zur startseite
zum archiv
zu den essays
Die
Eingeschlossenen. Operativer Eingriff am lebenden Befund
Luis
Buñuels Film Der Würgeengel (El Angel Exterminador)
I Biographische
Bezüge
Luis Buñuel hat uns ein
wunderbares Erinnerungsbuch hinterlassen, das den schönen Titel „Mein letzter
Seufzer“ trägt und von Enno Patalas und Frieda Grafe ins Deutsche übersetzt
wurde. Dieses ganz und gar uneitle Buch ist die Selbstbeschreibung eines Menschen,
der einige Jahre lang ernsthafter und entschiedener als die meisten seiner Freunde
und Kollegen der 1930er Jahre an die surrealistische Revolution geglaubt und
für die Substanz der surrealistischen Ideen bis ans Ende seines Lebens
seine Wertschätzung bewahrt hat. Das Buch ist anschaulich geschrieben,
randvoll mit bewegenden, skurrilen, tragischen und tragikomischen Erfahrungen –
und es enthält zahlreiche direkte und indirekte Hinweise darauf, dass Buñuel
bei der Konstruktion seiner Filme aus dem Material seiner persönlichen
Erfahrungen geschöpft hat. Gerade die beiläufigen Dinge, der Stoff,
aus dem Anekdoten gebaut sind, und manches, was ihm vom Hörensagen zugetragen
wurde, hat er offenbar besonders gemocht, und es schien ihm wert, in einen filmischen
Kontext aufgenommen zu werden. Ein Beispiel sei hier vorangestellt:
„Für ein großes Diner
in New York hatte die Gastgeberin sich einmal einfallen lassen, ihre Gäste
mit irgendwelchen überraschenden Vorfällen zu amüsieren. So hat
sich die Geschichte mit dem Diener, der mit einem Tablett voller Speisen der
Länge nach hinfällt, wirklich ereignet. In meinem Film finden das
die Gäste aber gar nicht komisch. Die Hausherrin hat auch noch einen anderen
Gag mit einem Bären und zwei Schafen vorbereitet, über den man aber
nichts Näheres erfährt – was einige Kritiker, die überall Symbole
entdecken wollten, nicht davon abgehalten hat, in dem Bären den Bolschewismus
zu sehen, der der von ihren Widersprüchen gelähmten kapitalistischen
Gesellschaft auflauert.“[1]
Diesem Zitat ist, außer dem biographischen Bezug, eine gewisse Distanz gegenüber Symbolen zu entnehmen, genauer: eine ironische Skepsis gegenüber Interpreten, die, um seine Filme zu verstehen, sich auf das Feld der Symbole und ihrer Entschlüsselung begeben.
In einem Interview mit Manuel
Michel hat Buñuel diese Distanz bestätigt:
„Ich verstehe nicht, warum manche
Leute sich darauf versteifen, Bildern, die ich willkürlich erfunden habe,
eine rationale Erklärung geben zu wollen. In El Angel Exterminador opfert Nobile das letzte Schaf; vorher nimmt er den Verband von
seiner Stirn und umwickelt damit die Augen des Tieres. Darin liegt keinerlei
Symbolik, selbst wenn viele in dieser Szene die ‘Darbringung des Sühneopfers’
sehen wollen.“[2]
In einem anderen Interview, mit
Roxane Saint-Jean, formuliert Buñuel kategorisch: „In meinen Filmen gibt
es ganz sicher keinen Symbolismus, aber auch keine Psychoanalyse. Ich hasse
die Psychoanalyse.“[3]
Ich will nicht ausschließen, dass Buñuel auch mit solchen Distanzierungen
ein Versteckspiel getrieben hat. Da wir es aber, wie gesagt, mit einem uneitlen
und wenig prätentiösen Autor zu tun haben, möchte ich diese Spekulation
nicht weiter verfolgen und mir bei meiner Annäherung an seinen Film Der Würgeengel eher jenen spöttischen
Zweifel zueigen machen, den Buñuel gegenüber einer symbolisch überanstrengten
Lektüre seiner Filme gehegt hat.
Auch die biographischen Bezüge
beanspruchen vermutlich nicht mehr Gewicht, als Buñuel selbst ihnen zubilligt;
darum seien auch nur diejenigen erwähnt, die der Autor selbst in seinem
Buch zur Sprache bringt. Etwa die folgende Anekdote, die immerhin ein Licht
auf eine eigenartige Idiosynkrasie wirft und im Film eine detailgetreue Kopie
gefunden hat:
„Als ich im März (vermutlich
1918, als Student. KK) nach Madrid zurückkehrte und es in der Residenz
kein freies Zimmer mehr gab, nahm ich das Angebot von Juan Centeno, dem Bruder
meines Freundes Augusto Centeno, an, mit ihm zusammenzuziehen, und wir stellten
ein zweites Bett in sein Zimmer. Da bin ich einen Monat geblieben. Juan Centeno
studierte Medizin und ging morgens früh aus dem Haus. Bevor er ging, kämmte
er sich ausgiebig vor dem Spiegel, hörte aber immer oben auf dem Kopf auf,
so daß am Hinterkopf, wo er es nicht sah, die Haare ungekämmt blieben.
