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Leben auf dem Drahtseil
Beobachtungen
zu den Filmen Fernando León de Aranoas
„Eine russische
Geschichte: Zwei ehemalige Parteigenossen treffen sich, sagt der eine zum anderen:
‚Alles, was sie uns über den Kommunismus erzählt haben, war gelogen.’
Erwidert der andere: ‚Ja, aber viel schlimmer ist, das alles, was sie uns über
den Kapitalismus erzählt haben, wahr war.’“
Serguei in
Los Lunes al Sol
Der erste Film fällt aus dem Rahmen. Scheinbar. Seit Barrio (1998) beschäftigen sich die Kinofilme Fernado
León de Aranoas, der außerdem als Drehbuchautor und fürs Fernsehen
arbeitet, mit den Marginalisierten im Spanien der Gegenwart. Hauptfiguren waren
Jugendliche in einem Armenviertel (Barrio), Arbeitslose (Los Lunes al Sol) und Prostituierte (Princesas). Familia (1996) hingegen erzählt die Geschichte Santiagos, eines
allein stehenden, reichen Mannes, der zu seinem 40. Geburtstag eine Gruppe Schauspieler
bezahlt, damit sie einen Tag lang für ihn Familie spielen.
Gerade der Film, der aus dem Rahmen zu fallen scheint, aber gibt einen
Schlüssel zum Verständnis seines gesamten späteren Werkes in
die Hand. Indem fingierte Vertrautheit als Negativ realer Entfremdung steht,
entwirft León de Aranoa ein umfassendes Bild familiärer Probleme,
die dort anfangen sichtbar zu werden, wo die Schauspielerei an ihre Grenzen
gerät. Der ‚Vater’ akzeptiert seinen brillentragenden ‚Sohn’ nicht, die
‚Frau’ hat keine Lust mit ihrem ‚Mann’ zu schlafen, der sich stattdessen verdächtig
ausführliche Beschreibungen vom Sexleben seiner adoleszenten ‚Tochter’
geben lässt („Hab’ ich etwa kein Recht zu erfahren, wem meine Tochter einen
bläst?“) und diese wiederum vögelt mit ihrem älteren ‚Bruder’.
Das komödiantisch überzeichnete Bild dieses Familienhorrors kulminiert
in dem Familienfoto, auf dem alle lächeln müssen – der Vorspann zerlegt
es in Segmente – und das zur doppelten Lüge wird, weil es eine harmonische
Familie zeigt, wo es eigentlich nicht mal eine disharmonische gibt. Dieses Lügenbild
allerdings zieht Santiago seiner realen Einsamkeit vor. Der Weg, den der Film
geht, ist prototypisch für das spätere Œuvre des Regisseurs: Durch
die Eskapismen der Menschen, ihre Träume, Phantasien und (Lebens-)Lügen,
sucht León de Aranoa zu einem Blick auf die Realität zu gelangen,
der sie verzweifelt zu entfliehen versuchen.
Die Phantasien von Javi, Manu und Rai, den drei fünfzehnjährigen
Protagonisten seines nächsten Films, beschäftigen sich naturgemäß
vor allem mit Sex, der für sie Teil einer Warenwelt ist – wie die Autos,
die sie von einer Autobahnüberführung aus vorbeirauschen sehen –,
die umso allgegenwärtiger und verführerischer scheint, desto mehr
den Jungs aus dem Barrio der Luxus den sie verspricht verwehrt bleibt. Die Autobahn
und die Eisenbahnstrecke reißen Schneisen in ihr Viertel, dieses urban wasteland mit seinen monotonen heruntergekommenen Wohnblocks und
seinen eingezäunten, mit Müll übersäten Brachen. Der Lebensraum
der drei Jungs ist für die meisten anderen Menschen nur eine triste Etappe
auf dem Weg in die große Stadt. Und was für die ewig auf der Strecke
Gebliebenen von dieser großen Stadt mit ihren käuflichen Träumen
übrig bleibt, ist eine Müllkippe. Hier sitzen sie auf ausrangierten Autositzen und lesen die Sexanzeigen in alten Zeitungen. Noch auf
ihrer Flucht in die Kleinkriminalität scheinen sie ihre Rolle verinnerlicht
zu haben: Von allen Dingen, die man in einem Supermarkt klauen könnte,
entscheiden sie sich ausgerechnet für Joghurtdeckel, um ihre Chancen bei
einem Gewinnspiel zu erhöhen.
