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Sisyphus
Diese Art Film hätte ich immer machen
wollen und nie machen können; kein Mechanismus von Ereignissen, sondern
Augenblicke, die die geheimen Spannungen dieser Ereignisse aussprechen, so wie
die Blüten jene des Baumes aussprechen.
Michelangelo Antonioni in Verso il Confine im Prosaband
Quel Bowling sul Tevere, 1983
Selbst wenn es nicht mit letzter Sicherheit
nachgewiesen werden kann, selbst wenn man skeptisch ist gegenüber Schlüsselerlebnissen,
weil sie einem zu wunderbar vorkommen, darf man vermuten, daß die Einbildungskraft
Michelangelo Antonionis, der eine verhältnismäßig sorgenlose
Jugendzeit in Ferrara erlebt hatte, und dessen Studienjahre in Bologna und in
Rom weder durch Faschismus noch durch den Weltkrieg entscheidend gestört
worden waren, von einem Buch abgerufen wurde, das er in Nizza, wo er 1942 als
Regieassistent für Marcel Carnés Les
Visiteurs du Soir arbeitete,
zufällig in einer Buchhandlung aufschlug: Albert Camus’ L’Etranger. Antonioni habe, schreibt Aldo Tassone,
sogleich an einen Film nach diesem Stoff gedacht. Wie wir wissen, ist nichts
daraus geworden; Luchino Visconti sollte ihn 25 Jahre später drehen. Einen
Artikel über Camus habe Antonioni publiziert, schreibt Tassone weiter,
doch keine Bibliographie weist ihn genau nach; er muß in der Zeitschrift
Cosmopolita erschienen sein [Emmanuel
Decaux. Antonioni,
roman. Cinematographe 84 Dezember 1982, S.5 Carlo Di Carlo. Michelangelo Antonioni.
Katalog
der Mostra intemazionale del Cinema, Venedig 1983, 5.291].
Als französische Kritiker schrieben, Antonioni habe den Italienern Camus
vermittelt, meinten sie bereits die Filme I
VINTI, LE
AMICHE und
IL
GRIDO. Von Camus muß der dreißigjährige Antonioni oft gesprochen
haben. Die erste ganz sichere »Stelle« jedoch findet sich erst im
Nachwort zu L’AVVENTURA [a.a.O.]
Nach so vielen Hypothesen, Behauptungen
und Vermutungen bereits im ersten Abschnitt einer Abhandlung über einen
der bedeutendsten und einflußreichsten Autoren des modernen Films ist
eine erste Zwischenfrage des Lesers berechtigt: Ob denn keine genauere Auskunft
über die Bildung, die prägenden Erlebnisse, die Muster und Vorbilder
von Antonioni selber gegeben worden seien. Es gibt Texte von Antonioni, die
– zumindest auf den ersten Blick – Aufschlüsse über die Arbeit seiner
Einbildungskraft geben, aber bei näherer Betrachtung und vor allem in der
Zusammenschau mit den Filmen geben sie meistens weniger her als erhofft. Die
Erklärungen, die Selbstdeklarationen sind die Filme selber. An ihnen ist
der Gang von Antonionis Arbeit abzulesen. Nur ganz ausnahmsweise gibt der Autor
in Texten und Interviews Lesehilfen. Das ist nicht nur aristokratische Zurückhaltung
oder Menschenscheu (das ist es auch), sondern eine extreme Redlichkeit und ein
extremer Ehrgeiz. Die Filme und nur die Filme sind die authentischen Äußerungen;
in ihnen sucht Antonioni mit Mitteln, die zu beschreiben sein werden, die höchstmögliche
Klarheit. Nur selten – etwa im Falle von L’AVVENTURA – begleitet der Filmemacher
seine Werke mit Erläuterungen und Erklärungen allgemeiner oder programmatischer
Art.
Seit 1939 hatte Antonioni sich im Film
festzusetzen versucht. Eine Zeitlang arbeitete er bei der Planung der Weltausstellung
mit, was ihm nicht zusagte; dann wurde er Mitarbeiter der vom Mussolini-Sohn
Vittorio geleiteten Filmzeitschrift Cinema, die sich als »Organ der faschistischen
Vereinigung des Schauspiels (spettacolo)« definierte. Für diese Zeitschrift
verfaßte er unter anderem auch einen Bericht über die »Mostra
internationale dell’arte cinematografica« von Venedig, in dem er die Unordentlichkeit
der französischen Filme beklagte und die Gediegenheit der deutschen Beiträge
hervorhob. Es ist schon versucht worden, Antonionis Weggang von der Zeitschrift
als einen antifaschistischen Akt zu werten. Das läßt sich weder bestreiten
noch beweisen. Nur: Einen Antifaschisten kann man aus Antonioni nicht machen,
finden wir ihn doch kurze Zeit später am Centro
Sperimentale des Istituto Luce,
das er zwar bald wieder verläßt, weil ihn die Knochenarbeit des Filmemachens
zu wenig interessierte. Er wurde Drehbuchautor, verfaßte zusammen mit
Roberto Rossellini nach einer Idee von Vittorio Mussolini das Drehbuch zu Un Pilota Ritorna.
Dann wurde er eingezogen und schrieb in der Freizeit I
Due Foscari, wurde Regieassistent
bei dem Film, bevor er die Gelegenheit angeboten bekam und eiligst akzeptierte,
als Mitarbeiter Marcel Carnes nach Nizza im – auch von Italienern – besetzten
Frankreich zu fahren. Es ist anzunehmen, daß in Nizza ein mehr oder weniger
rat- und richtungsloser bürgerlicher Intellektueller ankam, der froh war,
wenigstens für eine Weile der wirren politischen Lage in Italien, in der
er keine Stellung beziehen wollte, zu entfliehen.
Die eigentliche Präsenz Antonionis
als Filmautor begann mit dem Dokumentarfilm GENTE
DEL PO, der im gleichen
Jahr 1943 in der selben Gegend gedreht wurde,
wo Luchino Visconti Ossessione drehte. Beide Filme haben mit dem faschistischen
Film nichts mehr zu tun, nichts mit dem unausgewiesenen Optimismus, der »Größe«,
die so lange behauptet worden war. Während Visconti die Kraft der verzehrenden
Leidenschaften alle Ordnungen durchbrechen läßt und bis in die Dialoge
hinein auf den fatalistischen Ton der veristischen italienischen Literatur zurückgreift,
auf ein »physisches« Kino – meinetwegen nach amerikanischem Muster
– aus ist, geht Antonioni auf Distanz.
Einige Kommentarsätze in seinem ersten
Film scheinen mir vom Ton französischer existentialistischer Prosa geprägt
zu sein. »Ein hartes Leben,«,
heißt es da zum Beispiel, »immer gleich, aber wer von den Feldern
her den Lastkahnkonvoi vorbeiziehen sieht, denkt wahrscheinlich an das Glück.
Abfahren, reisen, das Leben ändern. Das Meer ist dort, am Ende der Reise.« [a.a.O.,
S. 640]
Der Mensch ist fremd in dieser Welt, denn
sie macht keinen Sinn. Sie ist unentzifferbar. Die Zeit zieht am Menschen vorbei
wie ein Fluß; und er steht daneben, stürzt sich nicht in die Bewegung.
Ein ähnlicher Ton herrscht auch in NETTEZZA
URBANA vor, der dann auch
klar macht, daß die Bildkompositionen von GENTE DEL PO nicht einfach vom
Stoff und vom Ort diktiert waren, sondern bereits sehr bewußte Formulierungen
der Fremdheit und der Fremde. Eine fixe Einstellung, durch die ein Schiff fährt,
formuliert etwas anderes als ein Mitschwenk, der dann irgendeinmal das Schiff
verliert. Die Schlußeinstellung von NETTEZZA URBANA, und nicht nur sie,
knüpft an die Versuche an, die Szenen als Metaphern zu fassen und spürbar zu machen:
Ein von rechts nach links fahrender Kühlwaggon, wieder in einer fixen Einstellung,
gibt schließlich den Blick in die Tiefe einer leeren Straße mit
einem wohl noch unbewohnten neuen Häuserblock frei. Ein Mann mit Regenmantel
geht in diese Tiefe hinein; der Horizont liegt verhältnismäßig
tief, und im Himmel erscheint nun das Wort »Ende«.
In den Fremdlingen Meursault (L’Etranger
von Albert Camus) und Roquentin (La
Nausee von Jean-Paul Sartre)
sind die Antonionischen Helden vorgezeichnet. Das erweist sich spätestens
in LE AMICHE nach der Vorlage eines weiteren »Meisterdenkers« von
Antonioni, Cesare Pavese. Auch mit Alain Robbe-Grillets »Theorie der intakten
Dinge« scheint sich Antonioni auseinandergesetzt zu haben.
Meursault ist ein kleiner Angestellter,
der seine Mutter vor Jahren im Altersheim untergebracht hat, weil sie einander
nichts mehr zu sagen hatten. Ohne Ziel und ohne Halt lebt er dahin, und »grundlos«
erschießt er am Strand einen Araber, mit dem er einen nichtigen Zusammenstoß
gehabt hat. Er kann sich den Schuß nicht erklären. So wenig wie der
Leser, denn Camus objektiviert (oder veräußerlicht) die Handlung
in einem bis damals unbekannten Maße. Erst das Gericht, vor dem der Ich-Erzähler
Meursault zu erscheinen hat, gibt der Tat einen Sinn, der aber überhaupt
nichts mit der erstorbenen Gefühls- und Gedankenwelt Meursaults zu schaffen
hat. Die Richter vergewaltigen einen realen Akt mit einer – wie der Leser weiß
– längst überständigen Logik und Psychologie; sie geben dem sinnlosen
Akt einen Sinn, einen falschen, und verurteilen Meursault zum Tode.
Die Differenz zwischen sinnentleertem
Handeln und der Beurteilung dieses Handelns aus längst obsoleten rechtlichen,
ethischen und philosophischen Kriterien heraus, die »Absurdität«,
hat Antonioni, den Indifferenten, zweifellos interessiert. Und ebensosehr die
Folgerung, die die französischen Existentialisten aus dieser totalen Entfremdung,
die deutsch später »Geworfenheit« genannt werden sollte, zogen.
Im gleichen Jahr (1942) wie L’Etranger ist Camus’ Essay
Le Mythe de Sisyphe erschienen.
Dem Haupttext stellte Camus einen Spruch Pindars voran: »O meine Seele,
sehne dich nicht nach dem unsterblichen Leben, sondern schöpfe das Feld
des Möglichen aus.« Er endet mit den
Sätzen: »La lutte elle-meme vers les sommets suffit à remplir
un coeur d’homme. Il faut
imaginer Sisyphe heureux.«
[Le Mythe de Sisyphe. NRF, Gallimard, 1952, 5.168] Von
diesen Sätzen aus ist der Weg auch nicht mehr weit zu jenem vielzitierten
in Alain RobbeGrillets Theorie des Neuen Romans: »Die Welt ist weder sinnvoll
noch absurd; sie ist.« [Vergleiche
dazu: Gerda Zeltner-Neukomm. Das Wagnis des französischen Gegenwartsromans.
Rowohlt, rde 109]
Mit einem kurzen Hinweis auf Antonionis
»Vor-Denker« soll von allem Anfang an gewarnt werden vor der Projektion
klassischer humanistischer oder religiöser Wertvorstellungen auf die Figuren
und die Ereignisse in Antonionis Filmen: Ein Vorgang, der sich nun bereits seit
mehr als dreißig Jahren reproduziert; immer wieder wird das Scheitern
der Liebe und des Lebens in Antonionis Filmen an den »romantischen«
Idealen gemessen. Aber es liegt etwas anderes vor: diese Ideale sind gescheitert,
die allumgreifenden Sinnzusammenhänge sind falsch. Und es gilt – in Sisyphusarbeit
– neue zu finden. Das Bedauern der Katastrophen in Antonionis Welt im Namen
der alten ethischen Gesetze und ihrer Ausführungsbestimmungen, das die
meiste Literatur zu Antonionis Werk kennzeichnet, ist nichts als ein Zeichen
für die Schwierigkeit der Entwicklung, der Anpassung, der Änderung
des Bewußtseins in sich entwickelnden, sich ändernden Umständen.
Antonioni hat dieses Beharrungsvermögen verschiedentlich direkt angesprochen,
besonders prominent in der Erklärung, die er zu L’AVVENTURA abgegeben hat,
aber auch kürzlich wieder in dem kurzen Film Room
666, den Wim Wenders in
Cannes, im Jahr, als er Hammett vorstellte, mit verschiedenen Filmautoren
in seinem Hotelzimmer drehte.
Wie wenn er den sentimentalen Kitsch von
Wenders’ Kurzfilm über den Tod des Films geahnt hätte, gibt sich Antonioni
in jedem Wort, das er in seinem kurzen Auftritt sagt, in jeder Geste optimistisch.
Stehend – wie immer modisch gekleidet; das ist kein Detail -, stehend behauptet
er, daß nur schon die Frage falsch gestellt sei. Da sind ja noch tausend
Möglichkeiten des Überlebens, ja der Entwicklung; Angst vor dem elektronischen
Film ist ein Unsinn, und er verweist auf seine Experimente in IL
MISTERO DI OBERWALD. Dann
geht er zum Fenster des Zimmers und schiebt den Vorhang ein bißchen zur
Seite, nicht zu viel, denn er weiß natürlich, daß sonst das
schöne Licht, das Wenders gestellt hat,
zusammenbricht; auch das ist kein unbedeutendes Detail. Wer sagt denn, fragt
Antonioni, ob in ein paar Jahrzehnten diese Häuser und Kabinen am Strand
noch dastehen werden; wer sagt denn, daß sie da bleiben müssen? Die
Welt ist in ständiger Verwandlung begriffen, und wir müssen uns auch
wandeln. Nur wer sich nicht wandelt, stirbt. Die »Mutation« ist
ein – meist unausgesprochener – Hauptbegriff in Antonionis Welt. In den Äußerungen,
die er im Zusammenhang Mit DESERTO ROSSO
gemacht hat, hält er an dieser Vorstellung fest, so skandalös sie
in gewissen Ohren auch tönen mag. Die Welt ist nicht so, daß sie
keine Suche nach einem Sinn mehr zuläßt; sie macht keinen Sinn, aber
sie schließt ihn nicht aus. Doch eine gewisse Mobilität gehört
dazu, eine glückliche Arbeit, um auf Camus’ Sisyphus zurückzuverweisen.
