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Der Menschheitsträumer
Ein
unberechenbarer Filmemacher: Darren Aronofsky
Am Anfang war die Restaurantserviette.
Darren Aronofsky nahm einen Kugelschreiber zur Hand und skizzierte ein verschachteltes
Etwas aufs Papiertuch. In groben Zügen hatte der Regisseur seinen nächsten
Film „The Fountain“ schon im Kopf, damals, im Jahr 2000. Einen Slalom durch
Zeiten und Räume, eine Geschichte von der Sehnsucht nach Unsterblichkeit.
Jeder träumt diesen Menschheitstraum anders. In „The Fountain“ forscht
ein Mediziner fieberhaft nach einem Mittel gegen Krebs. Seine todkranke Frau
schreibt derweil an einem Roman, der von der ewigen Existenz der Seele handelt.
Sie selbst hat ihren Körper aufgegeben. Ihr Mann experimentiert verbissen
weiter. „Wir sind die meiste Zeit damit beschäftigt, unsere körperliche
Hülle intakt zu halten, und vergessen dabei, auch unseren Geist zu nähren,“
sagt Aronofsky und fügt hinzu: „Daraus entsprang eines der zentralen Themen
dieses Films: Macht uns der Tod menschlich? Wenn wir ewig leben könnten,
würden wir unsere Menschlichkeit verlieren?“
Dem hymnisch gefeierten Regisseur
von „Pi“
(1997) und „Requiem for a Dream“ (2000) ist das Spirituelle nicht in die Wiege gelegt worden.
Als Kind einer jüdischen Mittelklassefamilie wurde er 1969 in Brooklyn
geboren. Wenn der kleine Darren weinte, pflanzte ihn die Mutter vor den Fernsehapparat.
„Ich gehöre zur Sesamstraßen-Generation“, erklärt der bekennende
TV-Junkie. „Acht Stunden Fernsehen pro Tag: aus dieser Kultur komme ich.“ Dazu
gehören die Hollywood-Klassiker, Mystery-Serien wie „Twilight Zone“ und
japanische Animes. Der Fernseher war Aronofskys Fenster zur Welt, der Vergnügungspark
von Coney Island sein Spielzimmer. Der verstaubten Schönheit der „Cyclone“-Achterbahn,
dem Blick aufs offene Meer gegenüber hat Aronofsky in „Requiem for a Dream“
ein Denkmal gesetzt.
Nach künstlerischen Anfängen
in der New Yorker Graffiti-Szene studierte Aronofsky ab 1987 Anthropologie in
Harvard, wechselte dann zu den Fächern Film und Animation. Seinem Abschlussfilm
“Supermarket Sweep“ (1990) folgte „Protozoa“ (1993) als Studienprojekt im „American
Film Institute“ in Los Angeles – im Film war Lucy Liu erstmals zu sehen. An
seinem eigenen Debüt als Independent-Regisseur arbeitete Aronofsky von
1996 an: Im Zentrum von „Pi“ steht die faustische Figur des Max; überzeugt
davon, in den 216 Ziffern der titelgebenden Primzahl sei die „Weltformel“ verborgen,
verrammelt sich der Protagonist in seiner Wohnung, die überwuchert ist
von den Kabelsträngen und Platinen eines molochartigen Computers. „Euklid“
hat ein Bewusstsein, glaubt Max. Oder ist er verrückt geworden?
„Ich glaube nicht an Gott“, erklärte
der Regisseur, „mein Gott ist das narrative Filmemachen. Das jeweilige Thema
eines Films ist mein Mantra.“ Ergebnis dieser unbedingten Hingabe an die Charaktere,
ihre Glaubens- und Wahnsysteme sind singuläre, atmosphärisch und visuell
unverwechselbare Filme. Aronofsky wiederholt sich nicht, bisher jedenfalls –
mit dem harten Schwarzweiß, dem formalen Leitmotiv der Spirale, dem gehetzten
Erzählstil wird „Pi“ wohl Solitär im Werk Aronofskys bleiben. Insofern
stimmt der häufig angestellte Vergleich mit einem anderen cinéastischen
Weltenschöpfer: Auch Stanley Kubrick kam es auf die Unterschiedlichkeit
der filmischen Entwürfe an, auch er nahm mit jedem Film einen neuen Anlauf
– einen immer längeren Anlauf übrigens. Dass Aronofsky sechs Jahre
brauchte, um „The Fountain“ fertigzustellen, ist daher ziemlich Kubrick-verdächtig.