Wegen dieser absurden Geste, die sich jeden Tag wiederholte, bekam ich nach
zwei oder drei Wochen, obwohl ich allen Grund hatte, ihm dankbar zu sein, einen
richtigen Haß auf ihn. An diesen unerklärlichen Haß, der einer
dunklen Windung des Unbewußten entsprang, erinnert eine kurze Szene in
El ángel
exterminador.“[4]
Im Film wird es die Klavierspielerin
Blanca sein, die ähnlich absurd mit ihrer Frisur umgeht und damit einen
jungen Mann an den Rand der Verzweiflung treibt. Die Anekdote offenbart überdies,
dass Buñuel mit den „dunklen Windung(en) des Unbewussten“, also mit der
Psychoanalyse, bei aller Abneigung wohl doch auf vertrautem Fuße stand.
Ein eher indirekter Bezug zu diesem,
aber auch zu anderen Filmen Buñuels drängt sich auf, wenn der Autor
in seinen Erinnerungen mit einem Anflug liebenswerter Selbstironie seiner „gescheiterten
Orgien“ gedenkt.[5]
So platzte einmal in Hollyood eine lustbetonte Party, die Charlie Chaplin für
Buñuel und zwei spanische Freunde arrangiert hatte. „Drei hinreißende
Mädchen aus Pasadena fanden sich ein, aber leider bekamen sie Streit miteinander,
weil jede von ihnen Chaplin wollte, und so gingen sie wieder.“ Eine andere Orgie
in Los Angeles, bei der u.a. Lya Lys, eine Darstellerin aus L’Age
d’Or,
eingeplant war, kam nicht richtig in Fahrt, weil sich auch hier die Damen entschlossen,
nach einer Stunde lieber zu gehen. Ein dritter und letzter Versuch scheiterte,
als ein sowjetischer Regisseur Buñuel in Paris bat, für ihn eine
Lustbarkeit mit Damen zu arrangieren, Louis Aragon ihm jedoch dringend riet,
von solchen Dingen die Finger zu lassen. Buñuel hat diesen Rat von nun
an befolgt.
Im Lichte dieses mehrfachen Misslingens
lässt sich Der
Würgeengel
als ein Arrangement lesen, in dem alle Voraussetzungen für eine von den
besseren gesellschaftlichen Kreisen veranstaltete Orgie vorhanden sind – zugleich
aber auch alle Bedingungen dafür, dass diese Orgie scheitern muss, ja gar
nicht stattfinden kann, wenngleich das, was eine Orgie kennzeichnet, die Lust
auf sexuelle Entgrenzung, unter einigen Beteiligten immer wieder aufzuflackern
scheint. Nicht auf den Gesichtspunkt der Orgie, sondern auf den des Misslingens,
des Scheiterns kommt Buñuel selbst zu sprechen, wenn er über den
Würgeengel sagt:
„Was ich in dem Film sehe, ist,
daß eine Gruppe von Leuten nicht tun kann, was sie möchte: ein Zimmer
verlassen – es ist die unerklärliche Unmöglichkeit, eine ganz einfache
Lust zu befriedigen. Das gibt es oft in meinen Filmen. In L’Age d’Or versucht ein Paar zusammenzukommen,
und es gelingt ihm nicht. In Dieses obskure Objekt der Begierde ist es das sexuelle Verlangen eines alternden Mannes, das nie
Erfüllung findet. Archibaldo de la Cruz versucht vergeblich zu töten.
Die Personen im Diskreten Charme der Bourgeoisie wollen unter allen Umständen
zusammen essen und kommen nicht dazu.“[6]
Fazit: Etwas, was gewollt und
gewünscht wird, kommt nicht zustande. Ein Vorhaben scheitert, ein Bedürfnis
kann nicht erfüllt werden. Etwas misslingt. Soweit die lapidare Feststellung
des Regisseurs selbst – und so viel können auch wir einstweilen als elementare
Botschaft des Films festhalten.