Es sind die Frauen, die das Gebot der
Wandlung intuitiv beherzigen bei Antonioni. Aber es gibt auch Männer, die
neu zu beginnen versuchen; es gibt ganze Bewegungen, ja ganze Staaten. Für
sie interessiert sich Antonioni; ihnen fühlt er sich zugehörig. Änderung,
ja Identitätswechsel ist das Thema von BLOW-UP, CHUNG
KUO, ZABRISKIE
POINT, PROFESSIONE:
REPORTER.
Wer sich mit Antonioni befaßt, kommt
mindestens um den einen, schon kurz erwähnten bekenntnishaften Text nicht
herum: die Erklärung, die der Autor im Mai 1960 anläßlich der
Aufführung von L’AVVENTURA auf dem Filmfestival von Cannes abgegeben hat.
Wir wollen sie hier nur in verkürzter Form wiedergeben, obwohl jeder Satz
wichtig ist.
»Heute ist die Welt bedroht durch
ein äußerst schwerwiegendes Mißverhältnis zwischen einer
Wissenschaft, die bewußt auf die Zukunft ausgerichtet ist, bereit, sich
tagtäglich zu verleugnen, nur um ein Bruchstück dieser Zukunft zu
erobern, und einer erstarrten, stilisierten, moralischen Welt, die wir alle
als versteinert erkennen und die aufrecht zu erhalten wir trotzdem aus Feigheit
oder aus Faulheit wetteifern. (…) Heute wird ein neuer Mensch geboren, mit
all den Ängsten, den Schrecken, den Wehen einer Geburt. Und was noch schwerer
wiegt: Dieser Mensch findet auf seinen Schultern sofort ein schweres Gepäck
von Gefühlen, die als alt und überholt zu definieren nicht einmal
exakt ist; sie sind eher ungeeignet; sie bedingen, ohne zu helfen, sie stehen
im Weg, ohne einen Schluß, eine Lösung anzubieten. Und doch scheint
es, daß es dem Menschen nicht gelingt, dieses Gepäck abzuwerfen.
Er handelt, liebt, haßt, leidet nach dem Impuls von Kräften und moralischen
Mythen, die heute, am Vorabend der Landung auf dem Mond, nicht mehr jene der
Zeiten Homers sein dürften; und doch sind sie es. (…) Wir haben sie (die
Gefühle) in den letzten Jahren bis zur Erschöpfung geprüft, viviseziert,
analysiert. Dazu waren wir zwar fähig, nicht aber, neue zu finden, nicht
dieses immer größer werdende Mißverhältnis zwischen moralischem
und wissenschaftlichem Menschen einer Lösung wenigstens näher zu bringen.
(…) Wir alle wissen, daß sie alt und überholt sind, und trotzdem
respektieren wir sie. Warum? Nicht die Anarchie der Gefühle ist die Schlußfolgerung,
zu der meine Personen kommen. Wenn überhaupt, dann kommen sie zu einer
Form des gegenseitigen Mitleids. (…) So hat der moralische Mensch, der keine
Angst vor dem Unbekannten in der Wissenschaft hat, Angst vor dem moralisch Unbekannten.
Ausgehend von Angst und Frustration kann sein Abenteuer so nur mit einer Niederlage
enden.«
[Die Krankheit der Gefühle. Zitiert nach »Der Film. Manifeste, Gespräche,
Dokumente«, hg. Theodor Kotulla. Piper 1964, Ss.96f.]
Die Hartnäckigkeit obsoleter moralischer
Normen beweisen nicht zuletzt die Interpretationen, lies Beurteilungen aller
Antonioni-Figuren, die sich der Kraft der »alten moralischen Mythen«
zu entwinden versuchen. Die Sachlichkeit, der neue amoralische Realismus aller
von Antonioni erfundenen Prozesse erlaubt offenbar verschiedene Auslegungen,
die über den Interpreten immer gleich viel aussagen wie über seinen
Gegenstand. Antonionis Indifferenz und Kühle bieten sich an für die
Vereinnahmung. Das Herauslesen und das Hineinlesen halten sich immer die Waage. Ein Überhang
des Hineinlesens (der Projektion) mag sich zum Teil deswegen ergeben, weil Antonioni
in seinen Hauptwerken – mit Ausnahme von IL GRIDO und der ersten drei Filme
– immer Personen im Niemandsland zwischen dem Verlust der Welt und einer neuen
Welteroberung vorführt. Diese aber ist – nicht nur für Antonioni,
sondern für praktisch alle namhaften italienischen Filmautoren der sechziger
Jahre – das eigentliche politische Ziel. In keinem anderen europäischen
Land waren im Film die Klagen über oder der Kampf gegen den politisch-gesellschaftlichen
Immobilismus deutlicher als in Italien. Von LE AMICHE und L’AVVENTURA lassen
sich mit Leichtigkeit Verbindungen zu jüngeren italienischen Filmautoren
ziehen, die fünfzehn Jahre später begannen als Antonioni, zu Bernardo
Bertolucci und Marco Bellocchio, zu Valentino Orsini und den Taviani-Brüdern
vor allem, aber auch zu minderen Potenzen wie Roberto Faenza oder Peter del
Monte, die sich in der Folge in Belanglosigkeiten verloren. Selbst Federico
Fellini und Pier Paolo Pasolini rücken, unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung
mit dem Immobilismus, in die Nähe Antonionis, obwohl ihre Perspektiven
sich dann wieder grundlegend von den existentialistisch geprägten Antonionis
unterscheiden.
Die zitierten Ausführungen Antonionis,
das müssen wir in einer »Schlaufe«, die die Filme CRONACA
DI UN AMORE, I VINTI,
LA
SIGNORA SENZA CAMELIE
und IL GRIDO einfaßt, darzulegen versuchen, passen auch erst auf den Pavese-Film
LE AMICHE, auf L’AVVENTURA und alles, was auf sie folgt. Die Filme »in
der Schlaufe« beschreiben die Katastrophen des immobilismo und greifen nur punktweise auf die neue
existentialistische Moral voraus.
Die beiden langen Filme vor LE AMICHE
sind »bürgerliche Trauerspiele«: CRONACA DI UN AMORE mit kriminalistischem
Einschlag, LA SIGNORA SENZA CAMELIE mit einem Hang zum Melodrama. Die Kinokonvention
hat die Gesamtanlage der Filme mitdiktiert; unschwer ist der Einfluß gewisser
amerikanischer und französischer Muster zu erkennen. Ebenso deutlich allerdings
ist auch, daß Antonioni sie unterläuft. Was später als »typisch
Antonioni« bezeichnet werden wird, ist im Ansatz in den ersten Filmen
vorgezeichnet.
Natürlich ist es heute nicht mehr
möglich, die Filme so anzuschauen, wie das erste Publikum sie sah; man
nimmt als Ansatz und Vorstufe, was damals vollgültige Formulierung war.
Beide Filme, vor allem CRONACA DI UN AMORE, erzählen eine relativ komplexe
Handlung. In der CRONACA wird sogar, was sich Antonioni später versagt,
in die Vergangenheit des unglücklichen Liebespaares Paola und Guido zurückgeleuchtet;
die Handlung kommt in Gang, weil der Mailänder Industrielle Enrico seine
Frau Paola beschatten und Nachforschungen über ihre Vergangenheit anstellen
läßt. Paola und Guido haben ein früheres Verhältnis aufgelöst,
weil sie am Tod einer Freundin schuld waren; jetzt, da Guido von den Nachforschungen
eines Detektivs Wind bekommen hat, treffen die beiden wieder zusammen und werden
– wenigstens im Geiste – zu Mördern, trennen sich von neuem.
In der Erinnerung haftet weniger die Eifersucht-Schuld-und-Sühnegeschichte
als die äußerst kunstvolle und suggestive Art, mit der Antonioni
das problematische Paar isoliert. Natürlich verlangt es auch die Geschichte
– Paola darf nicht gesehen werden -, daß Antonioni sie an menschenleere
Niemandslandorte – ein Fußballfeld am Stadtrand, eine Regattatribüne,
ein Treppenhaus, das Planetarium usf. – führt; bedeutend und auffällig
ist, wie er das macht, wie er Figuren vor leeren Hintergründen aufbaut,
wie die Kamera sie da exponiert, einmal – im Treppenhaus – geradezu festnagelt.
Ein ganz außerordentliches Gefühl für Räume, Volumen und
Linien manifestiert sich, beispielsweise in der ersten geheimen und wortlosen
Begegnung von Guido und Paola vor der Oper; in schon fast demonstrativer Mißachtung
goldener Regeln folgen sich Schnitt und Gegenschnitt, Totalen, in deren Zentrum,
gleich groß, die beiden Protagonisten stehen: sie weiß, er dunkel;
und dann zeigt die Kamera die Wagen der Mailänder Schickeria, zu der Enrico
und Paola gehören, von oben; sternförmig stehen sie da.
Solche prägnante, man möchte
vermuten am Kubismus, der konkreten Kunst, mindestens aber an der Architektur
geschulte Formulierungen folgen sich in kurzen Abständen. Die Behauptung
liegt nahe, sie setzten sich gegen die eher konventionelle, »gesellschaftskritische«
Story durch. Noch mögen sie zum Teil als Formalismen erscheinen, aber sehr
oft haben sie die starke metaphorische Qualität, die die »zeitlosen«
Formulierungen später ausnahmslos haben werden. Die Innen-außen-Parallelmontage
auf der nebligen Autobahn, auf der Enrico und der Autoverkäufer Paolas
Wunsch-Maserati testen – zwischen zwei gigantischen Reklameflaschen »in
der Wüste« -, und das hastige und traurige Petting Paolas und Guidos
in der stehenden Limousine mag etwas aufwendig erscheinen; wie Antonioni Lucia
Bose in einem symmetrischen Arrangement aufs Bett legt, nachdem sie das Zimmermädchen
schickaniert hat und bevor sie mit Guido telephoniert, hat schon die schlichte
Ökonomie späterer Setzungen; und der Schluß – Paola in großer
Robe unter dem Hausportal, Guido im Taxi auf einer regenglänzenden Straße
– zeigt die diskrete Einprägsamkeit der späteren Filmschlüsse,
auch und vor allem wegen der Lakonie des Dialogs: Paola: »A domani?«
Guido: »Si.« – Guido zum Taxichauffeur: »Alla stazione.« Schon in diesem frühen Film beobachten wir
Antonionis Willen und Fähigkeit zur abschließenden, alles zusammenfassenden,
epigrammatischen, jede Unklarheit, jeden Zweifel ausschließenden Formulierung,
zur reingeschriebenen Miniatur der gesamten Verhältnisse.
Selbst ein so wackliger, ungleicher Film
wie LA SIGNORA SENZA CAMELIE findet eine bereinigende, klar und unpathetisch
formulierte Schlußsequenz, die die mittelmäßige, unentschiedene,
weder ganz denunziatorische noch ganz mitleidvolle Geschichte einer mißbrauchten
Schauspielerin noch definiert. , »Lächeln Sie, Signora,
bitte«, sagt der Fotograf zu Clara, die – nach einer aufgeblasenen, verlogenen
Jeanne d’Arc – die , »Sklavin der Pyramiden« spielen wird und sich
nun in die Reihe jener stellt, die ihre Haut zu Markte tragen. Eben noch hat
sie geweint, und nun arbeitet sie ein Lächeln hervor, das so falsch nicht
ist, wie viele gesagt haben. Sie akzeptiert, unter Schmerzen, sicher; aber schließlich
hat sie sich eher prostitu:ert, als sie die hochfliegenden Männerträume
ihres unfähigen Gatten hat einlösen wollen, als jetzt, da sie sich
der Realität des Filmbusiness beugt. Die Blitze der Fotografen blitzen,
und das Wort »Ende« erscheint über ihrem krampfhaft lächelnden
Gesicht. Auch das ist wieder treffend, richtig.
Die drei Episoden von I VINTI schaffen
zu wenig Raum für Formulierungen dieser Art. Ich halte diesen befremdlichen
Film für den schwächsten im Werk Antonionis, gerade weil das Befremdliche
vor allem in den Stories und nur andeutungsweise und ungeschickt in den filmischen
Formulierungen angelegt ist. Die französische und die italienische Episode
enthalten gar Widersprüche zu den Positionen, die Antonioni in LE AMICHE
und IL GRIDO vertreten und vermitteln wird. Sein Erschrecken über eine
Jugend, die die Utopie verloren hat, ist oberflächlich und inkohärent.