Fehlstarts, scheiternde Projekte, sind da eingeschlossen: Frank Millers Comic
„Ronin“ hat Aronofsky nach reiflicher Überlegung doch nicht verfilmt, ein
„Batman“-Projekt für Warner Brothers kam nicht zustande, und für den
Mystery-Thriller „Below – Da unten hört dich niemand schreien“ blieb seine
Mitarbeit aufs Drehbuch beschränkt.
Ohnehin ist Aronofsky nicht der
richtige Mann fürs Genrekino. Er streift die Gattungen, lässt sich
von ihnen inspirieren – aber am Ende passen seine Filme nicht zu Popcorn und
Cola-Eimern. Aronofsky stellt existenzielle Fragen. Und er lässt persönliche
Erfahrungen einfließen. Steven Spielberg bekannte sich spät zu seinen
jüdischen Wurzeln (mit „Schindlers Liste“). Demgegenüber baute Aronofsky seine Erlebnisse während
eines Kibbuz-Aufenthalts bereits in seinen Erstling „Pi“ ein: In Jerusalem lernte
er Mitglieder einer chassidischen Sekte kennen. Durch sie kam er mit Kabbala-Mystik
in Kontakt: „Ich sah Dinge, die andere als Wunder bezeichnen würden“. In
„Pi“ erzählte er dann von einer New Yorker Glaubensgemeinschaft, die hinter
Max´ Zahlenformel her ist. Männer mit geflochtenen Bärten, die
in der magischen Zahl das Wort Gottes zu erkennen glauben. Noch bedrohlicher
als die jüdischen Gelehrten wirken auf den Protagonisten jene Börsenspekulanten,
die mit Max´ Zauberzahl Kursgewinne vorhersagen wollen. Auch dieses Motiv
ist biographisch begründet. Als Aronofsky aus Israel zurückkehrte,
stellte er fest, dass seine Mitschüler inzwischen fast alle an der Börse
arbeiteten.
Immerhin regte das Aronofsky zu
einer findigen Finanzierungsidee an: Um Geld für „Pi“ zusammenzubekommen,
verkaufte er Anteilsscheine an Freunde und Verwandte – 100 Dollar pro Aktie,
mit einer Gewinnoption auf 150 Dollar, falls „Pi“ schwarze Zahlen schreiben
würde. Eine lohnende Investition für alle Beteiligten. Mit dem Sieg
als bester Film auf dem Sundance Festival 1998 zündete der Film. Senkrechtstart
für eine Regiekarriere. Benommen, „wie ein Alien“ sei er auf die Preisverleihungsbühne
gewankt, erinnerte sich Aronofsky später.
Hatte „Pi“ nur 60.000 Dollar gekostet,
schlug die Produktion von „Requiem for a Dream“ bereits mit 4,5 Millionen zu
Buch. In seiner kühnen, kühlen Verfilmung des Hubert-Selby-Romans
erzählt Aronofsky von vier Drogenkarrieren. Wenn sich die jungen Protagonisten
ihren Schuss setzen, greift Aronofsky zum Mittel der von ihm kreierten „Hiphop-Montage“:
Knappe Soundclips sind zu hören, während hart aneinander geschnittene
Detail-Shots den kurzen Weg zum Rausch illustrieren – die Herointüte wird
aufgerissen, die Spritze gefüllt, Heroin schießt ins Blut, Pupillen
springen auf. Dann die Auszeit von der Wirklichkeit, Segelfliegen im Niemandsland,
und natürlich, irgendwann: das bitterböse Erwachen, wenn Tyrone im
Knast, Marion auf dem Strich und Harry auf dem Amputationstisch landet, weil
sein Arm von der wuchernden Einstichwunde zerfressen wird. Aber auch Harrys
Mutter geht zugrunde, an den Schlankheitspillen, die sie süchtig machen,
weil sie doch so gern in einer Diätshow auftreten wollte.
„Für mich war das kein ‚Drogenfilm’,“ betont
Aronofsky, „denn alles hat das Potenzial zur Droge; der Fernseher, Kaffee, es
kann Rauschgift, es kann Hoffnung sein.“ – „It could be dope, it could be hope“,
reimt Aronofsky im Originalzitat, was wie ein zynischer Werbespruch klingt.
