wie eine Pflaume an einem Aprikosenbaum«, im klassischen Sinne
weder Anfang noch Ende hat. Das tropische Erzählen geschieht in Form von
Kreisen, Berührung und Abschied, Leben und Tod, das folgt so schnell, dass
es schon wieder langsam wird. Keine Filmkamera glaubt an eine Rückkehr
aus den Tropen.
Die
Maske wird zum Spiegel: Beschreibung
einer Insel
von Rudolf Thome und Cynthia Beatt (1977/79) dokumentiert, wie eine Gruppe von
Mitteleuropäern ein halbes Jahr auf einer Insel der Neuen Hebriden verbringt;
man sammelt und katalogisiert Pflanzen, erforscht die Riten der Eingeborenen,
lässt sich Märchen und Mythen erzählen. Aber die Begegnung mit
der fremden Kultur führt zur Inversion, die Besucher beschäftigen
sich mehr und mehr mit sich selbst.
Viele
Tropenfilme, nicht nur John Hustons African
Queen
oder Werner Herzogs Filme, haben die tropischen Dramen und Grotesken auch in
ihrer Entstehungsgeschichte. So auch Pesthauch
des Dschungels:
Simone Signoret hatte, wie sich Buñuel erinnerte, keine Lust auf die
Hitze und diesen Film. Sie sollte als Hure in einem kleinen Bergarbeiterort
Einkäufe machen: »Sardinen, Nadeln, was man so braucht, und schließlich
ein Stück Seife. In dem Augenblick hört man Trompeten, Militär
rückt ein, um die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. Worauf sie gleich,
statt einem, fünf Stück Seife verlangt.«
Vernünftigerweise
sollte in den Tropen ein großer Diskurs über die Sauberkeit stattfinden.
Wo Urfeuchte war, soll Hygiene werden. Aber hier bleibt nichts vernünftig.
Die Tropen drücken sich am besten aus in Tarzans Schrei. Für europäische
Menschen klingt er nach einem Tier, für die Tiere nach dem Schrei eines
Menschen, für die unterworfenen Menschen der Tropen klingt es wie ein böses
Gespenst des Kolonialismus, und für die wilden Bewohner der lokalen Tropen
ist es juju: der Zauber des Waldes. In den Tropen werden die Menschen prismatisch;
sie stellen für jeden etwas anderes dar. Und für sich selbst? Gilles
Deleuze spricht von den Kindern in Renoirs The
River,
die »in einer Art Kristall oder in einer Hindu-Hütte« leben.
Genau! Diese verfallenen Tempel, die Baumhäuser, Oasen, Lehmhütten,
die sich ins Feuchte schmiegen, sind Lebenskristalle. Falsch dagegen sind Zelte,
Hotels oder Kasernen. Sie haben hier keine Dauer. Missionsstationen sind etwas
dazwischen: zugleich ganz falsch und ganz richtig. Das Schiff African Queen
wird aus diesem Wald herausgespült, in den See geboren, zum Krieg. Man
kann in den Tropen nicht bleiben, auch Fletcher Henderson von der Bounty hat
das auf glückliche Weise nicht vollbracht, und den Robinson
Crusoe
durften wir nur lesen und sehen, seinerzeit, weil er die Tropen überlebte
und weil Freitag sich zu seinem Diener machte und der Herr sein Begehren verbergen
konnte. Erlaubt sind Tropenhelden nur, wenn der Pesthauch des Dschungels sie
allenfalls gestreift hat.
Die
Filmkamera glaubt nicht an die Rückkehr aus diesen Breiten
Die
Tropen sind der Ort für die Rückverwandlung des Menschen ins Tier.
Die meisten Europäer verwandeln sich hier einfach in faule Säue, aber
manchmal geht das auch schief, und meistens hat das mit polymorpher Sexualität
zu tun. Für was King
Kong
auch immer, so zwischen Freud und Marx, als Metapher herhalten musste, er ist
das große Sinnbild für alles, was sich nicht unterdrücken lassen
will. Ganz direkt, sozusagen Einstellung für Einstellung, zeigt Alfred
Hitchcock in The
Pleasure Garden,
wie die Tropen des Kinos entstehen, durch den geilen Blick der Männer,
der sich nicht begnügen mag mit der hellen Oberfläche: Man sieht die
Beine der Tänzerinnen, winkende Frauenhände in Europa, dann die »exotische
Tänzerin«. Das ist ein Männertraum, der sich rasch in einen
Albtraum verwandelt. In Fieberwahn und Mord endet es für die Eindringlinge,
im schönen Tod im Wasser, was sonst, für die von ihnen missbrauchte
»Eingeborene«, Nita Naldi. Die Tropen sind immer beides: Erfüllung
und Bestrafung des Begehrens. Daher erscheinen die Tiere, die es hier gibt,
alle überaus sündig und sexuell, das begehrte Feuchtgebiet beherbergt
die Beiß- und Giftwesen, wie in Robert Siodmaks Cobra
Woman.
Siodmak hat die Sache auf den Punkt gebracht, als er seine Südsee-Tropeninsel-Erotik-Zwillings-Fantasie
beschrieb: »Cobra
Woman
war verrückt, hat aber großen Spaß gemacht.« Das sind
die Tropen des Kinos. Ein Ort, an dem das Verrücktsein Spaß macht.
Oder die Lust verrückt spielt.
Georg
Seeßlen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: DIE ZEIT vom 11.09.2008; Nr. 38
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