II Zur Entstehungsgeschichte
Darüber, unter welchen Umständen
Der Würgeengel entstanden ist, erfahren wir
in Buñuels Erinnerungen nicht viel. Am meisten ärgert ihn, noch
später, dass er den Film unter relativ ärmlichen Bedingungen in Mexiko
drehen musste anstatt in Europa:
„Ich habe es manchmal bedauert,
daß ich den Würgeengel in Mexiko gedreht habe. Ich stellte
ihn mir eher in Paris oder London vor, mit europäischen Schauspielern,
mit einem gewissen Luxus in den Kostümen und der Ausstattung. In Mexiko
habe ich mich trotz des sehr schönen Hauses und obwohl ich mich um Schauspieler
bemüht hatte, die vom Äußeren her nicht unbedingt mexikanisch
wirkten, mit einer gewissen Ärmlichkeit abfinden müssen. Etwa, was
die mittelmäßige Qualität der Servietten betrifft: Ich konnte
überhaupt nur eine zeigen, und die habe ich auch noch bei der Maskenbildnerin
ausleihen müssen.“[7]
Buñuel hat stets zügig
gearbeitet; für die Dreharbeiten benötigte er in den meisten Fällen
nicht mehr als drei oder vier Wochen. In diesem Fall war er besonders schnell;
der Würgeengel war, Ende Januar/Anfang Februar
1962, in gut zehn Tagen abgedreht. Der Film sollte zuerst „Die Schiffbrüchigen
von der Straße der Vorsehung“ heißen. Daran erinnert noch die erste
Einstellung mit dem Straßenschild „Calle de la Providencia“. Und wenn
die Gesellschaft, die tage-, wenn nicht wochenlang eingeschlossen war, endlich
das Haus verlassen kann und aus dem Tor auf den nächtlichen Vorplatz tritt,
wirken die Menschen in der Tat wie eine Gruppe erschöpfter, körperlich
und seelisch ramponierter Schiffbrüchiger, die das Meer endlich freigegeben
und an Land geschwemmt hat. Auf den merkwürdigen Titel El Angel Exterminador verfiel Buñuel, als er
hörte, dass der Autor José Bergamín ein Theaterstück
mit diesem Titel zu schreiben beabsichtigte. „Wenn ich das auf einem Plakat
lesen würde, ginge ich sofort in das Theater“, meinte Buñuel.[8] Das Stück wurde indes
nicht geschrieben, der Titel war frei, und Buñuel nahm ihn sofort für
seine Zwecke in Beschlag. Bezogen auf die Handlung ist er so wenig zwingend,
wie es der Titel „Die Schiffbrüchigen von der Straße der Vorsehung“
gewesen wäre. Aber auf eine logische oder semantische Kongruenz zwischen
Titel und Erzählung kam es den Surrealisten ohnehin nie an. Im Gegenteil:
„Es
war eine Angewohnheit der Surrealisten, Titel aus einem oder mehreren überraschenden
Wörtern zu erfinden, durch die dann ein Bild oder ein Buch in völlig
neuem Licht erschien. Ich hatte verschiedentlich versucht, das aufs Kino anzuwenden,
beim Andalusischen Hund und bei L’Age
d’Or natürlich,
aber auch beim Würgeengel.“[9]
Buñuel betonte im Interview
mit Manuel Michel den Verzicht auf jegliche Musik, mit Ausnahme zweier dramaturgisch
notwendiger Stücke für Cembalo und Orgel und natürlich der von
Blanca gespielten Sonate von Paradisi. „Ich glaube, daß die Musik etwas
Verräterisches an sich hat“, meinte Buñuel. „Sie kann Schwächen
in der bildlichen Konzeption einer Szene maskieren. Sie unterstreicht manchmal
mehr als das Bild die dramatische Spannung.“[10]
Noch eine letzte Reminiszenz aus
den Erinnerungen Buñuels sei hier zitiert; sie betrifft ein auffallendes,
den Würgeengel kennzeichnendes stilistisches
Mittel, die szenischen Wiederholungen:
„In meinem Leben wie in meinen
Filmen habe ich mich immer von Dingen angezogen gefühlt, die sich wiederholen.
Ich weiß nicht, warum das so ist, ich versuche es auch gar nicht erst
zu erklären. Im Würgeengel gibt es mindestens zehn Wiederholungen.
(…) Ebenso sieht man zweimal, unter verschiedenen Blickwinkeln, wie die Gäste
in die Halle treten und der Hausherr den Maître d’Hôtel ruft. Als
der Film fertig geschnitten war, nahm mich Figueroa, der Chefkameramann, auf
die Seite und sagte: „Luis, da ist was Fürchterliches passiert!“ – „Was
denn?“ – „Die Einstellung, wie sie ins Haus kommen, ist doppelt.“ Wie hat er
auch nur eine Sekunde lang glauben können – er, der die beiden Einstellungen
gedreht hatte –, daß dem Cutter und mir ein so grober Fehler hätte
unterlaufen können?“[11]
Der Chefkameramann glaubt, einen
Fehler entdeckt zu haben. Er spricht hier gleichsam als Agent der filmischen
Zeit, der zwischen der Erzählzeit, die der Film benötigt, um seine
Geschichte zu erzählen, und der erzählten Zeit, die in diesem Film
fiktiv vergeht, zu vermitteln hat. Eine Szene, die sich wiederholt, ist im klassischen
Filmplot ein Fehler, weil sie das Konzept der Erzählzeit zerstört
und die Zeitverhältnisse überhaupt in Frage stellt. Die Fiktionalität
der Narration steht damit auf dem Prüfstand, genauer: die Fiktion, dass
im Rahmen der Geschichte, die der Film erzählt, „die Zeit vergeht“. Am
Ende, wenn die Gäste das Haus Edmundo Nobiles verlassen, wissen wir als
Zuschauer in der Tat nicht genau, wieviel Zeit (fingierte Zeit) „vergangen“
ist. Es können Tage oder Wochen sein. Das Liebespaar, das sich in einen
Wandschrank zurückgezogen hat, um sich zu lieben und sich schließlich
die Pulsadern aufzuschneiden, glaubt, bereits monatelang eingeschlossen zu sein.
Andererseits scheint die Zeit gegen Null zu schrumpfen, wenn Leticia plötzlich
entdeckt, dass alle Gäste die gleiche Stellung am gleichen Ort einnehmen
wie in jener Situation, als Blanca ihre Sonate gespielt hatte und der allgemeine
Aufbruch nahe schien.
Leticias Entdeckung erweist sich
als Lösung des Problems: Der Albtraum verfliegt buchstäblich im Handumdrehen,
als die Gäste diese Beobachtung nachvollziehen und ihren Wunsch, aufzubrechen,
in die Tat umsetzen. Filmisch oder vielmehr choreographisch gesprochen, ist
der „Anschluss“ an die Szene, bevor eine Störung eintrat, wieder hergestellt;
der Film kann jetzt zu Ende gehen. Man könnte auch sagen: Die Störung
hat nicht existiert, sie ist zumindest „aufgehoben“ und gegenstandslos geworden.
