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Ich
schau dir in die Augen, Großer
Eine Bertolucci-Retroperspektive
Bernardo
Bertolucci filmt seit einem halben Jahrhundert. Mit fünfzehn Jahren fing
er an. Mit 20 assistierte er Pier Paolo Pasolini bei <Accattone> (1961). Meister und Schüler kommunizierten durch Gedichte. Bertolucci
widmete Pasolini seinen ersten Gedichtband «In cerca del mistero»
(Auf der Suche nach dem Geheimnis) mit den Zeilen «Vicino a te, timida come una sposa»
(In deiner Nähe, schüchtern wie ein Eheweib). Pasolini antwortete
mit «Ad un ragazzo: Col sorriso confuso di chi la timidezza» (An
einen Knaben: Mit dem unsicheren Lächeln deiner Schüchternheit). Einen
anderen zu enträtseln zu versuchen und dafür Bilder zu finden, die
sich befragen lassen und doch die letzte Antwort verweigern, – dies sollte der
Antrieb für Bertoluccis erste Filme werden. Das «Kino der Poesie»
(Pasolini) lud zum Betrachten, zum genauen Hinsehen ein und nicht, wie in den
sechziger und siebziger Jahren geübt, zum Abfragen einer Botschaft. In
den Filmen Bertoluccis war «der andere» angesprochen, auch der Rezipient,
und dieser war gefordert.
Sie
wollen es Bertolucci zeigen, ob Prololaie, ob Marlon Brando
Schon
1962 dreht Bertolucci seinen ersten Spielfilm: <La commare secca>. Das
Treatment hatte ihm Pasolini geschenkt. Wir können von einem Film-Gedicht
sprechen. Strophenartig ist der Film aufgebaut. Wie ein Refrain wiederholen
sich nach den Episoden Musik, Geräusch (Gewitterregen), Einstellungen aus
dem Zimmer einer Prostituierten, welche Kaffee und Milch auf den Herd rückt
und einen Blick aus dem Fenster wirft. Bertolucci drehte mit Laiendarstellern
aus dem römischen Subproletariat. Er hatte die Gabe, dem anderen in die
Augen zu kucken, auf Augenhöhe, und ihn zu animieren, persönlich zu
werden, attraktiv – aber nicht explizit. Noch als er später mit großen
Schauspielern arbeitete wie mit Marlon Brando und Maria Schneider, zeigten diese
sich fasziniert, aus sich herauszugehen und es ihm, Bertolucci, zeigen zu können,
und so geschah es auch in <Der letzte Tango von Paris> (1972). Beide gaben weit mehr von sich preis, als vorgesehen
– und beließen es dabei. Um die Dramaturgie einer Erzählung, um das
Was-will-der-Autor-damit-sagen war es nicht gegangen, und dies in einer Zeit,
in der Engagement und politische Haltung gefordert waren. Man könnte Bertolucci
als den Antipoden von Godard bezeichnen.
Der
erste große Film: <Vor der Revolution> (1963/64). Fünf Jahre
vor 1968. Auf der Straße die Herrschaft der Parolen; draußen, im
Film, regiert die Ambivalenz. Bertolucci befreit sich mit dem Paar Fabrizio
und Agostino von vorgezeichneten Rollen: Marxist zu sein, Mann zu sein, zu den
Reichen zu gehören. Die Lösung: sowohl das eine wie das andere. Sich
in <Partner> (1968) aufzuspalten und diese miteinander und gegeneinander
spielen zu lassen, auch Sex zu haben, wird sein Dauerthema werden bis hin zum
Film <Die Träumer> (2003), dem nostalgischen Rückblick auf die Pariser
Studentenbewegung der sechziger Jahre. Die Bilder, die Bertolucci hierfür
findet, sind affektiv besetzt. Große Gefühle finden in der Oper ihren
Ausdruck. Die Verdisängerin verführt im Melodram <La Luna> (1979)
den 15jährigen Sohn zum Versuch, sich vom übermächtigen Partner
(der inzestuösen Mutter und dem Opernstar) zu lösen und eigene Wege
zu gehen. Sie führen in eine Schwulenkneipe. Subproletariat und große
Oper finden bei Bertolucci – wie bei Pasolini – zusammen, kuckt man sich auf
Augenhöhe in die Augen.