In LE AMICHE erhält Antonionis existentialische
Prägung zum erstenmal das italienische Gesicht. Cesare Pavese hat ihm eine
Welt und eine kollektive Geschichte des italienischen »mal de vivre«
angeboten, die es ihm erstmals erlaubten, eine existentialistische Heldin all’ italiana
darzustellen. Im Gegensatz zu anderen Interpreten bedaure ich den Abschied Clelias
von Turin, von der suggestiven Nostalgie Carlos und von der ganzen Clique von
heillos miteinander verketteten und verfilzten »schönen Menschen«
nicht. Der – wieder mit allerhöchster Präzision, mit absolut kühlem
Verstand inszenierte – Abschied Clelias von einer im provinziellen bürgerlichen
Immobilismus verkommenen Gemeinschaft ist ein wahres Gegenstück zum Schluß
von IL GRIDO, dem ersten Film, der den Antonionischen Stil – diesen Terminus
verstehe ich in der umfassenden Bedeutung der existentialistischen Kritik -rein
verkörpert. Gewisse Entscheide scheinen endgültig getroffen zu sein,
als Antonioni IL GRIDO drehte. Er war nun 45 Jahre alt.
Das
existentialistische Erlebnis
IL GRIDO beginnt mit einem Abschied; die
romantische, totale und totalitäre Liebe eines Mannes wird buchstäblich
auf die Straße geworfen. Aldo macht sich – äußerlich – auf
die Suche nach einem neuen Sinn, einem Lebensinhalt, einer Liebe, aber im Grunde
weiß er, daß er das alles nicht mehr finden wird. Er ist verloren
ohne die Liebe von und zu Irma; er ist fremd.
Aldo also ist der erste reine Antonionische
Held, der seines Lebenssinns beraubte Mensch, der die Welt nicht mehr versteht,
und der – dem Po entlang, der eigentlich ja in die Weite, ins offene Meer führt
– immer tiefer in sich hinein versinkt und schließlich, von Verzweiflung
getrieben, wieder an »seinen Ort« zurückkehrt, der keinen Platz
mehr für ihn hat. Blickt man zurück auf die bisherigen Filme, sucht
man nach Verwandten, trifft man – nicht nur wegen des identischen geographischen
Rahmens, sondern wegen des oben bereits erwähnten resignierten Tons – auf
GENTE DEL PO, auf Enrico in CRONACA DI UN AMORE, vor allem aber auf Rosetta
in LE AMICHE, die ins Wasser geht. Aldo ist dermaßen in sich selber gefangen,
daß er nicht mehr fähig ist, irgendeine Beziehung zur Welt und zu
neuen Menschen aufzunehmen, obwohl sie sich ihm anbieten. Er erkennt am Schluß
auch das gesellschaftliche Drama, das sich in seinem Dorf abspielt – die Bewohner
des Dorfes protestieren gegen die Errichtung einer Startbahn – nicht mehr; er
läßt sich fallen und stirbt. Er ist eigentlich schon tot, wenn er
das Dorf zusammen mit seiner Tochter Rosina verläßt. Ihm fehlt der
élan vital von dem Moment an, da das Objekt
seiner Liebe sich ihm entzieht.
Schon in IL GRIDO erscheinen Landschaft
und Dinge schillernd in zwei Perspektiven: in jener des Erzählers Antonioni
– und in jener des Helden. Von außen, distanziert und kritisch, schaut
Antonioni dem absteigenden Lebenslauf, dem »Sein zum Tode«, zu.
Gleichzeitig schaut er auch aus dem Inneren des zum Tode kranken Helden heraus,
vermittelt ein »inneres Bild« der Landschaft, ihrer Menschen und
ihrer Dinge. Antonioni steht Aldo nahe, daran besteht kein Zweifel. Aber er
identifiziert sich nicht. Eine Spur Befremden zeichnet auch die tendenziell
subjektiven Einstellungen aus.
Mit Sicherheit haben die symbolischen
oder doch metaphorischen Bildlösungen der italienischen Maler De Chirico
und Carrà den an Architektur außerordentlich interessierten Antonioni
wesentlich beeinflußt. Die wenigen bekannten Fotografien von den Rekognoszierungsfahrten
[vgl.
Dal Sogetto al Film. II Grido. Capelli 1962]
zu IL GRIDO veranschaulichen das. Näher an eine für ihn gangbare Lösung
des vor allem in der französischen Literaturtheorie viel diskutierten Problems
der Landschaft als Projektion des état d’âme haben Antonioni vermutlich
die Bilder von Giorgio Morandi, den auch Pier Paolo Pasolini hoch schätzte,
geführt. (Diese Vermutung wird sozusagen durch den Ehrenplatz sanktioniert,
den Antonioni in späteren Filmen bis zu IDENTIFICAZIONE
DI UNA DONNA Bildern dieses
Bologneser Malers und Zeichners zuweist, dessen Entdecker, der Verleger Ulrico
Hoepli, schon früh zu Antonionis Freundeskreis gehörte.) Vermutlich
kannte Antonioni auch einen Teil des Werkes von Edward Hopper, früher als
die meisten anderen europäischen Filmemacher. Hoppers Kunst der perspektivischen
Distanzierung – mit verschiedenen »Brennweiten« -, sein bedeutungsschweres
Spiel mit den Horizonten glaubt man bereits in LE AMICHE in filmischer, dynamischer
Form wiederzuerkennen. Und, selbstverständlich, möchte man sagen,
sind Paul Cezannes Errungenschaften für die Landschaftsdarstellungen nicht
ohne Spur an Antonioni vorbeigegangen.
Die flache Landschaft der Po-Ebene bietet
sich geradezu an für das bildnerische Programm, das Antonioni mit seinem
Fremdling, seinem Geworfenen, seinem born
loser im Sinn hat. Er
komponiert seine Bilder in die Breite und Tiefe, läßt den Horizont
oft sehr tief gegen den unteren Bildrand, aber nie mit ihm zusammenfallen.
So verloren wie die Irrenhäusler,
denen das Kind Rosina hinter dem Schutzdamm des Po im Nebel begegnet, so verloren
stehen alle Figuren außer Irma in der Welt. Ein letztes Vor-Bild aus der
existentialistisch inspirierten bildenden Kunst muß an dieser Stelle noch
evoziert werden. Ob sich Antonioni der Verwandtschaft bewußt war, spielt
für mich keine entscheidende Rolle; die Gleichzeitigkeit genügt mir.
Ich denke an Alberto Giacometti, der den gleichen Befund der existentiellen
Fremde in der extremen Magerung seiner Figuren und ihre Kommunikationslosigkeit
– ihr Schweigen – in manchen Figurengruppen ausgedrückt hat. Seine Figuren
von Gehenden oder Stehenden, die sich in den zur Verfügung stehenden Raum
teilen, die, jede für sich, bloß sind, formulieren das erklärte
Gegenbild klassischer Figurengruppen, die ein Sinn eint, beispielsweise Rodins
Bürger von Calais.
Solche beziehungslose Figurengruppen hat
Antonioni seit seinen Anfängen immer wieder hingestellt, beginnend bei
GENTE DEL PO, ganz demonstrativ in NETTEZZA URBANA, auch in CRONACA DI UN AMORE
und, sehr deutlich, fast in einer Art demonstrativer kunstgewerblicher Stilübung
in LE AMICHE. In IL GRIDO haben diese Gruppen nichts Verspieltes und nichts
Pathetisches mehr an sich.
Die grundsätzliche Beziehungslosigkeit
und Fremdheit (Entfremdung) in der Welt ist das Normale. Der leidende Mensch
schweigt und bleibt allein. Selbst sein Schrei, der im Titel genannt wird, ist
stumm, eine Geste, erinnernd an die Schlußsätze von Cesare Paveses
Handwerk des Lebens, wo es heißt: »All das macht Ekel./Nicht Worte.
Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.« [Cesare
Pavese. Das Handwerk des Lebens. Bibliothek Suhrkamp 394. Frankfurt aM, o.J.
5.387] Die sieben Jahre währende
Liebe zu Irma hat Aldo über den wahren Zustand der Welt hinweggetäuscht.
An die Liebe hat er sich wie ein Ertrinkender an den rettenden Strohhalm geklammert;
jetzt treibt der Desillusionierte, hilflos. Wie verloren er ist, wird nicht
nur an der Reihe der Frauen, die er trifft und wieder verläßt, deutlich,
sondern vor allem auch in der Darstellung seiner Beziehung zu der Tochter Rosina.
Auch das Kind befremdet den Vater, immer mehr; er ist ungeduldig, schlägt
es auch, kann seine Annäherungen nicht erwidern, kann aber auch nicht dulden,
wenn es zu anderen Vertrauen schöpft. Er sucht Rosina dauernd, aber wenn
Vater und Tochter zusammen sind, trennt sie sehr oft eine Inszenierung, die
keine Nähe aufkommen läßt, oder eine ebenso distanzierende Kameraperspektive.
Aldo durchlebt nicht einfach eine schwierige
Zeit; er ist aus einem trügerischen Halt, einer Liebe, gefallen und erleidet
nun die Welt, wie sie tatsächlich ist. Und in einer Art selbstzerstörerischem
Trotz läßt er niemanden, keine Frau, an sich herankommen. Er ist
unbeweglich, unfähig zur Änderung, zum Neubeginn. Es gibt immer Gründe
zur Entfernung von den Frauen. Bei Elvira, der Frau, die er einst gemocht hatte,
und der er Irma vorgezogen hat, scheint schon das spontane Einvernehmen mit
Rosina zu genügen. Bei Virginia, der starken und »praktischen«
Frau von der Tankstelle treibt ihn wohl genau diese Sachlichkeit, die ihm als
Oberflächlichkeit vorkommen muß (ihre Erotik gehört dazu), weg.
Und die Treue der Hure Andreina vermag er nicht mehr zu erkennen. So treibt
es ihn an den Ort zurück, den er einmal zu überblicken vermochte.
Noch einmal jagt er einer Illusion – der neuen Liebe, der Versöhnung –
nach, die ihn in der Welt gehalten hat und fällt aus der Welt, wenn er
– durchs Fenster, wie oft bei Antonioni – Irma mit dem Baby des anderen sieht.
Jetzt ist er »von der Welt abgetan«, wie Werner Herzogs Kaspar Hauser
es schlicht sagt.
Aus der Perspektive Aldos gesehen, gibt
es wohl Schuld in dieser Geschichte; doch im Horizont
des Werks und seines Autors betrachtet, gibt es keine, gibt es nicht Gut und
Böse. Die Vorgeschichte der Trennung liegt außerhalb dieses Horizonies.
In IL GRIDO zählt nur die Gegenwart, das Hier und Jetzt. Dieser schwerfällige,
dumpfe, blinde, taube und stumme Mann in der Po-Ebene mit ihren im grauen Nebel
oder in der klaren Kälte oder im Regen verlorenen Siedlungen, ihrem Schlamm,
ihrem eiskalten Weiß, mit dem schmutzig dahinfließenden Fluß
und der Tankstelle, die kein Heim, sondern eine Durchgangsstelle ist, mit ihren
Dämmen und kahlen Bäumen: eine existentialistische Bühnenlandschaft,
ein Sinn-Bild oder eher eine Metapher der Sinnlosigkeit.
Die Tankstelle an der schnurgeraden Durchgangsstraße
ruft natürlich die Erinnerung an eine andere in der gleichen Gegend in
einer anderen Geschichte ab, jene von Viscontis Ossessione. Ein Vergleich der beiden Orte und der
Szenen macht allerdings den weltenweiten Unterschied sofort deutlich. Was bei
Visconti eine detailfreudige Szene der Leidenschaften ist, ein belebter und
auch ein geheimnisvoller Ort, steht bei Antonioni in kühler Abgeschiedenheit,
in rigoroser Beschränkung auf das Wesentlichste da. Eine »Differenzialanalyse«
der Personen – des Vagabunden und des Irrenden, der sinnlichen, gierigen Ehefrau
und der sachlich kühlen Witwe -, des Dekors – des geschichtlichen dort
und des zeitlosen hier – sowie der Aufnahmetechnik und des Schnitts erweist
die fundamentale, lies philosophische Unterschiedlichkeit von Visconti und Antonioni,
die Distanzierung Antonionis vom Naturalismus im Neorealismus, von der heftig
orchestrierten Melodramatik. Es ist nicht undenkbar, daß Antonioni sich
an dieser Stelle sogar explizit von der »alten Schule« des Neorealismus
absetzt.
Eine Geschichte gerinnt zur Metapher.
Die Zeit steht still im Hier und Jetzt, in einer traum- und erinnerungslosen
Gegenwart. Daß Aldo, der mehr als ein Jahr unterwegs sein muß –
Irma wickelt ein etwa halbjähriges Kind -, immer die gleichen Kleider trägt,
denen man im übrigen die Spuren der Wanderschaft kaum ansieht, ist natürlich
kein Script-Fehler, sondern ein bewußter Entscheid des Autors im Rahmen
seiner Sinnbild-Strategie.
[Vergleiche dazu Antonioni, by Philip Strick. Motion Nr. S, März 1963,
New York]
Hier soll nicht behauptet werden, ganz
zufällig und quasi aus heiterem Himmel sei in Italien zwischen 1957 und
1964 ein Filmautor mit einer Reihe von perfekten Bildern des Stillstands in
Erscheinung getreten, und er hätte sich auch zwanzig Jahre früher
oder zwanzig Jahre später zeigen können. Wir sehen weder von den Zeitumständen
ab noch von der evidenten gesellschaftlichen und historischen Funktion von Antonionis
»Endspielen« (die hier in Anführungszeichen stehen, weil sie
auch, ab L’AVVENTURA, »Beginnspiele« sind, jedenfalls waren sie
konzipiert als Beiträge zur Überwindung des Stillstands, den sie beschreiben).
Die sechs italienischen Filme von LE AMICHE
bis zu IL DESERTO ROSSO entstanden in einer Zeit der gesellschaftlichen »Normalisierung«,
auch in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs; es gab durchaus auch ein
italienisches »Wirtschaftswunder«, das zwar weniger große
Kreise als in der Bundesrepublik erfaßte, doch einen gutverdienenden bürgerlichen
Mittelstand schuf, in dem ab IL GRIDO alle italienischen Filme Antonionis angesiedelt
sind.