Damit sind aber auch die Zeitverhältnisse, die der Film fingiert, „aufgehoben“:
Etwas ist geschehen, aber vielleicht ist auch nichts geschehen, denn die Handlung
kann dort ihren Fortgang nehmen, wo sie aufgehört hat. Mit dem Würgeengel haben wir also den merkwürdigen
Fall, dass wir zwar von einer Einheit des Ortes sprechen können, nicht
aber von einer Einheit der Zeit: Die Zeitverhältnisse insgesamt sind in
diesem Film ein zentrales Problem. Auf die Frage, welche Auswirkungen auf den
Realitätscharakter aus diesem Zeit-Problem resultieren, wird noch zurückzukommen
sein.
III Buñuel
und die spanische Bourgeoisie
Als ich zu Beginn von Buñuels
Abneigung gegenüber Symbolismus und Psychoanalyse sprach, wollte ich seinen
Film natürlich nicht gegenüber jeglicher Exegetik, jedem Deutungsversuch
schützen. Die Surrealisten haben zwar dem Bedürfnis, ihre Werke zu
erklären und zu interpretieren, Widerstand entgegen gesetzt, ihm gleichzeitig
aber immer wieder Nahrung gegeben. In den sechziger Jahren hatte Buñuel
zudem von der radikalen, avantgardistischen Phase des Surrealismus, aus der
z.B. L’Age
d’Or hervorgegangen
war, längst Abschied genommen; der Surrealismus als avantgardistische Bewegung
war bereits Geschichte, und viele der früheren Weggefährten Buñuels
waren tot. Seine Filme wurden nun auf den großen Festivals, vor allem
in Cannes, wahrgenommen, teilweise gefeiert und prämiiert, und sie konkurrierten
mit dem Mainstream-Kino, d.h. auch mit den Normen des Erzählkinos Hollywoods,
das auf
die Logik „verständlicher“ Geschichten
und ein identifikationsbereites Publikum setzte. Buñuel waren diese Maßstäbe
durchaus vertraut, ebenso die Frage, wie denn nun seine Filme zu verstehen seien
– auch wenn er sie nicht gern beantwortet hat.
So hätte er zum Beispiel
zu der naheliegenden These, Der Würgeengel sei eine Parabel über den Untergang der Bourgeoisie, vermutlich
geschwiegen, ihr aber wohl auch nicht widersprochen. Buñuel gehörte,
im weitesten Sinne, jener westeuropäischen Linken der 30er und 40er Jahre
an, für die eine antikapitalistische Haltung und der Kampf gegen den deutschen,
spanischen und italienischen Faschismus selbstverständlich waren. Im Interview
mit Manuel Michel hat er diese grundsätzliche Position dezent, aber auch
sehr präzis umschrieben:
„Natürlich bin ich durch
meine Abstammung aus einer katholischen Familie der spanischen Bourgeoisie,
durch meine Erziehung bei den Jesuiten sowie auch durch den Umstand, immer in
dieser einen Hälfte der Welt gelebt zu
haben, fast zwangsläufig dahin gekommen, mich für die Probleme der
bürgerlichen Gesellschaft zu interessieren. Meine Kindheit und meine Jugend
standen unter den zerstörerischen Normen und Prinzipien dieser Gesellschaft;
sie haben in mir ihr Erbteil hinterlassen: ein ganzes System von Verboten und
Verdrängungen. (…) Für mich ist es selbstverständlich, die
sogenannten ewigen Prinzipien (gemeint sind hier Religion, Vaterland und Familie.
KK) anzugreifen, denn sie sind Instrumente der Unterdrückung, und ich glaube,
daß man einen permanenten Kampf für die Freiheit führen muß.“[12]
Dass im Würgeengel das moralische Inventar der herrschenden Klasse einer kritischen
Vivisektion unterzogen wird ist, ist kaum zu übersehen. Je weiter der Film
voranschreitet, um so intensiver werden wir als Zuschauer als ziemlich mitleidlose
Augenzeugen in eine Untersuchung hineingezogen: eine Untersuchung am lebenden
Befund eines sozialen Körpers. Die Frage kann allein die sein, ob der Film
sich in dieser gesellschaftskritischen Analyse erschöpft und vollkommen
darin aufgeht; ob mit der politischen Etikettierung der Film dingfest gemacht
und ad acta gelegt werden kann.
Mit großer Transparenz wird
zu Beginn das Gerüst der bürgerlichen Gesellschaft als Klassengefüge
konstruiert: Es gibt „oben“ und „unten“, die Herrschaften im Salon und das Dienstpersonal
im Souterrain und in der Küche – ein sozialer Aufriss, der an die Klarheit
erinnert, mit der Jean Renoir in La Règle du Jeu die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft Frankreichs in
der Zwischenkriegszeit durchleuchtet hat. Sukzessiv kündigt das Personal
seiner Herrschaft den Dienst auf: eine scheinbar klassenkämpferische Verweigerung,
die sich freilich im weiteren Verlauf als ein instinktiver Rückzugsreflex
entpuppt: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“ – so kommentiert es einer
der Gäste. Später gesellt sich das Dienstpersonal zu den Schaulustigen
auf der Straße: ohne Mitleid mit den eingeschlossenen Stützen der
Gesellschaft, aber auch ohne strategischen Gewinn für die eigene Sache.