Und
was wollen Sie, Herr Bertolucci? – «Ich filme».
Das Sich-von-etwas-befreien wird nie zum Ziel kommen. Es geht um die
Tätigkeit. Bertolucci sagt von sich: «Ich filme». Niemals:
ich stelle ein Filmwerk her, ich bin Filmemacher. Ein Maler würde sich
nicht als Bildermacher bezeichnen, aber als jemand, der malt. Bertolucci gehört
mit seinen Filmen zur Bildenden Kunst. Eine solche Sicht war einem großen
Teil der zeitgenössischen Rezeption seiner Filme fremd. Da war einer, der
sich um Diskurs und Drehbuch nicht scherte, dem aber Perspektiv- und Stimmungswechsel
wichtig war. Auf «Schau mir in die Augen, Kleines» antwortete er:
«Ich schau dir in die Augen, Großer». Wenn er einen Merksatz
im Dialog hatte, sorgte er dafür, dass dieser im Film dementiert wurde.
Der Zuschauer bekam nichts schwarz auf weiß in die Hand, das er getrost
nach Hause tragen konnte. In <Vor der Revolution> traktiert der eine den
anderen: «Du musst Mitglied der Partei werden. Selbst wenn du dich irrst,
hat der Irrtum einen Sinn. Gemeinsam muss man kämpfen». – Der Irrtum hat den Tod zur Folge. Das kleinlaute Dementi:
«Ich dachte die Worte (der Partei) sind klarer als meine».
Italiens linke Filmkritik hasste den Film. Er blieb damals unbekannt.
In Europa begann er gleichwohl seinen Siegeszug (Cannes, 1964). Ende der siebziger
Jahre war Bertolucci mit seinen Filmen der Souverän des italienischen Films,
Vorbild für Europa, akklamiert von der Filmkritik und umworben von Filmproduzenten
bis hin zum fernen Hollywood, die das Jahrhundertwerk <1900> (1976) finanzierten.
Autark war Bertolucci geworden, weil er sich nicht abhängig gemacht hatte,
ob von politischen, ob von Markt-Gesetzen. Deswegen regiert ab <Partner>
die Plansequenz, die autonome Einstellung, in der die Kamera der Phantasie Platz
verschafft. Der Schnitt, als literarische Reminiszenz, verliert (zunächst)
seine Rolle. Die Kamera übernimmt die Führung – am ausgeprägtesten
in <Strategie der Spinne> (1969). Sie begleitet die Handlung parallel
«im Stil der Bummelzüge auf dem Land» (Bertolucci), «man
entfernt sich nie zu weit, man bleibt immer in einem Abstand, das heißt
die Dinge werden fast immer von der Seite verfolgt».
Schien Bertolucci 1969 aus italienischer Sicht von Kritik, Politik
und Kapital mit seinen Parallelfilmen ins Abseits geraten zu sein, zeigte sich
schon ein Jahr später, dass ein Film wie <Der große Irrtum>
(Il conformista, 1970), finanziert von Paramount-Universal, das Publikum
erreichte. Es schätzte sowohl die Mischung von Ironie und Affekt als auch
das sehr politisch zu interpretierende Bild vom historischen Faschismus, der
sich als Konformismus im gegenwärtigen Alltag eingenistet hatte. Bertolucci
war Person auch des politischen Interesses geworden. Zuletzt (2003) versuchte
er, die objektive Historie der Pariser Studentenbewegung der sechziger Jahre
in eine subjektive Parallelwelt zu verlegen (<Die Träumer>). Antikonformisten
eröffnen sich Latenzen. Bertolucci wartet auch heute allen letzten Dingen
zu trotz (<Der letzte Tango>, <Der letzte Kaiser>, 1987) auf den Vorschein von etwas, ja was?, das kommen wird.
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser Text war auch ein Vortrag beim Filmpodium Zürich,
Ostern 2007
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