Die
Krankheit der Gefühle
Die Muster des ersten italienischen Neorealismus
lösten sich – bei jedem Autor wieder in verschiedener Weise – auf. Während
die Neorealisten der ersten Jahre den Faschismus und seine Reste, die den verlorenen
Krieg überdauerten, demaskierten und die Ungerechtigkeit des alten wie
des neuen Systems in Ereignissen darstellten, die das Bewußtsein weder
der sie organisierenden noch der sie erleidenden Menschen brauchten, schienen
vor allem Antonioni in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre bereits
solche filmische Interventionen, politische Denunziationsfilme nicht mehr möglich.
Zwar sind Reste der neorealistischen Denunziationstradition in seinen ersten
Spielfilmen, CRONACA DI UN AMORE und LA SIGNORA SENZA CAMELIE, noch festzustellen.
Das Kräftespiel von wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Unten und Oben
spielt im Dreiecksdrama der CRONACA und in der Auf- und Absteigergeschichte
der SIGNORA durchaus eine gewisse Rolle. Und in den drei Geschichten von I VINTI,
besonders in der italienischen (die ein Ersatz war für eine noch viel denunziatorische,
die die Zensur des Produzenten, der Angst hatte, nicht passierte), sind Ansätze
einer politischen Analyse der Nachkriegszeit auch vorhanden. Doch Antonionis
eigentliche Intervention findet immer mehr auf einer anderen Ebene statt. Zur
Not, aber wirklich zur Not, könnte IL GRIDO noch als der Roman eines Unterprivilegierten
gelesen werden, aber mit L’AVVENTURA ist das endgültig vorbei. Antonioni
konzentriert sich auf das, was er selbst die »Krankheit der Gefühle«
genannt hat, auf das Notstandsgebiet einer Gesellschaft (und durchaus nicht
nur einer Klasse, wie IL GRIDO, zwar einmalig, zeigt), die den Komfort und den
Konsum mit einem innerlichen Absterben bezahlt. Die erste Liebe dieses Italien
ist der Faschismus gewesen; nach seiner Niederlage stehen die Italiener verloren
da.
»Krankheit der Gefühle«.
Ist Antonioni nun der Arzt dieser Krankheit und für die Kranken? Er bleibt
bis zum Schluß von IL DESERTO ROSSO, wo er eine Therapie vorschlägt,
der Diagnostiker. Gegen Vorwürfe, er nehme seine gesellschaftliche Aufgabe
als Filmautor nicht ernst genug, hat er sich zur Wehr gesetzt.
In einem Gespräch, das Antonioni
im Jahr nach L’AVVENTURA mit Lehrern und Schülern des Centro Sperimentale
di Cinematografia in Rom führte, finden sich neben dem oben bereits zitierten
programmatischen Text zu L’AVVENTURA, den der Autor sozusagen als Grundlage
für alle seine anderen Ausführungen vortrug, einige weitere sehr bezeichnende
und unsere These von Antonioni als Diagnostiker stützende Stellen, insbesondere
die Antwort auf die Frage des damaligen Regieschülers Marco Bellocchio.
(Drei Jahre vor dessen Erstling I
Pugni in Tasca, mit dem
er seine abweichende Position schlüssig definierte.)
Bellocchio warf Antonioni vor, daß
er, speziell in L’AVVENTURA, den Zuschauer in der Kälte eines pessimistischen
Befunds stehen lasse: »Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie vor einem
jungen Menschen, der Sie anschaut oder Sie etwas fragt, still dastehen, stumm,
oder ob Sie glauben, ihm etwas sagen zu können, ihm eine menschliche Wärme
mitteilen zu können.« Er sei weder Moralist noch Pädagoge, antwortete
Antonioni; ob ein Kunstwerk überhaupt erzieherisch wirken solle, darüber
wolle er nicht nachdenken, das gehe ihn nichts an. Bevor sich das Gespräch
technischen und formalästhetischen Fragen zuwandte, offenbar noch immer
irritiert durch die impertinente politische Frage Bellocchios, faßte Antonioni
noch einmal nach: »Nun können Sie nicht von mir verlangen, daß
ich diese Probleme löse, daß ich Ihnen bestimmte Lösungen vorsetze,
schon deshalb nicht, weil ich, der ich dem Bürgertum angehöre und
bürgerliche Dramen behandle, dazu nicht die Mittel habe. Das Bürgertum
gibt mir nicht die Mittel, um bürgerliche Probleme zu lösen. Daher
beschränke ich mich darauf, bestimmte Probleme zu zeigen, und ich schlage
keine Lösungen vor. Es erscheint mir bereits wichtig genug, sie aufzuzeigen.« [Die
Krankheit der Gefühle, in »Der Film …«, Ss.102f.]
Es verwundert nicht, daß sowohl
die orthodoxe wie auch die neue italienische Linke Antonioni bis heute einen
Mangel an Parteilichkeit und Perspektivelosigkeit vorwirft. Antonionis Perspektive
sieht allerdings anders aus als jene der klassenkämpferischen Linken. Sie
besteht – verkürzt gesagt – in der existentialistischen Freiheit, in der
radikalen Änderung des Einzelnen nach dem existentialistischen Erlebnis.
Am deutlichsten wird sich Antonioni in PROFESSIONE: REPORTER machen.
Noch stehen wir am Beginn der »italienischen
Tetralogie«. Antonionis Bürger haben sich arrangiert, eingerichtet
in einem äußerst labilen Gleichgewicht. Geübt bewegen sie sich
in ihrer Welt, bedienen sich ihres Komforts. Sie leben ohne materielle Sorgen,
haben Verpflichtungen eigentlich nur gegenüber sich selbst und ihren Beziehungspartnern.
Nur Giuliana und Ugo in IL DESERTO ROSSO haben ein Kind. Eltern, sofern man
sie sieht – Annas Vater in L’AVVENTURA, die Mutter Vittorias in L’ECLISSE –
stehen abseits, beeinflussen die inneren und äußeren Ereignisse kaum.
Antonionis Helden sind zwischen 25 und 35 Jahre alt, in mehr oder weniger einträglichen
oder doch zumindest angesehenen Berufen tätig. Sie kleiden sich gut, oft
teuer, fahren Mittelklasseautos, bewohnen schicke bis luxuriöse Appartements.
Die Einrichtungen ihrer Wohnungen sind dermaßen stil- und geschmackvoll,
daß sie manchmal wie Bunker gegen das Ungeordnete draußen vor der
Tür wirken. Kaum ein anderer Regisseur hat auf die Stimmigkeit der Interieurs
und die zeitgenössische Eleganz der Figuren – Hemden, Krawatten, Schuhe,
Handtaschen, Schmuck, Frisur – soviel Wert gelegt wie Antonioni. Der outfit
seiner Figuren beweist die größtmögliche Vertrautheit des Autors
mit seinen Geschöpfen und ihrem »Stil«.
Ein einziger Anstoß allerdings genügt,
daß diese Menschen in sich selber fallen, in ihr Chaos, ihre existentielle
Krise. In L’AVVENTURA verläßt Anna die Clique und stößt
dadurch Sandro und Giulia in ihre chaotische Innerlichkeit. In LA NOTTE stirbt
Tommaso und stiftet mit seinem Tod den Ausbruch der Krise von Giovanni und Lidia.
Ein Abschied, der während einer ganzen Nacht – vor Beginn des Films – stattgefunden
hat, begründet Vittorias Suche nach einem neuen Gleichgewicht, das kein
Arrangement mehr sein soll (L’ECLISSE). Giulianas »Krankheit der Gefühle«
(IL DESERTO ROSSO) hat eine Vorgeschichte. Natürlich haben alle die Krisen,
die Antonioni vorführt, eine Geschichte; nur das Bewußtsein kommt
schlagartig.
Lange bevor sie verschwindet, sagt Anna
zu Sandro »Ich spüre dich nicht mehr«. Sandro begreift nichts
oder will nicht begreifen und fragt – auf den letzten Beischlaf anspielend -:
»Auch gestern nicht, bei mir zuhause? Hast du mich da auch nicht gespürt?« Die Frauen sind es oft, die zuerst auf den Grund
einer sinnentleerten Existenz durchzublicken vermögen.
»Ich möchte sterben, um zu
sehen, ob etwas geschieht«, sagt Lidia zu ihrem Mann, und zu Valentina:
»Du weißt gar nicht, was das bedeutet, all die Jahre hinter sich
zu spüren und keinen Sinn mehr zu finden. Heute abend
möchte ich sterben. Damit wenigstens diese Angst ein Ende hätte. Damit
etwas Neues begänne.«
Die Frauen in der italienischen Tetralogie
scheinen mir die Grundwahrheit, das »metaphysische Diagramm« des
Autors immer genauer auszusprechen als die Männer. Antonionis Anmerkungen
zu seinen Frauenfiguren und deren Funktion im eigenen »Welttheater«
sind ziemlich vage. Er sagte wiederholt, er sei mit Frauen aufgewachsen, habe
unzählige Cousinen gehabt, und er erkenne seine eigenen Vorstellungen,
Träume und Absichten immer wieder bei Frauen: er stehe ihnen näher.
Diese Nähe wäre zu definieren. Es wird immer wieder klar, daß
Antonionis Frauen zur Versöhnung fähig sind, daß sie die Tragödie
überwinden. Sie tun die kleinen oder größeren Schritte ins Offene,
in die existentialistische Freiheit. Man müsse ein Heiliger ohne Gott werden,
heißt es bei Camus etwas pathetisch (und männlich). Nicht zuletzt
aus traditionellen Gründen, wegen einer romantischen Idealisierung der
Frau, für deren Problematik wir erst in den siebziger Jahren hellhörig
geworden sind, läßt Antonioni Claudia am Schluß von L’AVVENTURA
das Gleichgewicht des Mitleids mit ihrer zögernden Geste stiften, Lidia
in LA NOTTE das Bewußtsein des Scheiterns einer Liebesbeziehung herstellen
und den reinen Tisch schaffen, dessen es für einen Neubeginn bedarf; Vittoria
in L’ECLISSE die Kraft zum Abschied aufbringen, ein neues (Er-)Leben erfinden;
Giuliana in IL DESERTO ROSSO schließlich lernen, daß alles, was
ihr zustößt, ihr Leben ist.
Die Männer dagegen leben die Krise
in Feigheit oder in Trotz. Sandro, der heruntergekommene Architekt, verrät
wiederholt seine Bindungen. Giovanni, der Schriftsteller, hat sowohl seine Beziehung
zu Lidia als auch sein linkes Engagement heruntergewirtschaftet (und der offenbar
»intakte« Tommaso stirbt). Der Journalist Riccardo begegnet dem
Entschluß Vittorias mit ohnmächtigen Floskeln, und Piero, der Börsianer,
hält sich mit kaltschnäuzigem Sarkasmus über abgründiger
Leere; Ugo, der Ingenieur, baut besinnungslos an der krankmachenden Welt weiter,
und sein Freund Corrado ist ein Flüchtling, will sich nach Patagonien absetzen.
In der Krise des Paars manifestiert sich
in der Tetralogie zuerst einmal die Krise der Gesellschaft, in der es lebt,
doch diese ist nur eine Schicht in einer umfassenderen Krise, des allumfassenden
Sinnverlusts. Die vier Filme sind so wenig ein Prozeß gegen die italienische
Bourgeoisie, wie IL GRIDO der Roman eines Unterprivilegierten und LE AMICHE
eine Abrechnung mit einem provinziellen Bohème
waren. Dafür sind die Filme zu leidenschaftslos und zu metaphorisch formuliert,
operieren sie mit viel zu umfassenden Chiffren.
Antonioni wirft keinen neugierigen Blick
auf seine Figuren; denn, was sie langsam entdecken, kennt der Autor schon. Die
Personen sind aber auch nicht reine Vollzugsgehilfen des metaphysischen Diagramms«
– wie etwa die »Modelle« Robert Bressons -, sondern handeln immer
aus sich selbst heraus; das »mal de vivre« teilt sich deshalb mit
unsentimentaler Verbindlichkeit und Genauigkeit mit. Die Steigerung in Antonionis
Filmen ist keine dramatische, sondern eine filmisch formale«, auf Zentren
der restlosen gegenwärtigen Artikulation hin. Zum Beispiel auf die absurde
Suchaktion auf der Insel, die einher geht mit der Auflösung der Gruppe,
oder auf die Szenen in Noto und natürlich auf die Schlußeinstellung
von Taormina in L’AVVENTURA; auf Lidias Spaziergang durch das Zentrum an den
Stadtrand von Mailand, die Sequenz der Durchblicke am Fest des Industriellen
und schließlich den morgendlichen Gang Lidias und Giovannis an das Ende
des Parks und das Ende ihrer gemeinsamen Geschichte in LA
NOTTE; auf den Abschied
Vittorias von Riccardo (der Film setzt gerade mit dieser einzigartigen Sequenz
ein), auf die Szenen in der römischen Börse und vor allem auf die
Schlußsequenz der Dinge in L’ECLISSE.
Es sind Anthologiestücke, Stücke
von einzigartiger Konzentration. Es sind diese Verdichtungen, deren man sich
nach Jahren, wenn man die Einzelheiten der Stories längst vergessen hat,
erinnert. Sie sind die Markenzeichen Antonionis; seine Unverwechselbarkeit,
seine Identität liegen in ihnen.