Ganz am Ende, wenn die bürgerlichen und aristokratischen Herrschaften abermals,
diesmal in der Kirche, eingeschlossen sind, wird auf der Straße eine offensichtlich
revoltierende Masse von Polizeikräften auseinandergetrieben: Auch hier
scheint etwas zu scheitern: Mit dem Blick auf einen misslingenden Aufstand zieht
sich Buñuel aus der Erzählung zurück.
Vom Ende her betrachtet ist es
allerdings möglich, auch das Klassenschicksal des Bürgertums in einem
neuen Licht zu sehen. Solange sich die bourgeoise Elite, eingeschlossen und
gleichsam eingekapselt im eigenen Ambiente, selbst beobachten kann und, innerhalb
der ihr gesetzten Grenzen, ihren moralischen Verfall zu reflektieren vermag,
scheint sie auch in der Lage zu sein, ihren Untergang aufzuhalten und die gefährliche
Krise, in die sie geraten ist, ins Positive zu wenden. Wenn Leticia vorschlägt,
alle Gäste sollten die Rückkehr zur Ausgangsposition nutzen, um nun
endlich der Party ein Ende zu setzen und gesittet nach Hause zu gehen, ist dies
ein Appell an die bürgerliche Logik, der die Gäste dann auch befähigt,
sich sozusagen an den eigenen Haaren aus dem (bürgerlichen) Sumpf zu ziehen.
Aber sie entgehen offenbar nur
befristet dem für sie vorgesehenen Schicksal. Wenn sich in der Schlusszene
der Albtraum des Eingeschlossenseins wiederholt, hat es den Anschein, als sei
diesmal die Situation aussichtslos und eine abermalige Rettung nicht zu erwarten:
Der Film endet hier, und die Choreographie der Wiederholung scheint erschöpft.
Politisch gesprochen: In der Kathedrale befindet sich die gesellschaftliche
Elite gleichsam im Klammergriff der sancta ecclesia – jener Macht, der die spanische Bourgeoisie stets verpflichtet
war und die auch das franquistische Regime bis zu einem gewissen Grade gesteuert
hat. Die berittene Polizei draußen auf der Straße reagiert noch
nach altem Muster, aber das Schicksal der bürgerlichen Klasse scheint besiegelt
– ohne dass freilich auch nur die Andeutung einer politischen Alternative, einer
Perspektive der Befreiung erkennbar wäre.
Man muss gar nicht an dieser gesellschaftsanalytischen
Lektüre des Filmplots festhalten, um die Erzählung selbst als einen
Abbauprozess, als eine Verfallsgeschichte bürgerlicher Charaktere zu lesen.
Buñuel beobachtet diesen Prozess wie in einem Laborversuch und bezieht
dabei auch uns, die Zuschauer, in die Choreographie der Versuchsanordnung mit
ein. Der Begriff „Choreographie“ scheint mir hier besonders sinnfällig,
weil er – ganz unabhängig von den möglichen gesellschaftskritischen
oder psychoanalytischen Deutungsversuchen – ins Zentrum der filmischen Realität
und der ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten führt.
IV Einiges über
Choreographie
„Choreographie“ meint ja, im Kontext
der Tanzkunst, das System der Beziehungen zwischen agierenden Körpern,
und in eben diesem Sinne erweist sich das Arrangement im Würgeengel als choreographisches Tableau,
das mit dem pompösen Ritual des Entrees beginnt („Entree“ bezeichnet im
Ballett bekanntlich die Eröffnung), mit dem würdevollen Auftritt der
Gäste: ganz im repräsentativen Stil der Opernaufführung, die
man an diesem Abend gemeinsam besucht hat und im Salon des Edmundo Nobile ausklingen
lassen will. Beim Souper verlagert sich das choreographische Beziehungsnetz
auf die verbale Ebene, auf das Ballett des Dialogs, wobei erste Störungen
zu verzeichnen sind: einige zynische Bemerkungen, die das Unflätige streifen;
die Betretenheit der Gesellschaft, als sich der Toast des Gastgebers auf die
Sängerin wiederholt. Der Sturz des Dieners beim Servieren der Getränke
reißt die choreographische Anordnung wieder abrupt in die körpersprachliche
Dimension. Beim Tanz irritiert der Austausch einiger teilweise drastischer erotischer
Anzüglichkeiten. Mit dieser Gesellschaft „stimmt etwas nicht“; eine zunächst
kaum merkliche Differenz zwischen der repräsentativen Ästhetik ihrer
Performance und ihrer tatsächlichen kulturellen und moralischen Verfassung
drängt sich immer stärker auf.