me llaman calle, pisando baldosa
la revoltosa y tan perdida
me llaman calle, calle de noche, calle de día
me llaman calle, hoy tan cansada, hoy tan vacía
como maquinita por la gran ciudad
Am Anfang von Princesas werden die pubertären Phantasien der Protagonisten
aus Barrio und die Worte der Zeitungsanzeigen, an denen sie sich
aufgeilten, Fleisch: Ein Junge, der mit einem Gipsbein im Krankenhaus liegt,
bekommt von seinen Kumpels zum Geburtstag einen Blow-Job von einer Prostituierten
geschenkt. Und das (käufliche) Fleisch wird Frau: Caye heißt die
Prinzessin, die eine Hure ist.
me llaman calle, de esquina a esquina
me llaman calle bala perdida, así me disparó la vida
me llaman calle del desengaño, calle fracaso, calle perdida
me llaman calle la sin futuro
me llaman calle la sin salida
Caye (Candela Peña) verbringt ihre Freizeit meist
mit ihren Kolleginnen im Friseursalon an der Ecke. Und weil es gerade den Ausgegrenzten Genugtuung verschafft, selbst auszugrenzen, gibt es
ihnen doch das Gefühl, dass es jemanden gibt, dem es noch beschissener
geht als ihnen. So blicken sie verächtlich durch die Fensterscheibe ihres
kleinen Refugiums auf die Konkurenz aus Afrika und Lateinamerika, die draußen
auf dem Platz ihre Dienste anbietet. Im Fernsehen haben sie gelernt, dass man den schwarzen
Mädchen von Kleinauf beibringt, beim Gehen verführerisch
„mit dem Arsch zu wackeln“ und dass sie „stinken“. Außerdem nehmen die ihnen, so wissen sie, durch
Preis-Dumping ihre Arbeit weg.
voy calle abajo, voy calle arriba
no me rebajo ni por la vida
me llaman calle y ése es mi orgullo
yo sé que un día llegará, yo sé que un día
vendrá mi suerte
un día me vendrá a buscar, a la salida un hombre bueno
pa toa la vida y sin pagar, mi corazón no es de alquilar
me llaman siempre, y a cualquier hora
me llaman guapa siempre a deshora
me llaman puta, también princesa
me llaman calle, es mi nobleza
me llaman calle, calle sufrida, calle perdida de tanto amar
Manu Chao: Me Llaman Calle
Eines der Mädchen auf dem Platz ist die Dominikanerin
Zulema (Micaela Nevárez). Sie lebt im selben Haus wie Caye, die eines
Tages mitbekommt, dass sie von einem Mann, der behauptet, er sei Polizist und
könne ihr eine Aufenthaltsgenehmigung besorgen, misshandelt wird. In der
Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt, finden sie eine Solidarität,
die es weder für Caye in ihrer kleinbürgerlich-biederen Familie noch
für Zulema bei ihren Landsleuten gibt. Wie Cayes Mutter weiß auch
die Zulemas, die in Santo Domigo auf ihren Sohn aufpasst, nicht, wie sich ihre
Tochter ihr Geld verdient und die dominikanische Familie, mit der sie im Zwölf-Stunden-Rhythmus
ihr Zimmer teilt, verachtet sie offen für ihre Arbeit und trachtet, sie
vor ihrem kleinen Sohn zu verstecken. Was sie in ihrer Freundschaft finden,
ist nicht nur ein Stück Wahrheit in einem Leben voller Lügen, sondern
auch eine Welt, zu der das Begehren und die voyeuristischen Blicke der Männer
keinen Zugang haben. Wo Freier in Princesas – nicht nur als Stimme am Telefon – vorkommen, sehen
sie in den Prostituierten nur Projektionen ihrer sadistischen und herrschsüchtigen
Phantasien, die jederzeit und überall für alles verfügbar sein
müssen. Der Traum von dem einen Märchenprinzen, der sie vor dem Begehren
aller anderen Männer rettet, bleibt für sie ein Traum – aus dem sie
ein Handyklingeln weckt.
