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Ein hochherrschaftliches Gespräch mit Jean-Pierre und Luc Dardenne, den Regisseuren des Films “L’Enfant”.

 

Das Setting des Interviews ist einigermaßen absurd: Da sitzen Jean-Pierre und Luc Dardenne an einer meterlangen Tafel in einem Festsaal, dem so genannten Roten Salon des französischen Kulturinstituts von Wien. Hochglanzgebohnertes Parkett, Goldlack und Stuck wohin man schaut – und in diesem Ambiente sollen sie jetzt erzählen, über die prekären sozialen Verhältnisse in ihrer belgischen Heimatstadt Liege. Auch den beiden Regisseuren scheint dieser Kontrast bewusst, denn als die Dame vom Verleih Getränke anbietet, fordern sie: „And a little bit of Heroin now!“, und brechen nach einer Sekunde irritierten Schweigens in Gelächter aus.

 

Wie schon ihre letzten Spielfilme, „Le Fils“ (2002), „Rosetta“ (1999) oder „La Promesse“ (1996), die gemeinsam mit frühen dokumentarischen Arbeiten gerade im Rahmen einer Werkschau im Filmmuseum zu sehen waren, spielt auch „L’Enfant“ im belgischen Liege (Lüttich), oder genauer, in Seraign, einem Vorort, der gerade dabei ist, mit Liege zu verwachsen. Die Menschen, die hier leben, erzählen Jean-Pierre und Luc Dardenne (die schließlich doch nur schwarzen Kaffee trinken), stammen zum größten Teil aus Arbeiterfamilien. Allerdings wurden die Fabriken, in denen die Eltern und Großeltern noch beschäftigt waren, mittlerweile abgebaut. Das Leben der jugendlichen Hauptfiguren in den Filmen der Dardennes ist daher geprägt von akutem, allumfassenden Mangel: an regulärer Arbeit, an erwachsenen Vorbildern, an sozialen Strukturen, die Halt bieten.

 

„L’Enfant“ erzählt von einem jungen Paar, Bruno und Sonia, das gemeinsam ein Kind hat. Miteinander gezeugt, nicht aber zur Welt gebracht, denn zum Zeitpunkt der Geburt saß Sonia in Jugendhaft. Der Film setzt am Tag ihrer Entlassung ein, zeigt das Mädchen mit dem Neugeborenen im Arm auf der Suche nach dem Vater, der sich irgendwo auf den Straßen mit Kleingaunereien durchbringt. Sonia wird Bruno finden und ihn überreden, die Vaterschaft für den kleinen Jimmy behördlich anzuerkennen. Doch kurz darauf wird dieser seine „Eigentumsrechte“ nutzbar machen und den Sohn für ein paar tausend Euro an Kinderhändler verkaufen.

 

Die Idee für „L’Enfant“ sei ihnen während des Drehs zu „Le Fils“ gekommen, sagen die Brüder Dardenne: „Damals haben wir mehrere Tage in der gleichen Straße gedreht, wo wir immer wieder ein Mädchen mit Kinderwagen beobachtet haben. Sie schien so distanziert, genervt, überfordert. Dieses Bild haben wir dann mit einer älteren Idee verbunden, dass ein Vater erst zum Vater wird, indem er sein Kind verkauft – und anschließend zurückgewinnen muss.“

 

Ihre Drehbücher schreiben die Dardennes nach wie vor gemeinsam. Im Zentrum steht jedes Mal ein Gewissenskonflikt, eine Tat, die man ohne weiteres als „unmenschlich“ einstufen würde, läse man in der Zeitung von ihr. Ein Mädchen, das einen Freund anschwärzt, um dessen Job zu kriegen („Rosetta“), ein Junge, der mit seinem Vater eine Art Sklavenkolonie betreibt („La Promesse“), ein junger Mann, der das eigene Kind verkauft. Aber eben darum geht es – scheinbar eindeutige, moralische Kategorien in Frage zu stellen. Im Grunde, sagt Luc Dardenne, sei „L’Enfant“ ein archaischer Stoff, den schon die Fabel vom Lamm behandle, das den Wolf zu seiner Familie führe: „Wenn das Lamm sagt: ‚Friss lieber meine Familie als mich’, dann ist es durch seine Angst zu dem geworden, was es ist. Es ist schwer, das zu verstehen. Aber es gibt eben kein Schwarzweiß. Man muss Verständnis für Bruno aufbringen.“

 

Zwei Konstanten sind bei der Umsetzung dieser ‚archaischen’ Konflikte im Werk der Dardennes auffällig: Darsteller und Orte. Olivier Gourmet zum Beispiel, der noch in jedem Spielfilm als Vater, Vorgesetzter oder, wie in „L’Enfant“, als Zivilpolizist der fehlenden Variablen einer übergeordneten Verantwortung sein Gesicht lieh. Hinter den dicken Gläsern seiner Brille scheint sich die Hilflosigkeit einer ganzen Generation zu verbergen. In „L’Enfant“ ist es aber vor allem Jérémie Renier, der in seiner zweiten Hauptrolle von der Wiederkehr der Konflikte in verschiedenen Lebensabschnitten erzählt. Obwohl die Biographie des jungen Vaters Bruno mit der des Mopedfahrers aus „La Promesse“, den Renier als 14jähriger – damals noch ohne Schauspielausbildung – verkörperte, übereinstimmen könnte, handelt es sich nicht um die gleiche Figur. Eher schon um ein Modell im Sinne Bressons, dem die Dardennes in Sachen Figuren- und Konfliktentwicklung sehr nahe stehen.

 

Dass Renier in „L’Enfant“ den gleichen Nachnamen trägt wie in „La Promesse“, war allerdings die Entscheidung des Darstellers: „Als wir damals mit Jérémie „La Promesse“ drehten, hat er uns etwas gegeben und war sich selbst gar nicht im Klaren darüber. Inzwischen hat er sich eine Technik angeeignet. Jérémie hatte solche Angst, dass er so dem Vergleich mit damals nicht standhalten würde, dass er sich zunächst die Haare färben wollte. Nach längerer Zeit hat er aber selbst den Familiennamen für Bruno ausgesucht: Michaux. Das schon war sein Familienname in „La Promesse“. Da wussten wir, er war bereit.“

 

Die zweite Konstante, sind die Gstätten von Serraign und Liege. Orte, vor denen die Gesellschaft ebenso kapituliert hat wie vor der Sorge für ihre Kinder. Markantester Schauplatz von „L’Enfant“ ist Brunos Versteck, eine Höhle am Ufer der Meuse (Maas): „In diesem Betonbunker befand sich die Kühlwasserpumpe einer Fabrik. Geblieben ist nur noch ein Loch in der Böschung. Dieser Ort schien uns ideal, weil er außerhalb der Zivilisation, außerhalb der Gesellschaft zu liegen schien. Und weil sich an ihm gleichzeitig zeigt, dass hier die Natur dabei ist, etwas zurückzufordern“. Im Kontext des Films wirkt diese Höhle aber vor allem wie ein dunkler Ersatz-Mutterleib. Und den Wunsch zurückzukriechen, kann man in der Welt der Dardennes keinem so recht verübeln.

 

Maya McKechneay

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Falter /05

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