Der Übergang zwischen der
Phase, in der die Gäste ihren Abschied nur ein wenig hinauszuzögern
scheinen, und jenem Moment, in dem sie sich ihres Eingeschlossenseins bewusst
werden, erscheint wie ein Niemandsland zwischen dem Realen und dem Surrealen,
zwischen den Ausläufern eines späten Abends und den Unberechenbarkeiten
der Nacht – eine Grenzregion, die Nobile sinnieren lässt, dies sei „die
Stunde, in der unser Körper die maximale Depression erreicht.“ Die Zäsur
markiert jener Augenblick, in dem sich der erste Gast seines Jacketts entledigt
und sich auf dem Boden ausstreckt; wir hören eine empörte Bemerkung
der Gastgeberin, aber es wird nur noch geflüstert: Von nun an verliert
das Verbale an Gewicht; es tritt seine Dominanz wieder an die Choreographie
der Körper ab – merkwürdig erschlaffter Körper, die sich wie
in Trance bewegen und einem im gesellschaftlichen Alltag unterdrückten
Triebautomatismus nachzugeben scheinen. Akustisch regiert in diesen Szenen des
Übergangs das Ticken einer Wanduhr: Die Zeit verstreicht, aber ebenso gut
könnte man sagen, dass sie auf der Stelle tritt; mit der Stunde, „in der
unser Körper die maximale Depression erreicht“, scheint ein finaler Zustand
dieser derangierten Bourgeoisie erreicht. Gegen Ende des Films wird die Gesellschaft
sogar unter Quarantäne gestellt: Die gelbe Fahne weist das Haus, das zu
ihrem Gefängnis geworden ist, gleichsam als kontaminiert aus.
Wir verfolgen einen Verfaulungsprozess.
Eine gesellschaftliche Elite verliert allmählich ihre Form – aber das heißt
nur: Die bürgerliche Choreographie verliert ihren ästhetischen Schein.
Die Sprache der Körper wirft ihre Masken, ihre Kostüme, ihre Stilisierungen
ab und gibt sich – zwischen Herzattacken, hysterischen Anfällen, Halluzinationen,
jähen Beleidigungen und physischer Aggression bis zum Mordkomplott – in
ihren kreatürlichen Ursprüngen zu erkennen. „Schmutz, Gewalttätigkeit
und Gemeinheit“, so formuliert es einer der Gäste, kennzeichnen das Überlebensprogramm.
Noch freilich gibt es Grenzen.
Inmitten der Auflösung bewahren einige Gestalten die Übersicht: der
Doktor zum Beispiel, der für die Körper zuständig ist, damit
auch für die körperliche Contenance und die bürgerliche Moral,
die den Körper formt und ihm seinen Rahmen gibt. Oder Julio: als Majordomus
gehört er einer Zwischenschicht an; die Formen der herrschenden Klasse
hat er verinnerlicht, aber der bürgerliche Zynismus ist ihm fremd. Mit
weicher, beinahe zärtlicher Eleganz und graziösen Bewegungen verzehrt
er sein Menü aus Papier. Und es gibt noch das Gesetz der Entsorgung: für
die körperlichen Ausscheidungen und für die Toten sind die Wandschränke
da. Aber auch die grenzenlose, alle bürgerlichen Schranken niederreißende,
„hochromantische“ Liebe findet im Wandschrank ihr Refugium und gleichzeitig
ihre Entsorgung: bis das Blut über die Schwelle sickert, sich Leichengestank
ausbreitet und der Anblick des toten Liebespaars das hysterische Gelächter
der Überlebenden provoziert.
V Außen
und Innen, Kino und Film
Dass hier also eine Klassenmoral
besichtigt, seziert und zur Schau gestellt wird, ist schwerlich von der Hand
zu weisen – und die Schlussfolgerung, dass der „dezente Charme“ dieser Bourgeoisie
in ihrer Verwahrlosung, in der Gestik ihrer Selbst-Dekonstruktion besteht, ist
naheliegend. Der Charme Buñuels wiederum besteht darin, dass er uns diese
Exegese nicht aufzwingt, dass er eher spielerisch mit ihr umgeht und uns, den
Zuschauern, die Freiheit lässt, die politische Lektion ernst zu nehmen
oder auch nicht. Überhaupt wird dem Zuschauer im Würgeengel eine aktivere Rolle zugestanden, als es ihm selbst beim oberflächlichen
Hinsehen erscheinen mag. Dies ist nicht zuletzt der Dezenz der Kamera zu verdanken,
der sanft geführten, unaufdringlichen Kamera von Gabriel Figueroa, über
die Peter W. Jansen in seinem Buñuel-Essay sehr genau nachgedacht hat:
„Buñuels Technik ist die
Arbeit, nicht als Technik zu erscheinen. Sie ist damit nicht nur dem Mechanismus
des Traums angepaßt, sondern auch einem ‘natürlichen’ Sehen. Die
meisten Einstellungen in seinen Filmen (…) sind leicht, fast behutsam bewegt.
(…) Die bewegten Einstellungen Buñuels (…) sind im wesentlichen rein
funktional; sie dienen dazu, die Entwicklung einer Szene darzustellen, ohne
daß sich ein Schnitt störend dazwischen schieben müßte.