“Wir
existieren nur, weil jemand an uns denkt. Nicht umgekehrt.“
Cayes Mutter
Sowohl in Barrio und Los Lunes al Sol als auch in Princesas warten Menschen auf ‚verschollene’ Angehörige, die
auch dann nie wiederkommen werden, wenn sie noch am Leben sind. Auf Briefe,
die nie kommen werden und Papiere, die nicht existieren. Wo die Wahrheit inakzeptabel
ist, wird das Leben zur Lüge. Zule erzählt ihrer Familie, sie würde
kellnern und durch gestellte Fotos in der Bar eines Freundes, die sie nach Santo
Domingo schickt, wird die Lüge – einmal mehr – Bild. Als Caye eine Beziehung
zu einem Informatiker anfängt, fragt er nach ihrem Beruf und sie antwortet
wahrheitsgemäß: „Ich bin eine Hure.“ Die Antwort, die er zunächst
für einen Witz hält (bzw.: halten will), wird später durch Gerede
über eine Superheldin, die Züge vorm Entgleisen rettet, ersetzt und
als Caye bei einem Date mit ihm in einem Restaurant von einem ehemaligen Freier
belästigt und schließlich zu bezahltem Oral-Sex auf der Toilette
gezwungen wird, zieht er es vor, davon nichts mitzubekommen. Besser man hört
und sieht immer nur, was man hören und sehen will. Wenn man nur lange genug
in die Wolken oder auf den Wasserfleck an der Zimmerdecke starrt, kann er wie
alles Mögliche aussehen, wie Australien zum Beispiel, das Land auf der
anderen Seite der Erde, das für Santa (Javier Bardem), den debattierfreudigen
Protagonisten von Los Lunes al Sol, zum Bild eines absoluten Gegensatzes zu seiner eigenen
Misere wird. Santa, der das heilige im Namen trägt und nicht nur durch
diesen zu einer Fortsetzung des Santiago aus Familia wird, entwirft mit diesem Paradies auf Erden eine durchaus
religiöse Utopie: Und die Armen werden das Land besitzen. Die Filme León
de Aranoas werden bestimmt von einer Dialektik von (Selbst-)Täuschung und
Enttäuschung und haben darin bisweilen etwas Manisch-Depressives. Muss
die Suche ihrer Protagonisten nach dem großen Glück letztlich immer
scheitern, ein Phantasma bleiben, so gibt es in ihnen immer wieder kleine Glücksmomente.
Nachdem Santa eine Geldstrafe zahlen musste, weil er auf einer Demo eine Straßenlaterne
zerstört hat, fährt er vom Gericht direkt zu der reparierten Lampe,
um sie wieder kaputt zu machen. Durch solch sysiphoiden Trotz gegen die Verhältnisse
zeichnet sich der Humor der Filme aus.
Neben und gegen die äußere Realität seiner Protagonisten,
stellt León de Aranoa ihre innere. Indem seine Figuren die realen gesellschaftlichen
Ursachen, deren Wirkungen sie am eigenen Leib erfahren, durch phantastische,
mythische und märchenhafte ersetzen, entwerfen sie eine eigene ‚Semantik
der Eskapismen’, ein Zeichensystem, das dem Leben am Abgrund, dem Kampf um ein
Dasein in Würde, etwas Heroisches und Märchenhaftes, einen Hauch von
dem Glamour verleiht, den es in ihrer Welt nur im Fernsehen gibt. Diese phantastischen
Zeichen durchziehen einerseits leitmotivisch jeden einzelnen Film, andererseits
spannen sie ein Netz intertextueller Bezüge über das gesamte Œuvre.
(Ebenso nahe liegend, wie produktiv, ist dann auch die Zusammenarbeit mit Manu
Chao, der für me llaman calle den spanischen Filmpreis für den besten Song erhielt.
Wie der Regisseur arbeitet auch der Musiker – textlich wie musikalisch – mit
einem begrenzten Vokabular, dessen Elemente immer wieder neu interpretiert und
kombiniert werden.) In einer Szene von Barrio, die mehrmals wiederholt wird, geht ein Geldregen auf
eine Gruppe ziehender Musiker nieder – aus den Fenstern eines Wohnblocks. In
der Unterwelt, auf einem stillgelegten U-Bahnhof, einem Geisterbahnhof also,
treffen die Jungs tatsächlich auf Gespenster: Obdachlose und Junkies, die
durch das soziale Netz gefallen sind – so tief, dass sie für die Anderen
aufgehört haben, zu existieren. Für einen Arbeitslosen, der ein paar
Jahre zu alt ist, um ernsthafte Aussichten auf einen würdevollen Job zu
haben, läuft in Los Lunes al sol die Uhr auf einmal, ein paar Sekunden lang, rückwärts,
allerdings nur im Spiegel. Seine Frau ist eine Meerjungfrau, deshalb stinkt
sie so nach Fisch und fühlt ihre Beine nicht, nachdem sie den ganzen Tag
am Fließband Fische geschnitten hat. Am Beginn von Princesas begegnet Caye in einer Apotheke einem Engel, einem Kind,
das kein einziges Gramm wiegt, aber nur, weil in die Waage, auf der es steht,
niemand eine Münze geworfen hat. Prinzessin Zulema, erkrankt vor Sehnsucht,
weit weg von ihrem Reich. Wie Rai begeistert sich auch Caye für Seiltänzer
und als sie ihre Freundin fragt, ob es auch in ihrem Land Seiltänzer gibt,
lautet die lakonische Antwort: „Ja, zehn Millionen.“ An späterer Stelle
wird die Metapher lebendig: Wir sehen tatsächlich eine Seiltänzerin,
nur mit einem Tanga bekleidet, die Arme ausgestreckt, balanciert sie auf hohen
Plateausandalen über eine Fahrbahnmarkierung auf dem madrilener Straßenstrich.