Bezeichnenderweise sind diese Sequenzen
lakonisch, manchmal gar ohne Dialog. Hier reden nicht mehr die Figuren aus ihrer
verletzten, wunden oder verwirrten Innerlichkeit heraus; hier projiziert der
Autor ihre und seine Innerlichkeit. Die Erzählung kommt oft beinahe zu
einem Stillstand. Mich erinnert der Vorgang an gewisse frühromantische
Romane (Tieck, Novalis), in denen der Erzähler immer wieder anhält
und ins lyrische Sagen ausbricht, zusammenfassend, ins Wesentliche erhöhend,
wie erleuchtet von dem Moment, den die epische Erzählung geschaffen hat.
Und dann kommt mir dieser Vergleich wieder falsch vor – wie ein anderer, jener
mit der Arie (dem Duett, dem Terzett) in der Oper -, weil das Moment der Überwältigung
fehlt. Nie ist Antonioni gegenwärtiger, übersichtlicher, bewußter
als in diesen »Gedichten«, in diesen (End-)Gültigkeit suchenden
und immer wieder findenden Objektivierungen. Daß er, in BLOW-UP, den Nutzen,
der aus solcher Klarheit gezogen werden kann, selber wieder relativiert, widerlegt
diese Beobachtung nicht. Natürlich gilt bei ihm letztlich die Überzeugung,
daß wir nichts wissen können. Den Boden der Spekulation und der metaphysischen
Spiegelfechterei verlassend, können wir immerhin feststellen, daß
Antonioni oft unendlich viel Zeit aufgewendet hat für diese Formulierungen:
Wochen auf der Insel von L’AVVENTURA, auf der Terrasse in Taormina, auf dem
Platz vor dem »Hotel de la Gloria« in PROFESSIONE: REPORTER, im
Death Valley für ZABRISKIE POINT, im Studio für die Nebelszene von
IDENFICAZIONE DI UNA DONNA. Die Reinschriften des existentialistischen Erlebnisses
sind das Zentrum seiner Arbeit.
In L’AVVENTURA wohnen wir dem Zerfall
eines Gefühls und einer Gruppe bei und verfolgen die Geburt eines neuen
Gefühls, dessen sich die Liebenden schämen. An ihrem Weg stehen die
Vorzeichen des neuen unvermeidlichen Zerfalls, der neuen Leere, und Sandro scheint
aus irgendeinem inneren Zwang heraus diesen Zerfall beschleunigen zu wollen,
indem er sich in Taormina mit der ragazza
di vita »Gloria
Perkins« einläßt. Claudia, die die Nacht allein verbracht hat,
sucht Sandro, findet ihn mit dem Mädchen und stürzt ins Freie. Nun
beginnt die Schlußszene von L’AVVENTURA.
Die Schlußeinstellung setzt die
beiden Protagonisten in ein geometrisch eindeutig konstruiertes Feld: die Außenkante
einer Terrasse teilt das Bildfeld von Rand zu Rand horizontal; der von der Terrasse
freigelassene obere Teil des Bilds ist in der Vertikale gegliedert: links tut
sich der Blick in die Ferne, an den schneebedeckten Ätna, auf; rechts steht,
näher, eine Hausmauer ins Bild; ein Balkongeländer zeichnet sich fein
im linken Feld ab. Die Kameraperspektive ist so gewählt, daß sich
die Hausmauer über den Fluchtpunkt der Einstellung stellt. Mit anderen
Worten: Die Figur Claudias, die links steht, gehört zu der offenen, die
Figur Sandros, der in sich zusammengesunken rechts auf einer Bank sitzt, verbindet
sich mit der geschlossenen Hälfte des Bilds. Man sieht und spürt,
daß diese Einstellung so konstruiert ist, auch wenn man nicht weiß,
daß Antonioni die Terrasse mit einem Tuch hat abdecken lassen, auf das
die Fluchtlinien diskret – als verwitterte Parkplatzeinteilung – eingezeichnet
wurden. »Die Frau wird den Mann bestimmt nicht verlassen«, hat Antonioni
in einem Interview gesagt. Genau das soll das Schlußbild als Ganzes sagen
-, und nicht nur die tröstende Geste Monica Vittis, die ihre Hand auf Gabriele
Ferzettis Nacken legt.
Von geradezu halluzinatorischer Präzision
sind auch die Bildkompositionen in LA NOTTE. Schier endlos ist die Fahrt des
Lifts an der Fassade des Spitals, in dem Lidia und Giovanni den sterbenden Tommaso
besuchen. Die Mauern des funktionellen, kalten Gebäudes erdrücken
später Lidia, die sich aus dem Sterbezimmer geflüchtet hat. Ihre Panik
löst sich erst, wenn sie sich von der Buchvernissage weggestohlen hat und
allein durch Mailands Straßen geht. Die Kamera stellt den schmerzlich
vermißten Zusammenhang zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und
Dingen wieder her. Lidia tastet sich vor und mit der Kamera wieder an die Realität,
die Körperlichkeit der Welt heran, und nicht zufällig führt sie
der Gang durch die Stadt und ihre Menschen zurück in die Gegend, wo sie
das Leben mit Giovanni begonnen hatte.
Worauf sind diese Bilder aus? Wohl auf
eine neue, illusionslose Wahrnehmung der Welt, ihre Gegenstände und ihrer
Zusammenhänge. Der Gang Lidias durch die Straßen von Mailand ist
die unabdingbare Voraussetzung für ihren Gang mit Giovanni nach dem Fest,
nach der Fahrt im Regen (mit einem anderen Mann), diesen Gang ans Ende des Parks
und ans Ende ihres Wegs«. In L’ECLISSE treibt Antonioni diese seine Einladung
zur neuen Aneignung der Welt auf die Spitze.
Da braucht er zu Beginn 41 zum großen
Teil äußerst komplizierte Einstellungen, bis Vittoria das Gartentor
vor Riccardos Haus hinter sich ins Schloß fallen läßt. Die
Kamera und ihre Bewegungen enthüllen mehr als der Dialog, in welchem im
Grunde nur ein einziger »bedeutender« Wortwechsel stattfindet. (»Ich
wollte dich glücklich machen«. – »Als wir uns begegnet sind,
war ich zwanzig Jahre alt: ich war glücklich.«)
In der zwanzigsten Einsteilung geht Vittoria zum Fenster und zieht die Vorhänge
auf; mitten im Bild erhebt sich ein pilzförmiges Wasserreservoir. Man kann
die Form als phallisches Symbol oder als Symbol der Bedrohung (Vor-Bild der
am Schluß evozierten Atombombengefahr) nehmen, wenn man will. Doch symbolisch
ist eigentlich wenig in dem Film. Vittoria sagt etwas später: »An
gewissen Tagen ist es genau gleich bedeutend, einen Stoff, eine Nadel, ein Buch
oder einen Mann in Händen zu halten.«
Die Eingangssequenz Von L’ECLISSE zeigt nichts anderes als den Moment, in dem
sich ein Mensch dieser Indifferenz inne wird.
Große Teile von L’ECLISSE hat Antonioni
im römischen EUR-Quartier gedreht, jenem Zukunftsquartier, das für
die Weltausstellung angelegt worden war und dann keine Zukunft hatte. Er läßt
Vittoria immer wieder mitten auf leeren Straßen gehen; oft gegen einen
leeren bleiernen Himmel; er schickt sinnlos vereinzelte Elemente über ihren
Weg, eine Droschke zum Beispiel, ein Kindermädchen mit einem Wagen; ein
halbfertiges, mit Strohmatten verhängtes Haus wird zum zeichenhaften Ort
des Films; die Baumaterialien, die herumliegen, rufen geradesosehr die Assoziation
»Aufbau« wie Trümmer« ab. Die Welt ist zum Labyrinth
geworden. Die Börse und die, die in ihr herumrasen und schreien, sind das
Zentrum des Chaos; hier wird es in einer ziellosen Bewegung gehalten mit Geldtransaktionen.
Die Macht ist so wenig faßbar wie ein Sinn. Piero hat den hektischen Rhythmus
dieser Welt, die leerläuft; er rennt, schreit, konsumiert, auch Frauen.
Riccardo, der Linke, sitzt gelähmt in seinen Büchern und schönen
Sachen.
Mit 38 kurzen Einstellungen schließt
L’ECLISSE. Menschen gehen auf die Kamera zu als Schatten. »Der Atom-Wettlauf«
lesen wir auf einer Zeitungstitelseite, und auf einer nächsten »Der
Friede ist schwach«. Nun formuliert Antonioni, was immer zu formulieren
war: Eine Welt, in der einer nicht mehr Ich sagen kann. Die Dinge haben ihre
klare Gegenwart; wir können ihnen keine psychologische, moralische oder
gar metaphysische Tiefe mehr anhängen. In L’ECLISSE ist Antonioni nahe
bei der Position Robbe-Grillets, der in einer seiner theoretischen Schriften
sagt: »Wir betrachten die Welt nicht mehr als unser Gut, unseren Privatbesitz,
der nach Maßgabe unserer Bedürfnisse gefertigt ist.«
Das ist der »Stillstand der Handlung im Aufschein und Rausch der Materie«
(Umberto Eco zitiert diese Formel von Renato Barilli in seiner Nachschrift
zum Namen der Rose).
Ich denke nicht, daß Antonioni in
L’ECLISSE einen Verlust beweint, sondern vielmehr, daß er mit Vittoria
einen Menschen entwirft, der zu erkennen beginnt, nach jenem »Augenblick
der Wahrheit«, den wir hier »existentialistisches Erlebnis«
nennen.
Die brave
new world, die Vittoria,
und Antonioni mit ihr, zu sehen glaubt, erscheint in IL DESERTO ROSSO in Farbe.
Antonioni streicht ihre visuellen Reize heraus mit langen Brennweiten und mit
Einfärbungen, die er nicht nur mit Filterungen in dem extrem elastischen
Technicolorverfahren erzielt, sondern auf den Gegenständen selbst. Im Vergleich
mit den Formulierungen von L’ECLISSE ist Antonioni in seinem ersten Farbfilm
schematischer, plakativer. Die »Krankheit der Gefühle«, die
für ihn die Chiffre für die Absurdität der modernen menschlichen
Existenz ist, äußert sich bei Giuliana in akuter Form, als Neurose.
Der Autor dekliniert noch einmal sein Weltbild durch und definiert die verschiedenen
Möglichkeiten des Einzelnen. Er läßt – besonders auch mithilfe
des rückwärtsgewandten romantischen Märchens, das Giuliana ihrem
Kind erzählt – seine Skepsis gegenüber traditionellen Lösungen
der Krise deutlicher als bisher durchblicken. (Hätte Antonioni die erste
im Drehbuch vorgesehene Fabel gedreht – darin kommen sich ein Papierdrachen
an einer unendlich langen gelben Schnur und Raketen, die italienische Emilia
und das amerikanische Cape Canavaral nahe -, wäre das Märchen vielleicht
noch klarer geworden.[Antonioni.
IL
DESERTO ROSSO. Nuovo universale Capelli, No
8, Bologna 1978, Ss.120ff.]
Auch Ugo, der Ingenieur, der
in der »roten Wüste« funktioniert, der seinem Sohn einen Spielzeugroboter
schenkt und ihm die Physik eines neuen, mechanisch hergestellten Gleichgewichts
erklärt, ist krank; die Gefühle sind abgestorben. Und Corrado ist
verwirrt, sucht einen Ausweg im Exil: Vielleicht ist die Welt am Ende der Welt
noch in Ordnung, in Patagonien: ein Motiv, das schon in früheren Filmen
angetönt worden ist: in IL GRIDO in der Barracke der Bauarbeiter am Po,
in L’AVVENTURA mit dem einsamen Fischer auf der Insel, in L’ECLISSE mit Vittorias
Nachbarin, die Jahre in Kenya verbracht hat.
Giulianas Krankheit steht im Zentrum,
die fehlgeschlagenen Heilungsversuche, der versuchte Selbstmord, und zum Schluß
eine Art Stillhalteabkommen zwischen Giuliana und der in allen Farben leuchtenden
modernen Welt. Es ist zu Recht schon als naiv und irrationalistisch kritisiert
worden. In ihrer Begegnung mit dem türkischen Matrosen, der sie und den
sie nicht versteht, dämmert Giuliana jene Erkenntnis, die der Film artikulieren
soll: »Ich bin krank gewesen, ja … aber ich darf nicht daran denken;
ich muß daran denken, daß alles, was mir begegnet, mein Leben ist.« Sie hat gelernt, was die Vögel wissen: Daß
sie den giftigen Rauch über der Raffinerie meiden müssen, wenn sie
überleben wollen. Antonioni prophezeit keineswegs den von der modernen
Technologie verursachten Weltuntergang. Es gibt Lösungen. Die Technologie
ist den Gefühlen der Menschen davongelaufen; es gibt noch keine Ethik der
zweiten industriellen Revolution, aber die Menschen können sie finden,
können Gefühle entwickeln, die in die schöne neue Welt passen.
(Aus diesen Gründen scheint es mir
auch sehr fragwürdig, wenn »grüne« Interpreten in IL DESERTO
ROSSO den ersten großen ökologischen Film begrüßen. Sie
müßten das Gespräch nachlesen, das Jean-Luc Godard
in Venedig 1964 mit Antonioni geführt hat, Antonionis Erklärung etwa,
daß es seine Absicht gewesen ist, »die Schönheit dieser Welt
auszudrücken, wo sogar Fabriken schön sein können…Die Linien,
die Formen der Fabriken und ihre Kamine sind vielleicht schöner als eine
Baumreihe…Es ist eine reiche Welt, die lebendig und nützlich ist.«
Das Gespräch trägt die Überschrift »Die Nacht,die
Sonnenfinsternis, die Morgendämmerung«)
Die
neue Welt
Wenn sich Antonioni nach der italienischen
Tetralogie England und den USA zuwendet, hat das einiges mit seiner Vermutung
zu tun, daß sich in den angelsächsischen Ländern ein modernes
Bewußtsein und neue Gefühle zu manifestieren beginnen, die für
Italien vorbildlich sein könnten, wo es zu einem ausweglosen Patt zwischen
orthodoxen linken und rechten Kräften gekommen ist, zu einem neuen Stillstand.