Zur Vollkommenheit ist diese Verfahrensweise (…) zumal in El Angel Exterminador entwickelt: die Kamera scheint
mit eingeschlossen zu sein in den Salon, den Gastgeber und Gäste aus unerklärlichen
Gründen nicht verlassen können; sie ist geradezu schwerelos schwebend
in die Szene eingelassen und dennoch fast wie nicht vorhanden. Der Effekt solcher
ganz aufs Funktionieren gerichteten Einstellungen beim Rezipienten ist: daß
er nicht den Eindruck hat, zu immer wieder neuen ‘Einstellungen’ seiner Augen
gereizt zu werden, sondern mit einem Blick jeweils alles zu erfassen. Dem Blick
des Zuschauers scheint (obwohl das in Wirklichkeit nicht der Fall sein kann)
nichts diktiert zu werden, er – und nicht die Kamera – ist es, der jede Szene
auch in deren Veränderungen folgt. So stellt sich im Bewußtsein des
Rezipienten der Eindruck eines großen Panoramas ein, eines Bildes, dessen
Abmessungen stets größer sind als das, was auf der Leinwand gerade
in einem Ausschnitt zu sehen ist; und es ist ein Ausschnitt, den der Zuschauer
selbst hergestellt zu haben scheint, in freier Entscheidung gerade für
dieses Detail.“[13]
Aus dieser Kamerakunst resultiert
ein produktiver, die ambivalente Situation des Zuschauers kennzeichnender Widerspruch:
Wenn es so scheint, als sei die Kamera „mit eingeschlossen“ in den Salon, dann
überträgt sich dieser Schein auch auf uns, die Zuschauer, die wir
ja nur mit Hilfe der Kamera sehen können, was in diesem Salon geschieht.
Wir sind als Beobachter somit auch „eingeschlossen“ – gleichzeitig haben wir
in dieser klaustrophobischen Situation die wenn auch nur fiktive Freiheit, uns
wie in einem „Panorama“ zu orientieren und uns für Details zu entscheiden,
die uns nicht von der Kamera diktiert werden; ganz abgesehen von den Outdoor-Szenen,
in denen wir den Bannkreis des Hauses verlassen und uns mit der Kamera unter
die Schaulustigen draußen mischen.
Damit komme ich zum Problem der
Zeit zurück, das ich anfangs angesprochen habe. Die relativ geringe Zahl
der Schnitte begünstigt zunächst den Eindruck einer Kongruenz von
Erzählzeit und erzählter Zeit. Dass dieser Eindruck trügt, wird
uns bewusst, wenn den Menschen im Salon selbst das Zeitverhältnis fragwürdig
wird und sie sich fragen, ob sie erst Tage oder nicht schon Wochen oder gar
Monate eingeschlossen sind. Anders als bei einem Eins-zu-eins-Verhältnis
von Erzählzeit und dargesteller Zeit, aber auch anders als bei einem Film,
dessen Montage uns durch heterogene Zeitabschnitte dirigiert, bewegen wir uns
als Zuschauer in einer filmischen Realität, in der wir ein Geschehen gleichsam
lückenlos zu beobachten glauben, gleichzeitig aber an der Ökonomie
des zeitlichen Ablaufs, an der Logik der Chronometrie zu zweifeln beginnen.
Auch in einer einzelnen Kameraeinstellung scheint sich mehr Zeit aufzustauen,
als sie nach Sekunden oder Minuten misst.
Damit entsteht auf der Wahrnehmungsebene
eine eigenartige Äquivalenz zwischen dem Beobachter und dem beobachteten
Gegenstand, zwischen den Zuschauern und den Akteuren der filmischen Realität.
Wir leiden nicht wie sie; folglich haben wir die moralische und intellektuelle
Freiheit, für sie Mitleid zu empfinden oder ihnen unsere Empathie zu entziehen.
Aber ähnlich wie Edmundo und seine Gäste geraten wir in den Sog der
rätselhaften Zeit, die ja ein zentrales Problem der Surrealisten war. Dank
der Kamera sind wir frei und unfrei zugleich: Als Beobachter stehen wir außerhalb,
aber wir stehen in einem „Außen“, das auch ein „Innen“ ist, eingeflochten
in ein Drama, in dem Menschen agieren, die sich selbst zum Rätsel geworden
sind, in dem aber auch der empirische Zeitbegriff offenbar nicht mehr funktioniert.
Dieses Quidproquo zwischen Außen
und Innen hat die Surrealisten immer interessiert, und soweit sie von der Kinematographie
fasziniert waren, haben sie es auf das Wechselverhältnis von Kinorealität
und filmischer Realität anzuwenden versucht. Ein neuerer Aufsatz von Jean
Michel Bouhours über „Das Unbewusste im Film“ bezieht sich auf einen Weggefährten
Buñuels aus der Pariser Zeit, Robert Desnos, der dargelegt habe, „wie
die Dunkelheit im Zuschauerraum Intimität entstehen lässt. Die Surrealisten
sehen den Kinosaal nicht als einen Ort, an dem der Alltag durch Fiktion sublimiert
wird, sondern als den Ort, an dem sich geheimnisvolle psychische Phänomene
abspielen.“[14]
Sieht man die Situation der eingeschlossenen
Gesellschaft im Würgeengel unter diesem Aspekt, drängt
sich eine weitere Analogie auf: Diese „fiktionalen“ Figuren befinden sich in
einer ähnlichen Situation wie die „realen“ Menschen im Kino. Als Akteure
agieren sie, aber das Schicksal, das ihnen widerfährt, verurteilt sie zur
Passivität. Sie sind Handelnde und Beobachter ihrer Handlungen zugleich.