Alles ist käuflich. Und dann ist alles Nichts, davon kündet der Film,
in dem Aronofsky mit den Mitteln der MTV-Ästhetik eine Konsumgesellschaft
zu Grabe trug. Und keiner widersprach ihm: „Requiem for a Dream“ war mit Ablauf
des Jahres 2000 auf 150 amerikanischen Top-Ten-Listen gelandet.
Einmal mehr wurde Aronofsky seinem
Ruf gerecht, ein außerordentlicher Erfinder von Kamera-Techniken zu sein.
Nach dem Ersteinsatz der sogenannten „Snorry Cam“ in „Pi“ mussten seine Darsteller
wieder die Spezialkamera schultern, die den hilflosen Akteur in merkwürdig
starrer Perspektive zeigt, während ihm die Umwelt sozusagen um die Ohren
fliegt. Wenn Aronofskys Kamerastil ohnehin von den Extremen subjektiver und
objektiver Perspektive geprägt ist, gelang ihm bei „Requiem for a Dream“
beinahe die Quadratur des Kreises: Während die von Speed-Tabletten aufgedrehte
Mrs. Goldfarb im Zeitraffer putzt, aufräumt und bügelt, gleitet die
Kamera – ein computergesteuertes Modell namens „Death Star“ – ungerührt
und gemächlich durch ihre Vierzimmerwohnung. Langsam verlöschen die
Lichter. Wie das kalte Auge Satans blickt die Linse auf eine entgleisende Existenz.
Für 25 Sekunden Film musste Ellen Burstyn 30 Minuten durchspielen. In der
fast beängstigend intensiven Schauspielerin fand Aronofsky eine Gleichgesinnte,
die auch komplizierteste Re-Takes über sich ergehen ließ. „Sie ist
kein bisschen eitel, liefert sich dem Stoff vollkommen aus. Und genau darum
geht es“, schwärmte ihr Regisseur.
Kein Wunder, dass er Burstyn auch
im Nachfolgefilm „The Fountain“ wieder einsetzte. Kostenpunkt diesmal: 35 Millionen
Dollar. Aronofskys Ehefrau Rachel Weisz, die dort in einer Doppelrolle zu sehen
ist, wurde vom bedingungslosen Perfektionismus ihres Mannes keineswegs verschont:
„Eine Szene drehten wir immer und immer wieder. Darren treibt dich zu einem
Punkt, an dem du nicht mehr weißt, was du tust – und nur so gelangst du
zu einer wirklich authentischen Darstellung.“ Zur gebeutelten „Familie“ gehörten
auch Aronofskys Hauskomponist Clint Mansell und sein Kameramann seit dem Filmdebüt
„Pi“, Matthew Libatique, der mit Musikvideos bekannt wurde. Doch auf hektische
Schnitte und rasante Kameraperspektiven wartet man diesmal vergebens. Ein vorwiegend
ruhiger Fluss der Bilder, viele symmetrisch komponierte Einstellungen machen
„The Fountain“ zur vollkommen neuen Aronofsky-Erfahrung. „Ein Tunnel, der zum
Licht führt“, lautete die Losung für ein atemberaubendes, Jahrhunderte
wie Lichtjahre überbrückendes Setdesign. Doch schnurrt diese Fahrt
ins Licht, zu Erkenntnis, ja Erleuchtung, manchmal ein bisschen sehr virtuos
ab. In Momenten verfällt der Film ins Prätentiöse. Anders als
in Kubricks „2001“
fehlen Fragezeichen, Grauzonen der Deutbarkeit, ästhetische Widerhaken.
Und: Aronofsky stellt sich über die Figuren, gibt dem Mitgefühl wenig
Raum. „The Fountain“ ist ein messianischer Film. Er passt – Arononofkys Eigensinn
hin oder her – sehr gut in die von religiösen Heilsversprechen zurzeit
etwas überfrachtete US-Kultur.
Doch: nach dem Film ist vor dem
Film. Was das nächste Aronofsky-Projekt sein könnte, ist eine immer
spannende Frage. Man munkelt, dass der Regisseur zurzeit den gefeierten, düsteren
Comic „Lone Wolf and Cub“ adaptiere. Wie das wird? Nicht auszudenken.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-dienst
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