„Dieser Film beruht nicht auf einer wahren Geschichte,
sondern auf Tausenden.“
Aus
dem Trailer von Los Lunes al Sol.
Über diese Art der Darstellung sozialer Realitäten ließe
sich wohl lange streiten. Oft wirken die Filme León de Aranoas überkonstruiert
und überladen. Die letzte halbe Stunde von Princesas etwa treibt bei dem Versuch, alle Höhe- und Tiefpunkte
des Hurenlebens in 30 Minuten zu packen, die emotionale Achterbahnfahrt etwas
zu weit. Aber gerade in ihrem Detailreichtum sind sie wichtige Reflexionen darüber,
was es heißt, arm zu sein – in einem reichen Land. Es heißt, niemals
zum Essen auszugehen und im Sommer nicht wie Millionen Andere in den Urlaub
fahren zu können. Keinen Kredit von der Bank zu bekommen und das Tor nicht
im Blickfeld zu haben, wenn es fällt. Diese alltäglichen Entsagungen
stigmatisieren vor allem deshalb, weil sie von den normierten Idealen, die das
Fernsehen den Menschen gibt, abweichen. Caye klebt in Fotomontagen ihr Gesicht
auf die vollbusigen Körper von Illustriertenschönheiten, sie spart,
um sich „neue Titten zu kaufen.“ Schließlich entscheidet sie sich, ihr
Geld Zulema zu schenken, damit sie zurück zu ihrer Familie kann. Am Flughafen
sagt sie zu ein paar Polizisten: „Meine Freundin geht, weil sie es möchte.“
Die Verhältnisse, in denen alles zur Ware wird, jeder käuflich ist,
existieren nur, weil die Menschen an sie glauben. Nicht umgekehrt.
Nicolai
Bühnemann
Familia
Spanien 1996; Buch und Regie: Fernado León; Produktion:
Elías Querejeta; Kamera: Alfredo Mayo; Darsteller: Ágata Lys,
Elena Anaya, Chet Lera, Juan Cerol, Raquel Rodrigo, André Falcon, Anabel
Carbonero
Barrio
Spanien 1998; Buch und Regie: Fernando León de
Aranoa; Produktion: Elías Querejeta; Darsteller: Críspulo Cabezas,
Timy, Eloi Yebra, Marieta Orozco, Alicia Sánchez, Enrique Villén
Montags in der Sonne
Los Lunes al Sol
Spanien 2002; Buch und Regie: Fernando León de
Aranoa; Darsteller: Javier Bardem, Luis Tosar, Nieve de Medina, José
Angel Egido, Enrique Villén, Celso Bugallo, Joaquín Clement, Serge
Riaboukine – FSK: ab 6 – Länge: 113 min. – Start: 15.1.2004
Princesas
Spanien 2005; Buch und Regie: Fernando León de
Aranoa; Darsteller: Candela Peña, Micaela Nevárez, Mariana
Cordero, Llum Barrera, Violeta Pérez, Mónica Van Campen, Flora
Álvarez, María Ballesteros, Alejandra Lorente – Länge:
113 min. – Start: 4.1.2007
DVD: Princesas
Label: Piffl Medien
Produktion: 2006
DVD ab 21.09.2007 im Handel
FSK: 16
Tonformat: Dolby 5.1 und Dolby Digital 2.0
Bildformat: 16:9
Sprachen: Spanisch, deutsch
Untertitel: deutsch, französisch
Extras: Videoclip Manu Chao, Making Of, Unveröffentlichte Szenen, Stpryboard,
Fotogalerie, Trailer, Booklet
Ländercode: 2 – Vertrieb: Indigo, Bestell-Nr.: DV 904248, EAN: 4047179042482
Princesas startete am 4. 1. 2007 in den deutschen Kinos. Los
Lunes al sol hat hierzulande ebenfalls eine Kinoauswertung erfahren
und liegt bei absolut Medien ebenso auf DVD vor. Familia und Barrio sind
in Deutschland nie veröffentlicht worden und nur auf spanischen DVDs erhältlich.
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