In ihrem Salon sind sie „eingeschlossen“ wie die Zuschauer im Kino – und wenn
sich auf der Ebene der Wahrnehmung und der Zeiterfahrung ein Bündnis zwischen
dem Rezipienten und der filmischen Realität herstellt, dann zeigt sich
auf der strukturellen Ebene eine Analogie zwischen den Akteuren im Film und
der Kinorealität. Bis zu einem gewissen Grade gilt für Edmundo Nobile
und seine Gäste, was Jean Michel Bouhours über die Konstitution des
Kinopublikums in der Auffassung der Surrealisten sagt:
„Die
Bedingungen, unter denen man einen Film sieht, versetzen den Zuschauer in einen
Zustand zwischen Wachen und Traum, eine Art bewusster Halluzination. Der Zuschauer
ist wach, aber von der Außenwelt isoliert. Seine körperlichen Funktionen
werden in Ruhe versetzt, er sitzt bequem da, ohne den Sinneseindrücken
der Außenwelt ausgesetzt zu sein, und sein Blick fixiert die Leinwand.
Gleichzeitig vollzieht sich während eines kurzen Zeitraums ein fragiler
psychologischer Transfer. Im dunklen Kinosaal dominieren die mentalen Bilder,
die sonst meist durch die Bilder der realen Welt verdrängt werden; der
Zuschauer akzeptiert in diesem Moment die von der Alltagswirklichkeit unberührten
Bilder als absolute Realität.“<![if>[15]
„Der Zuschauer ist wach, aber
von der Außenwelt isoliert“: Eben dies gilt, freilich unter anderen Bedingungen,
auch für die Gesellschaft in Nobiles Villa. Ihre körperlichen Funktionen
sind dadurch, dass sie zu weitgehender Passivität verurteilt sind, erheblich
reduziert; und was ihnen widerfährt, durchleben sie, ähnlich wie die
Bilder eines Films, in einem Zustand „zwischen Wachen und Traum“: offen für
die halluzinatorischen Erfahrungen, die sie, wiederum vergleichbar mit Filmbildern,
aufnehmen, als wären es von der empirischen Wirklichkeit unberührte
Erscheinungen einer „absoluten Realität“. Gerade die Reduktion auf einen
Wartezustand, bei stark eingeschränkter physischer Aktivität, macht
ihre Phantasie, aber auch ihre erschlafften Körper empfänglich für
Entgrenzungen, für das im bürgerlichen Sinn Verbotene oder Unerwünschte:
auch und besonders für das, was ein aufgebrachter Gast als „Schmutz, Gewalttätigkeit
und Gemeinheit“ an den Pranger stellt.
Keine Analogie verträgt es,
dass man sie überspannt – auch diese nicht. So sei auch dieser Hinweis
auf die Filmobsession der Surrealisten nur als Anregung verstanden, als eine
Überlegung, die zumindest impliziert, dass der große Buñuel
seinem Film vielleicht eine kleine Philosophie über das Kino eingeschrieben
hat. Im übrigen sollten auch wir als Interpreten die Buñuelsche
Tugend uns zu eigen machen, unserem Publikum Freiheit zu lassen: jene Freiheit,
die erst die schöpferische Assoziation möglich macht.
Klaus Kreimeier
Dieser Vortrag im Rahmen des 4. Mannheimer Filmseminars "Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie – Luis Bunuel", März 2005, wurde bisher nur in der filmzentrale veröffentlicht.
[1] Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Frankfurt/M.; Berlin; Wien (Ullstein) 1985, S. 230
[2] Interview Manuel Michel. In: Peter W. Jansen und Wolfram Schütte (Hrsg.): Luis Buñuel. München / Wien: Hanser (Reihe Film 6) 1975, S. 43
[3] Interview Roxane Saint-Jean. In: Jansen / Schütte, S. 53
[4] Mein letzter Seufzer, S. 43 f.
[5] Mein letzter Seufzer, S. 41 f.
[6] Mein letzter Seufzer, S. 231
[7] Mein letzter Seufzer, S. 229
[8] Mein letzter Seufzer, S. 229
[9] Mein letzter Seufzer, S. 240
[10] Jansen / Schütte; S. 43
[11] Mein letzter Seufzer, S. 230
[12] Jansen / Schütte, S. 44 f.
[13] Peter W. Jansen: Der organisierte Anarchist. In: Jansen / Schütte, S. 24 f.
[14] Jean Michel Bouhours: Das Unbewusste im Film. In: Werner Spies (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944, Düsseldorf (Hatje Cantz) 2002, S. 404
[15] Bouhours, S. 405
Der Würgeengel
EL ANGEL EXTERMINADOR
Mexiko / Spanien – 1962 – 93 min. – schwarzweiß – FSK: ab
18; feiertagsfrei – Verleih: Die Lupe, atlas (16 mm) – Erstaufführung:
3.10.1966/13.4.1968 WDR/28.4.1976 DFF 1 – Produktionsfirma:
Uninci/Films
59 – Produktion: Gustavo Alatriste
Regie: Luis Buñuel
Buch: Luis Buñuel
Vorlage: nach dem unveröffentlichten Bühnenstück
"Die Schiffbrüchigen" von José Bergamín
Kamera:
Gabriel Figueroa
Musik:
Domenico Scarlatti, Pietro Domenico Paradisi, gregorianische Gesänge
Schnitt: Carlos Savage
Darsteller:
Silvia Pinal (Leticia, die "Walküre")
Enrique
Rambal (Edmundo Nobile)
Lucy
Gallardo (Lucía Nobile)
Jacqueline
Andere (Alicia Roc)
Augusto
Benedico (Doktor)
zur startseite
zum archiv
zu den essays