Über fünfzehn Jahre lang hat
Antonioni – wenn wir einmal von seinem Fernsehfilm IL MISTERO DI OBERWALD absehen,
dessen technisch experimenteller Charakter in das hier gezeichnete Porträt
des Autors zwanglos paßt, während der Stoff meines Erachtens ein
Fremdkörper im Ablauf der Werke bleibt -, über fünfzehn Jahre
lang hat Antonioni keinen Film mehr in Italien geschaffen. Er arbeitete in England,
in den USA, in China, in Afrika-Deutschland-England-Spanien (PROFESSIONE: REPORTER).
Überall vermutete er jenes Neue, das er in Italien vermißte, jene
Änderungen und Mutationen, die das Überleben garantieren.
Den freien Umgang mit den Dingen, ihren
schuldlosen Genuß, die Verliebtheit in die Gegenstände fand Antonioni
zuerst in London.
Nach der oberflächenschönen
Farbdramaturgie von IL DESERTO ROSSO, nach dem Stich- und Schlagwort von den
»Farben der Gefühle« konnte Antonionis Faszination durch die
Pop-Art nicht überraschen; das bunte »Swinging London« muß
auf den nun 54jährigen wie eine Verheißung gewirkt haben. Wer über
Antonioni nachdenkt, läuft immer wieder Gefahr, ihm nur die ernstesten
Motive und Reflexionen zuzugestehen. Dabei ist selbstverständlich auch
mit einer ganz profanen Neu-Gier zu rechnen. London hieß damals auch Carnaby Street, mini skirts, »Beatles«, ein Mutanten-Milieu,
grass
und LSD, die bewußtseinserweiternde und -verändernde Droge. Antonioni
schaute nicht fassungslos auf eine Jugend, die sich mit vielen Zeichen einer
neuen Kultur aus den traditionellen Problemen und Fragestellungen verabschiedete.
Freilich: Der Ausbruch an die Oberfläche
bringt nicht die Befreiung, die Antonioni wünscht. Für die Hauptfigur,
den Fotografen Thomas, endet sie in der alten Identitätskrise, der alten
»Krankheit«. Doch Antonioni betrachtet sie gelassener, heiterer.
Thomas, der amoralische Augenmensch, der
sich unbesonnen, ungehindert durch ethische Kriterien, unschuldig also mit seiner
Hasselblad oder seiner Nikon auf die Menschen und Sachen stürzt, sich alte
Obdachlose genauso arrogant vornimmt wie junge Modelle, der einen Fotoband über
London plant und da einfach noch etwas Leichtes, etwas Fröhliches braucht
und zu diesem Zweck zuerst einmal mit der Fotokamera den Tauben im Park nachhuscht,
bevor er das Liebespaar entdeckt, das sich da auf dem knallgrünen Rasen
küßt: er wird in einen Wirbel von »Tatsachen« und »Illusionen«,
von Außen und Innen, gestürzt, den er akzeptieren muß, wenn
er nicht daran zugrunde gehen will. Ein Riß geht schließlich mitten
durch ihn hindurch, und er wählt das versöhnliche Arrangement. Er
spielt das imaginäre Tennisspiel seiner maskierten und verkleideten Altersgenossen
mit. Doch der Zweifel, ob man überhaupt mit den Augen erkennen könne,
sitzt tief. Er wird in PROFESSIONE: REPORTER wieder ans Licht des Antonionischen
Werks kommen. Das Erlebnis der Vergeblichkeit, das dort den Reporter David Locke
in ein zweites Leben treibt, scheint mir in dem Fotografen Thomas von BLOW-UP
bereits angelegt.
Auf die »objektive Verwandtschaft«
des Fotografen und des Filmautors, der ihn erfunden hat, ist oft verwiesen worden.
Die Schlüsse, die aus dieser Verwandtschaft gezogen worden sind, gehen
oft zu weit. Vor allem das auf BLOW-UP folgende Werk, ZABRISKlE POINT, gebietet
Vorsicht, denn der amerikanische Film objektiviert die (Seelen-)Zustände
einer jungen Generation mit der alten Sicherheit. Es ist unbestreitbar: In BLOW-UP
wird der Zweifel ins Medium selbst hineingetragen. Thomas glaubt einen langen
Augenblick lang, er könne ein Mysterium erklären. Er entdeckt in seinem
Material eine Einzelheit, die von bloßem Auge nicht zu erkennen gewesen
ist. Er arbeitet es – in einem jener unvergeßlichen Antonionischen Augenblicke
– heraus; dann will er es an der Wirklichkeit selber verifizieren und scheitert.
Schon in diesem Augenblick »rettet sich« Antonionis Kamera aus dem
absurden Abgrund, indem sie sich vom subjektiven Standpunkt, die sie für
kurze Zeit eingenommen hat, löst. Thomas kommt wieder als »Gegenstand«,
distanziert, beobachtet von außen, ins Bild, ein Vorgang, der sich dann
in der Schlußsequenz wiederholt. Unbestreitbar verläßt die
Kamera öfter als in den früheren Filmen die sichere objektivierende
Position, aber sie »vergißt« sie nicht, sie besinnt sich auf
ihre Identität zurück und vermag eine Verwirrung zu formulieren, ohne
selbst gänzlich Teil dieser Verwirrung zu sein. BLOW-UP ist noch immer
ein Film über Sein und Schein, über Trug,
über die Wahrnehmung. Aber der Film ist in die Nähe der Zone gekommen,
in der er sich selber auflösen müßte in der allgemeinen Absurdität
und Sinnlosigkeit der äußeren und inneren Welt. Doch ich denke, Antonioni
willige noch einmal ein in die Versöhnung von Thomas, die allerdings noch
problematischer ist als jene von Giuliana in IL DESERTO ROSSO.
Die Sehnsucht nach einer »neuen
Welt«, die früher gewisse Filmfiguren, etwa Corrado in IL DESERTO
ROSSO, ausgezeichnet hatte, scheint Antonioni in die Vereinigten Staaten von
Amerika gelockt zu haben. Studenten- und Bürgerrechtsbewegung, fast »Bürgerkriegsstimmung«
geschürt durch den Vietnamkrieg, waren eine Art Versprechen eines Neubeginns
für den an der europäischen Immobilität leidenden Autor, der
zum zweiten Mal Helden erfindet, die einer jüngeren Generation angehören.
(Obwohl die Figuren der italienischen Tetralogie objektiv ebenfalls jünger
waren als ihr Erfinder, waren sie doch seinesgleichen. Das kann man von Thomas
in BLOW-UP und Mark und Daria in ZABRISKIE POINT nicht mehr behaupten.)
ZABRISKIE POINT ist einer der einfachsten
Filme Antonionis – und einer der suspektesten, nicht nur politisch, sondern
auch ästhetisch. Die Metaphern, die Antonioni in den USA erfindet, tragen
wenig Zweifel in sich selber. Mark und Daria sind wohl als Wunschprojektionen
zu interpretieren. Sie leben aktiv ihren Überdruß aus, auch indem
sie träumen, und sie finden eine neue Kommunikation, die Antonioni – in
der »Love in«-Sequenz im Death Valley – allsogleich ins Kosmische
aufhöht. Leichtlesbare Chiffren machen in jedem Moment überdeutlich,
wovon die Rede ist: vom Ende der alten Welt, das imminent ist. »Nowords«
pinselt Mark auf das entwendete Flugzeug, und Daria sucht auf dem Autoradio
Musik der Pink Floyd und von Jerry Garcia. »Buy – Fly – Eat – You need«,
sagt die noch geltende Zivilisation und schickt ihre roboterhaften Polizisten
aus, wenn die Ordnung von Träumern gestört werden soll. Diese Ordnung
setzt sich noch einmal durch. Aber sie wird in die Luft gehen, so wie es Daria
am Schluß imaginiert; davon ist Antonioni überzeugt. »We tell
them, Fathers, you are stupid men, you are pigs. And
then we make the bomb of love. And watch with joy as it explodes over and over
again«: der Originalton der amerikanischen Studentenbewegung geht ungefiltert
in ZABRISKIE POINT ein. Die
Bewegung sei es gewesen, die ihn am stärksten interessiert habe in Amerika,
sagte der Autor. »Ein junger Mann und ein Mädchen treffen sich. Sie
reden. Das ist alles. Alles, was vor diesem Gespräch passiert, ist ein
Prolog. Alles was nach dem Gespräch geschieht, ist ein Epilog.« [Zwei
Arten von Gewalt. Ein Gespräch von Gene Youngblood mit Antonioni. film,
Velber b. Hannover, Oktober 1969]
ln den USA, auf dem Kontinent der schönen
glatten Sachen und ihres fröhlichen Gebrauchs, den er früher als Fortschritt
begrüßte, schlägt sich Antonioni auf die Seite jener, die sich
genau diesem fröhlichen und unreflektierten Gebrauch widersetzen, auf die
Seite der Verweigerer, die – nach einem umfassenden Akt der Zerstörung
– neu beginnen wollen. Die amerikanische Konsumwelt – selbst eine Waffenhandlung
– setzt Antonioni verführerisch, elegant, perfekt auf die Leinwand, aber
nur damit die Wüste dann, dieser metaphorische Ort, umso stärker zur
Geltung komme. Die Wüste, der freie Raum, in dem die Liebe in einem Weltschöpfungsakt
gezeugt wird. Damit diese neue Menschlichkeit Zukunft habe, muß die falsche
alte Ordnung in die Luft gehen. Das zeigt Darias zerstörerischer Traum.
Es lohnt sich übrigens, genau hinzuschauen, was da alles in die Luft geht
vor dem inneren Auge der reinen jungen Heldin: Nicht nur ein Haus und ein Swimming
Pool, Kleider, Möbel, Fernsehapparate, Kühlschränke und Eßwaren,
sondern auch Bücher. In der Konfrontation mit den radikalen jungen amerikanischen
Rebellen hat Antonioni offenbar ansatzweise seine eigene Position als europäischer
Intellektueller überprüfen müssen. In den USA hat er die Bücher
– nicht nur zu seinem Vorteil – weggeschmissen.
Von diesem Punkt aus wird
auch das Interesse und die Begeisterung Antonionis für die gesellschaftlichen
und kulturellen Vorgänge in der Volksrepublik China verständlich,
der er sich mit dem Dokumentarfilm für das italienische Fernsehen, CHUNG
KUO, zwei Jahre nach ZABRISKIE POINT, zuwendet. Antonioni erwartet, einer jungen
Welt zu begegnen, Menschen, die sie gestalten und sie nicht nur erleiden, die
sich nicht entfremdet sind, die die Absurdität – das heißt das unheilbare
Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und Kategorien – nicht kennen. Auch der
Chinafilm ist ein Sehnsuchtsfilm. Die Menschen sprechen nicht in CHUNG KUO.
Der Gast schaut zu, oft aus großer Distanz, und er denkt sich seine
Sache. Man hat den Eindruck, er habe sein eigenes Bild davon, sein Vor-urteil
nicht gefährden wollen. CHUNG KUO ist von einer ganz einzigartigen Scheu,
ja fast von einer Berührungsangst gekennzeichnet. Daß die Chinesen
dem gebannten Autor dann »tückische Absichten, gemeine Tricks« [Überschrift
der in »Ranmia Ribao« erschienenen Kritik. Verlag für fremdsprachige
Literatur, Peking 1974] vorwarfen,
entbehrt nicht einer gewissen Ironie; ihre Argumentation allerdings greift ins
Leere. Denn Antonioni formuliert noch und noch die Grenze des Verständnisses
und des Urteils, das noch halbwegs haltbar wäre. Er wird nicht müde,
zu betonen: Ich sehe jetzt zwar dieses (und gebe es zu Schauen), aber es könnte
etwas anderes bedeuten, als ich denke (und Ihr meinen könntet). Der Autor
spricht in seine Bilder hinein wie Chris Marker oder Godard in Deux
ou trois choses que je sais d’elle.
Kein Zuschauer wird nach CHUNG KUO so tun können, als kennte er China besser.
(Ganz im Gegensatz zu Joris Ivens’ Chinafilmen Wie
Yü Gung Berge versetzte,
die ganz darauf angelegt sind.) »China öffnet die Tore«, lautet
der Schlußkommentar, »aber es ist noch ein sehr abgelegenes Land
und zum großen Teil unbekannt. Wir haben hier gerade etwas mehr als einen
einzigen Blick hineinwerfen können. Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort:
Du kannst das Fell des Tigers zeichnen, nicht seine Knochen. Du kannst das Gesicht
eines Menschen zeichnen, aber nicht sein Herz.« [Antonioni.
CHUNG KUO, CINA. Einaudi, Turin 1974 "
Welch hübsche Formulierung des alten Problems! Das alte Problem des Fremdlings
und des (ihm) Fremden.
Allerdings faßt es Antonioni vielschichtiger
und genauer mit Fiktion. Der mittlerweile über sechzigjährige
Autor arbeitet ununterbrochen an solchen Erfindungen. Bereits nach BLOW-UP war
ein Drehbuch entstanden, dessen Realisierung in letzter Stunde vereitelt wurde
(Tecnicamente Dolce
[Antonioni. Tecinacemente dolce. Einaudi, Turin 1976]);
Teile davon gingen später in die Motivwelt von PROFESSIONE: REPORTER ein.
Einige der kürzlich unter dem Titel Quel
Bowling sul Tevere
[Antonioni.
Quel Bowling sul Tevere, Einaudi, Turin 1983]
veröffentlichten Prosatexte dürften ebenfalls auf die frühen
siebziger Jahre zurückgehen; leider sind sie nicht datiert. Sie weisen
einen Filmautor auf der ununterbrochenen Suche nach möglichst komplexen
Metaphern der menschlichen Existenz aus und geben darüber hinaus in dem
Stück Verso il Confine einen außergewöhnlich prägnanten
Hinweis auf einen imaginären Typus von Film, den Antonioni – auch infolge
der notorischen kommerziellen Regeln des Filmbusiness und des Fernsehens – nie
ganz hat durchsetzen lassen.
Weder ist der Text Verso
il Confine datiert, noch
wissen wir, ob die Ereignisse, die da erzählt werden, identisch sind mit
jenen eines Drehbuchs aus dem Jahr 1953, Stanotte
Hanno Sparato. Einen terminus post quem
gibt es für den Prosatext: BLOW-UP wird erwähnt; so muß der
Text nach 1966 entstanden oder überarbeitet worden sein. (Einiges spricht
für eine solche Überarbeitung.) Die Ereignisse gehen aufs Jahr 1945
zurück, als Antonioni, Guido Piovene und Antonio Pietrangeli zusammen mit
Visconti das Buch zu dem nie gedrehten Visconti-Projekt Il
Processo di Maria Tarnovska
schrieben. Zuerst schildert Antonioni die Situation: Visconti arbeitend hinter
verschlossener Tür, die anderen drei eher gelangweilt, Antonioni selbst
darauf bedacht, nicht in einen Trott zu verfallen. Deshalb macht er sich in
Meran, wo die vier schreiben, Freunde, zwei junge Frauen und einen amerikanischen
Hauptmann, mit denen er die Nächte bis zum Morgengrauen verbringt. All
das liegt, wenn Antonioni den Text schreibt, weit in der Vergangenheit zurück.
Nach der Schilderung der »objektiven«
Situation fährt Antonioni fort: »Was ich nun erzählen werde,
ist einer dieser Abende. Er ist mir in der Erinnerung geblieben, wie einem ein
Film in Erinnerung bleibt, diese Art von Film, die ich immer habe machen wollen
und nie können; kein Mechanismus von Ereignissen, sondern Augenblicke,
die die geheimen Spannungen dieser Ereignisse aussprechen, so wie die Blüten
jene des Baums aussprechen. Ich erzähle den Abend, weil er bestimmt war
von unsichtbaren Blicken. Kurz, eine nichtartikulierte Tragödie. Die Personen
einer Tragödie, die Orte, die Luft, die man atmet, sind manchmal fesselnder
als die Tragödie selbst, die Augenblicke, die ihr voraus gehen oder ihr
folgen, wenn der Akt geschehen ist und die Worte verstummen. Der tragische Akt
macht mir Mühe. Er ist abnormal, übertrieben, schamlos. Er sollte
sich nie in der Gegenwart von Zeugen ereignen. In der Wirklichkeit und in der
Fiktion schließt er mich aus.«
Nun beginnt die Erzählung, eine Erzählung in gegenwärtigen Momenten:
»Wir sind zu viert in einem Jeep, der der Grenze entgegen fährt …«
Im Südtirol, unter deutsch sprechenden Einheimischen, stellt sich eine
feindselige, unheilschwangere Stimmung ein. Schließlich fallen irgendwo
Schüsse, an einem Ort, wo die Vier es schwer hätten, ihre Anwesenheit
überzeugend zu erklären, wenn sie verhört würden. So fahren
sie weg. »Ich mache einen U-Turn, Kehrtwendung. Die Straße beginnt
abzufallen, und ich schalte den Motor aus. Dann auch die Scheinwerfer. Nun schlittern
wir auf dem unbestimmten Weiß der Straße, der Grenze entgegen, und
hören in der Stille den Schotter leise unter den Rädern knirschen.« Obwohl kein theoretischer Text, gibt meines Erachtens
Verso il Confine die ästhetischen Optionen Antonionis deutlicher
wieder als die seltenen theoretischen Äußerungen, und Rene Gilsons
Begriff »innerer Realismus« erscheint nur noch einmal als ein außerordentlich
tauglicher. Antonioni liest aus den (äußeren) Umständen die
innere Verfassung seiner Figuren und die Entwicklung dieser Verfassung. Genauer:
Er erfindet äußere Zeichen, um die inneren Vorgänge sichtbar
zu machen. Die Katastrophen inszeniert er – mit Ausnahme von IL GRIDO – nicht;
sie sind an den minuziös konstruierten Umständen abzulesen.
Das gilt wohl schon für jenen verschollenen
kurzen Film, den Antonioni zum Abschluß seiner kurzen Studien am Centro Sperimentale in Rom gedreht hat, wie Pierre Leprohon
einigermaßen glaubhaft berichtet
[Pierre Leprohon. Michelangelo Antonioni, Fischer Bücherei Nr. 571, 1964,
S.15], für diesen scheinbar
ununterbrochenen Kameraschwenk, an dessen Anfang und Ende die gleiche Frau ins
Bild kommt. Das gilt nun aber ganz besonders für PROFESSIONE: REPORTER,
der wohl der am meisten ausartikulierte Film Antonionis ist.
Augen-Blicke
der Wahrheit
Das, was in dieser Untersuchung »existentialistisches
Erlebnis« genannt wird, erscheint in den ersten zwanzig Minuten von PROFESSIONE:
REPORTER in blitzblanker Reinschrift, in stupender Klarheit und Geschlossenheit.
Antonionis Blick stiftet
in jeder Einstellung Sinn. Die Kamera
scheint nicht betroffen zu sein von der absurden Situation, die sie formuliert.
David Locke, der Reporter, gewohnt, sein
Publikum mit harten Facts und kompetenten Hintergrundinformationen zu versorgen,
ein Mann, der offenbar jahrelang auf allen Kontinenten »zuhause«
gewesen ist, erfährt sich – vielleicht erstmals, jedenfalls grundlegend
– als Fremdling. Es ist die Meursault-Geschichte, einmal mehr; und wahrscheinlich
transportiert sie auch Erfahrungen, die Antonioni in China selber gemacht hat.
Wir erinnern uns: »das Fell des Tigers, nicht die Knochen« und »das
Gesicht des Menschen, nicht sein Herz«. Das Ur-Erlebnis der Unzulänglichkeit
und Unzugänglichkeit instrumentiert Antonioni in der Wüste – die für
ihn noch immer keine abgegriffene Metapher ist – mit restloser Klarheit, schon
in der ersten Sequenz, David, der Engländer, sucht jemanden, der französisch
spricht, den er nach dem Weg zu dem Schneider fragen könnte, der ihn dann
auf den Weg zu jenen weisen könnte, die ihn interessieren. David kann sich
nur mit Zeichen verständigen, und der Knabe, der ihn schließlich
hinaus in die Wüste begleitet, kennt nur ein verständliches Wort:
»Stop, stop«. Der Reiter auf seinem Kamel, der sich ihm aus der
Tiefe der Wüste nähert, an ihm vorbeizieht, nimmt ihm nicht einmal
das Zeichen des Grußes ab. Die Entfernung von einem echten Leben macht
die Kamera deutlich, wenn sie sich – wie David – über eine Felskante schiebt
und hinunterblickt in ein Tal, in dem eine kleine Karawane von Widerstandskämpfern
lautlos vorbeizieht. Diese Menschen wollen offenbar etwas, David will nur ein
Bild. In diesem Moment bereits muß ihm die Sinnlosigkeit seiner Existenz
klar werden. Wenn er später den im Sand steckengebliebenen Land-Rover mit
den Füßen und mit der Sandschaufel traktiert, ist er an jenem Nullpunkt,
zutiefst in seiner Identitätskrise, von dem aus alles, was nun folgt, zu
erklären ist und erklärbar, möglich, sinnvoll wird.
Erstmals in seinem Werk holt Antonioni
auch bildlich in die Vorgeschichte aus. Es gibt Rückblenden. Die erste
ist in der Filmgeschichte absolut neuartig: Wenn David den Paß des Waffenhändlers
Robertson zu seinem eigenen macht, schwenkt die Kamera zum Fenster; gerahmt
sehen wir die beiden Männer im Gespräch, das – in der Gegenwart der
Szene – vom Tonband wiedergegeben wird. Eine andere Rückblende ist so konventionell,
wie man sie bei einem dermaßen raffinierten Regisseur weniger erwarten
würde: Von einigen Blättern eines Brautbouquets in München springt
sie in den Vorgarten eines Londoner Hauses, in dem David sich selber beim Laubverbrennen
zuschaut. Offenbar hat es Vorzeichen der Krise gegeben; das »existentialistische
Erlebnis« trifft David nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Weitere
»Rückblenden« bestätigen das. Die Hinterbliebenen (auch
dieses Wort müßte, wie man weiß, in Anführungsstrichen
geschrieben werden) führen sich in London Dokumente von Davids Arbeit vor.
Eines führt uns vor Augen, wie der Reporter die Lüge in vollem Bewußtsein
vermittelt hat; ein anderes zeigt seine Ohnmacht vor einem skandalösen
Ereignis, einer Exekution an irgendeinem Ende der Welt. David erleidet die Welt
nur noch; sie macht keinen Sinn, und er vermag keinen herzustellen.
David versucht nun, ein freies Subjekt
zu werden – zu leben, statt gelebt zu werden -, doch es muß bei dem einen
Schritt des formalen Identitätswechsels bleiben. Er ist nicht frei, auch
als Robertson nicht; immerhin führt er etwas zuende, was dieser begonnen
hat, und erleichtert stellt er fest, daß der andere »auf der richtigen
Seite« gestanden hat. Doch daß er sich auf einen zum Tode absteigenden
Lebenslauf eingelassen hat, weiß er bald. Er akzeptiert seinen Weg, dem
man Schicksal, Verhängnis, condition
humaine nennen mag. Gelingende
»Freiheit« sieht Antonioni wie schon bei Daria in ZABRISKIE POINT
und später bei Mavi und Ida in IDENTIFICAZIONE DI UNA DONNA nur bei der
jungen Frau – ragazza heißt sie im Drehbuch, sie braucht
keinen Namen -, die David auf seinem Weg in den Tod begleitet: eine symbolische
Figur, keine reale; das zeigt schon ihre Allgegenwart. Das Mädchen mit
dem kleinen Gepäck ist eine Art Projektion von Davids freiem Entschluß.
David hat die Rolle eines Täters,
eines Mannes angenommen, der Umgang mit der Gewalt hat, und diese Gewalt wird
ihn früher oder später einholen. Nicht vor ihr läuft er davon,
sondern vor seinem früheren falschen Einverständnis mit der Welt.
Jetzt, da er »zum Tod hin lebt«, wird er offen für viele Dinge,
für die Schönheiten des Palacio Guell oder eines spanischen Dorfs
beispielsweise.
Die Szene zwischen David und dem Mädchen
im Orangenhain – »Was zum Teufel suchst du überhaupt bei mir?« »Bei welchem mir.« »Dem einzigen,
das ich kenne. Es gibt keine anderen … Laß uns essen gehen. Das alte
Ich hat Hunger …« – diese Szene ist verhältnismäßig
konventionell, literarisch, rhetorisch. (Sie fehlt übrigens in gewissen
Fassungen.) Vielleicht war sie eine Idee von Mark Peploe.
Antonionis filmische Formulierung des gleichen Diskurses jedenfalls
leuchtet so ein, wie er es in dem oben zitierten Prosatext Verso
il Confine imaginiert
hat. David und das Mädchen fahren mit einem offenen amerikanischen Wagen
von Barcelona zum nächsten programmierten Rendez-vous Robinsons nach San
Ferdinando. Anstatt auf die Frage des Mädchens – »Wovor flüchtest
du eigentlich?« – zu antworten, sagt
er: Dreh dich um, schau.« Zwei Ansichten dieser
Situation folgen: Gegen die Fahrtrichtung, das heißt aus der Perspektive
des Mädchens, schließen sich die Alleebäume zu einer Mauer:
in der Fahrtrichtung fallen dieselben Bäume seitwärts aus dem Bild;
dieses Bild läßt Antonioni so lange stehen, bis sich der Sinn wort-
und fraglos mitteilt: ein Epigramm.
David sieht neu. Die berühmte siebenminütige
vorletzte EinsteIlung des Films verlängert einen »Gnadenmoment«
über den Tod des Protagonisten hinaus. Zunächst erscheint – von der
Position Davids, vom Bett im »Hotel de la Gloria« aus gesehen –
das Fenstergitter wie ein Millimeterpapier, auf welchem sich die Ereignisse
des Dorfes Oruna in Schönheit abzeichnen; wenn die Kamera dieses Raster
durchstößt, werden David und sein Tod marginal; die Dinge – Menschen,
ein Hund, ein Fahrschulauto, die Mauer der Arena, der Staub, die Töne –
scheinen auf in absichtsloser und sachlicher Schönheit, in die schließlich
auch die nahenden Killer eingeschlossen werden. Die vorletzte Einstellung läßt
sich zwanglos mit der letzten Sequenz von L’ECLISSE vergleichen. Die letzte
Einstellung schließlich wiederholt in der räumlichen Aufteilung jene
von L’AVVENTURA. Es sind Bilder, die nichts mehr gemein haben mit jenen, die
David Locke als Reporter gemacht hat. Keine Zweckbestimmung vergewaltigt die
Dinge und liefert sie dem Zuschauer aus. Die Welt ist weder gut noch böse;
sie ist Das ist der »Rausch der Materie«;
eine Epiphanie.
Die außergewöhnlich dichten
und völlig durchsichtigen Bilder und Bildkompositionen, die nicht erst
am Schluß, sondern während dem ganzen Film wie eigentliche Naturereignisse
geschehen, machen verbindlichere Aussagen als die
zum Teil wieder recht lehrhaften, bedeutungsschweren Dialoge, die auch in PROFESSIONE:
REPORTER nicht fehlen. Die Blindenparabel zum Beispiel, die David im Hotel de
la Gloria erzählt, ist viel plumper als der lange Augenblick, in dem sich
der Film von der romanhaften Story emanzipiert, in eines dieser makellosen »Gedichte«,
die Antonionis Filme unverwechselbar machen. Nicht die Geschichten, die er erzählt,
sind das Faszinosum, sondern diese unnachahmliche Fähigkeit, Innerliches
– Bewußtsein und Befindlichkeit – in gewissen Momenten restlos nach außen
zu kehren, erfahrbar zu machen. (An den beiden Schlußeinstellungen von
PROFFSSIONE: REPORTER haben er und sein Team elf Tage gearbeitet. Das ist nicht
nur eine Kuriosität.)
Der ganze Antonioni ist aufgehoben in
längeren oder kürzeren filmischen Ereignissen. Von ihnen war in dieser
Untersuchung vor allem die Rede. Man könnte sie »lebende Bilder«
nennen, »Kristallisationen« oder »Konzentrationen« ; wir haben vom »Rausch der Materie«,
von Epiphanien, von »Gedichten« gesprochen, in Erinnerung an die
Romantechnik der deutschen Romantiker. Diese Ereignisse machen darauf aufmerksam,
daß die Erzählung, der epische Stil, nur notdürftig mit
der Einbildungskraft des Autors in Einklang gebracht werden kann. Es versteht
sich, daß das Erzählen da, wo ein übergreifender Sinn abhanden
gekommen ist oder nicht existiert, schwierig, ja unadäquat wird oder ist.
Was einem in der Erinnerung bleibt bei
Antonioni, sind mehr die – in der vollen filmischen Gegenwart sich verwirklichenden
– Stillstände als die Geschichten. Wir haben da und dort auf die Geschichten
zurückgegriffen, weil man Kinofilme ohne Geschichten nicht machen und deshalb
auch ohne Erzählung kaum über Kinofilme sprechen kann. Wie soll man
anders über die Gravitationszentren von Antonionis Filmen sprechen? Immer
wieder muß in (nach)erzählender Weise an jene Punkte hingeführt
werden, wo Antonionis existentialistische Poesie »explodiert«, wo
sich das umfassende Programm real, das heißt mit filmischen Mitteln, auf
der Leinwand äußert. (Diese »Realität« hat nichts
mit Beobachtung und Wiedergabe des Alltags, sondern mit Konkretisierung der
existentialistischen Befindlichkeit zu tun. Es ist die reale Projektion einer
spezifischen Innerlichkeit. Fast plakativ wird das Programm in der Farbgebung
von IL DESERTO ROSSO und im Spätwerk in IL MISTERO DI OBERWALD, wo die
Außenwelt in das Licht und die Farben der Gefühle des Autors und
seiner Geschöpfe getaucht wird.)
An sich müßte auch das umgekehrte
Verfahren möglich sein, wenn man über Antonionis Filme spricht: Aus
den filmischen Kondensationen müßte auch immer auf das umfassende
– gefühlte und gedachte – Programm (die Weltanschauung, um ein antiquiertes
Wort zu gebrauchen) Antonionis geschlossen werden können. Vielleicht wäre
dies sogar die einzige kohärente Art, über dieses Lebenswerk zu schreiben.
Daß Antonioni selbst seine Welt nicht in epischen, romanhaften Geschichten
entwirft, daß sich im
Grunde das Geschichtenerzählen
und seine Gesetzmäßigkeiten mit Antonionis philosophischen Optionen
gar nicht vertragen, hat er selbst in dem oben bereits angeführten Text
Verso il Confine angetönt. Und wir führen einen
anderen kleinen Text aus dem Jahr von L’ECLISSE als Bestätigung noch an:
»Wie ein Regisseur >sieht< «. Darin berichtet Antonioni von
einem, der vor der Promenade des Anglais in Nizza ertrinkt, von zwei Kindern,
die ihren kleinen Machtkampf vor dem Toten und mit dem Toten durchspielen, von
einem schwarzen Bademeister, von der Polizei usf. (Wir nehmen an, daß
das Ereignis selbst wieder auf jenes entscheidende Jahr 1942 zurückgeht,
da dem Autor in einer Buchhandlung Nizzas »Der Fremde« von Albert
Camus in die Hand gefallen ist.)
Auf die Schilderung des Vorgangs läßt
Antonioni seine ästhetischen Reflexionen folgen: »Nehmen wir an,
ich müßte jetzt ein Stück Film schreiben auf der Basis dieses
Ereignisses und dieses Gemütszustands«, schreibt er und kommt zum
Schluß, er würde das »Ereignis« weglassen, würde
nur die Umstände heraufbeschwören. »In diesem weißen Quai,
in der Figur des schwarzen Bademeisters mit seinem weißen Leibchen, in
dieser Stille liegt für mich eine außerordentliche Kraft. Das Ereignis
bringt da nichts dazu. Es ist zuviel. Ich erinnere mich, daß es mich zerstreute,
als es passierte. Der Tote wirkte als Ablenkung in einem Zustand höchster
Spannung. Die wahre Leere, das Malaise, die Bedrängnis, la
nausee (französisch
im Original, der Verf.), die Lähmung aller Gefühle und gerechtfertigter
Wünsche, die Angst, die Wut, die habe ich empfunden, als ich aus dem Negresco
trat und mich in diesem Weiß fand, in diesem Nichts, das Form annahm rund
um einen schwarzen Punkt herum.« [La
Stampa, Turin, 6. Juni 1963]
Die Welt von Antonionis Filmen ist die
Projektion des Autors und der Figuren, die ihm gleichen. Ähnlichkeiten
mit den alltäglichen Erscheinungen der Gegenwart sind nicht nur ein Preis,
den Antonioni zahlt. Die Innerlichkeit ist von dieser Gegenwart geformt und
wirft sich auf sie zurück. Nur einmal hat Antonioni seinen Figuren ein
historisches Kostüm übergezogen, in IL MISTERO DI OBERWALD. Auch deshalb
wirkt (auf mich) dieser Film als ein Fremdkörper in Antonionis Gesamtwerk
und versuche ich, ihn als eine »formalistische« Auseinandersetzung
mit den neuen technischen Mitteln zu begreifen, mit Mitteln, die die Projektion
noch einmal entgrenzen könnten. Wenn man einmal von IL MISTERO DI OBERWALD
absehen darf, hat Antonioni konsequenter als alle Großen des modernen
Films, selbst als Jean-Luc Godard, der in Les
Carabiniers, Alphaville
und Anticipation Kostüme gewählt hat, aus der
Gegenwart und in die Gegenwart gearbeitet.
Serenità
Trägt Antonionis Alterswerk IDENTIFICAZIONE
DI UNA DONNA etwas Neues zu unserem Befund bei? Es ist gesagt worden, daß
die message dieses Films der Antonionische Stil sei,
eine etwas saloppe Formulierung, die dennoch einiges für sich hat, weil
sie der Geschichte des Regisseurs Niccolò Farra, der sich offensichtlich
in einem schöpferischen Engpaß befindet und von Frauen retten lassen
will, jedoch nicht zum Ziel kommt, nicht zu große Bedeutung beimißt.
In dem Film jagen sich die Antonionischen Kondensationen, die wir »Gedichte«
etc. genannt haben. Einige haben die Kraft und das Gewicht der stärksten
in Antonionis Werk, andere – beispielsweise die erste Einstellung, die mit einem
Taschenspielertrick ein Labyrinth auf die Leinwand wirft – sind eher leichtgewichtig,
eine Art Medaillons. Sollte sich gar eine Altersheiterkeit,
die Serenità eingestellt haben? Es ist jedenfalls das erste Mal, daß
man einen Anflug von Komik und Selbstironie feststellt, und diese könnten
dann das »Neue« sein, das der Zuschauer auch dann erwartet, wenn
ein Autor ein Leben lang immer das selbe gesagt
hat. Die Verlorenheit, die Angst, die Beengung, die Kommunikationslosigkeit,
das »mal de vivre«, die Hoffnung in die Jugend, in die Frauen artikulieren
sich wieder in einer Reihe von unverwechselbaren perfekten Formulierungen; die
lange Nebelszene ist nur eine unter vielen, der Film bewegt sich geradezu mittels
dieser Formulierungen, zu denen auch die Liebesszenen gehören. Daß
einige dieser Ballungen schon in die Nähe des Selbstzitats kommen, darf
nicht erstaunen. Antonioni stellt einen dreißig Jahre jüngeren Kollegen
in den Mittelpunkt. Natürlich liegt es nahe, in Niccolò Farra auch
wieder Ansätze zu einem Selbstbildnis des Autors zu sehen. Niccolò
ist Antonioni ebenso nahe wie der Architekt in L’AVVENTURA, der Schriftsteller
in LA NOTTE, der Fotograf von BLOW-UP, der Fernsehreporter von PROFESSIONE:
REPORTER. Doch an einigen Stellen, vor allem am Schluß, wenn Niccolò
seinen Science Fiction Film imaginiert, kommt eine heitere Versöhnlichkeit
auf. (Hugo von Hofmannsthal hat seinen Schwierigen ein Lustspiel genannt.
Eine unstatthafte Assoziation?) Das Lebenswerk Antonionis geht noch einmal einen
Schritt auf jene Entkrampfung und Freiheit zu, die auf das »existentialistische
Erlebnis«, so wie er es versteht, folgen müssen.
Das amerikanische Filmprojekt, als dessen
Skizze man wohl den ein Dutzend Druckseiten umfassenden Text QUATTRO UOMINI
IN MARE [in Quel Bowling
sul Tevere, S.63 ff.] betrachten darf,
ist geplatzt. Antonioni ist auf der Mostra dell Cinema in Venedig 1984 mit einem
Goldenen Löwen für das Lebenswerk ausgezeichnet worden, nachdem ihm
Cannes ein Jahr zuvor eine ähnliche Auszeichnung verliehen hatte. In Venedig
stellte der Filmautor unter dem Titel Le
Montagne Incantate (Die
verzauberten Berge oder Die Zauberberge) erstmals seine Bilder aus, Miniaturen
von menschenleeren Gebirgslandschaften, die der Betrachter nur mit der Lupe
oder in extremer Vergrößerung (wie in der Ausstellung geschehen)
entziffern kann. Ist das Werk Antonionis abgeschlossen? Zeichen dafür sind
jedenfalls gesetzt. Das deutlichste scheint mir die leichte, heitere Distanzierung
von Niccolò zu sein. Antonioni nimmt nichts zurück von seinem Befund
und von seiner Ästhetik der Projektion, ja er formuliert – in der Nebelszene
– noch einmal genauer alle Konstanten seines Weltbildes, doch er findet zu einem
Achselzucken. Was sagt Niccolò am Schluß, wenn er Mavi und Ida
verloren hat, zu Bildern eines Science Fiction Films? »Am Tage, da es
dem Menschen geglückt sein wird zu begreifen, wie die Materie im Innern
der Sonne verteilt ist, ihre Dynamik, wird er vielleicht auch begreifen, wie
das ganze Universum aufgebaut ist … und den Grund so vieler Dinge.«
»Und dann?« fragt – in Niccolòs
Imagination – der Neffe.
Das tönt in der Tat wie ein fröhlicher
Abschied, eine ironische Schlußbemerkung, der spielerische Ansatz einer
Kosmologie. Aber offenbar ist es nichts von dem gewesen. Es gibt keine endgültigen
Sätze, es gibt nur Änderungen, Mutationen. Antonioni hat es sich nicht
nehmen lassen, ein Video Clip für Gianna Nannini zu machen (mit Nebel!)
[1984 FOTOROMANZA
– Regie., Buch, Schnitt: Michelangelo Antonioni; Kamera. (MAZ) 1 Zoll): Luciano
Tovoli; Musik.: Giana Nannini; Produzent.: Maurizio La Pira; OL.: 4′, 30«;
Studios: Eta Beta (Rom).] und im
Sommer 1984 soll er mit den Dreharbeiten für einen neuen Spielfilm begonnen
haben. IDENTIFICAZIONE DI UNA DONNA hat die Gefahr aufgezeigt, in die Alterswerke
geraten: das Selbstzitat. Möglicherweise hat Antonioni alles gesagt…
Einmal hat Antonioni, der hochsensible
und gebildete Bürgersohn aus Ferrara zu wissen geglaubt, daß Kommunikation
und Sinn erst wieder hergestellt werden könnten nach der Zerstörung
der alten, ausgehöhlten Sinnzusammenhänge und Kommunikationsformen.
Wir haben zu zeigen versucht, wie er in den späten sechziger und den frühen
siebziger Jahren ein Parteigänger kulturrevolutionärer Kräfte
hat sein wollen, und wie er dennoch nicht ganz auf die rhetorischen Formen des
Kinos hat verzichten können. Doch er hat den filmischen Bildern und Tönen
– vor allem an den Stellen, die wir als »Gedichte« bezeichnet haben
– eine sozusagen jungfräuliche, eine unschuldige Kraft gegeben, daß
man seine Unterwerfung unter gewisse Gesetze der Kinofilm-Konvention nicht zu
bedauern braucht. (Hätte sich Antonioni nicht unterworfen, gäbe es
diese großen Momente reinen Films nicht.) Die »Gedichte« scheinen
auf als reine Inkarnation einer modernen Einbildungskraft in einem von Konventionen
gefesselten Medium, als Emanzipationsakte eines glücklichen Sisyphus.
Martin Schaub
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.
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