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Die heutige Krise

J.L.Godard fragt M.Antonioni

 

Godard: Ihre drei vorangegangenen Filme L’AVVENTURA, LA NOTTE, L’ECLISSE, vermittelten uns den Eindruck einer geraden Linie, die sich fortbewegt, die sucht; und jetzt sind Sie an einer neuen Stelle angelangt, die vielleicht die rote Wüste heißt, die vielleicht für diese Frau eine Wüste ist, die aber für Sie im Gegenteil etwas Umfassenderes und Vollständigeres ist: ein Film über die totale Welt, und nicht nur über die Welt von heute …

 

Antonioni: Es fällt mir sehr schwer, jetzt über diesen Film zu sprechen. Er ist noch zu neu. Ich bin noch zu sehr mit den »Intentionen« liiert, die mich veranlaßt haben, ihn zu machen. Ich habe weder die nötige Klarheit noch Unbefangenheit, um ihn beurteilen zu können. Ich glaube trotzdem sagen zu können, daß es sich diesmal nicht um einen Film über die Gefühle handelt. Die Resultate (seien sie gut oder schlecht, schön oder häßlich), die ich in den vorangegangenen Filmen erreicht habe, sind hier überholt, hinfällig. Die Absicht ist eine ganz andere. Bisher waren es die Beziehungen der Personen untereinander, die mich interessierten. Hier wird die Hauptfigur ebensosehr mit der sozialen Umwelt konfrontiert, was bewirkt, daß ich meine Geschichte auf eine völlig andere Art behandle.

Es ist zu simpel, wie viele es getan haben, zu sagen, daß ich diese unmenschliche, industrialisierte Welt anklage, wo das Individuum überfahren und in die Neurose getrieben wird. Meine Absicht war im Gegenteil (weiß man auch oft sehr gut, von wo man ausgeht, so aber keineswegs, wo man hingelangen wird), die Schönheit dieser Welt auszudrücken, in der sogar die Fabriken schön sein können … Die Linien, die Formen der Fabriken und ihrer Kamine sind vielleicht schöner als eine Baumreihe, die das Auge schon zu oft gesehen hat. Es ist eine reiche Welt, die lebendig und nützlich ist. Ich lege Wert darauf festzustellen, daß für mich diese Art von Neurose, die man in DESERTO ROSSO sieht, vor allem eine Frage der Anpassung ist. Es gibt Leute, die sich anpassen, und andere, die es noch nicht getan haben, da sie noch zu sehr mit Strukturen oder Lebensrhythmen verbunden sind, die jetzt überholt sind. Das ist der Fall von Giuliana. Die Heftigkeit der Divergenz, des Gefälles zwischen ihrer Sensibilität, ihrer Intelligenz, ihrer Psychologie und dem Rhythmus, der ihr aufgezwungen wird, führt die Persönlichkeitskrise herbei. Es ist eine Krise, die nicht nur die oberflächlichen Beziehungen mit der Welt betrifft, ihre Wahrnehmung der Geräusche, der Farben, der kalten Personen, die sie umgeben, sondern auch ihr Wertsystem (Erziehung, Moral, Glaube), das nicht mehr gültig ist und sie nicht mehr trägt. Sie befindet sich also in der Notwendigkeit, sich als Frau vollständig zu erneuern. Das ist es, was die Ärzte ihr raten und was zu tun sie sich bemüht. Der Film ist, in einem gewissen Sinn, die Geschichte dieses Bemühens.

 

Wie fügt sich demnach die Episode der Geschichte ein, die sie dem kleinen Jungen erzählt?

 

Da ist eine Frau und ein krankes Kind. Die Mutter muß dem Kind ein Märchen erzählen, aber die, die sie weiß, kennt es schon alle. Sie muß also eines erfinden. Bei der vorgegebenen Psychologie von Giuliana scheint es mir natürlich, daß für sie diese Geschichte – unbewußt – eine Flucht wird vor der Wirklichkeit, die sie umgibt, in eine Welt, wo die Farben der Natur angehören: es ist das blaue Meer, der rosa Sand. Selbst die Felsen nehmen menschliche Gestalt an, umarmen sie und singen sanft.

Erinnern Sie sich an die Szene im Zimmer, mit Corrado? Sie sagt, an die Wand gelehnt: »Weißt du, was ich möchte? … Alle, die mich geliebt haben … sie alle hier haben, um mich herum, wie eine Mauer Tatsächlich hat sie es nötig, daß sie ihr helfen zu leben, weil sie Angst hat, daß es ihr allein nicht gelingt.

 

Die moderne Welt enthüllt also nur eine ältere und tiefere Neurose?

 

Die Umwelt, in der Giuliana lebt, beschleunigt die Persönlichkeitskrise, aber natürlich muß die Person in sich die Anlagen tragen, die dieser Krise entgegenkommen. Es ist nicht leicht, die Gründe und die Ursprünge der Neurose zu bestimmen; sie manifestiert sich in derart verschiedenen Formen und gelegentlich an der Grenze der Schizophrenie, deren Symptome oft den neurotischen Symptomen gleichen. Aber erst durch eine solche Erkrankung der Person gelingt es einem, die Situation einzukreisen. Man hat mir vorgeworfen, einen pathologischen Fall gewählt zu haben. Aber wenn ich eine normal angepaßte Frau genommen hätte, hätte es kein Drama mehr gegeben; das Drama ist bei denen, die sich nicht anpassen.

 

Gibt es nicht bereits Spuren dieser Person in jener von L’ECLISSE ?

 

Die Person Vittorias in L’ECLISSE ist das Gegenteil von der Giulianas. In L’ECLISSE ist Vittoria ein ruhiges und ausgeglichenes Mädchen, das über das, was es tut, nachdenkt. Es gibt in ihr kein neurotisches Element. Die Krise in L’ECLISSE ist eine Gefühlskrise. In DESERTO ROSO sind die Gefühle eine feststehende Tatsache. Übrigens sind die Beziehungen zwischen Giuliana und ihrem Mann normal. Wenn man sie fragte: »Liebst du deinen Mann, würde sie mit ja antworten. Bis zu ihrem Selbstmordversuch ist die Krise untergründig, ist sie nicht sichtbar.

Ich lege Wert darauf zu unterstreichen, daß es nicht die Umwelt ist, die die Krise entstehen Iäßt: sie bringt sie lediglich zum Ausdruck. Man kann nun denken, daß es außerhalb dieser Umwelt keine Krise gibt. Aber das ist nicht wahr. Unser Leben, selbst wenn wir uns dessen nicht bewußt werden, wird von der »Industrie« beherrscht. Und unter »Industrie« muß man nicht nur Fabriken verstehen, sondern auch und vor allem Produkte. Diese Produkte sind überall, sie dringen in unsere Häuser ein, hergestellt aus Plastik oder anderen vor noch kaum ein paar Jahren unbekannten Materialien, sie haben lebhafte Farben, sie finden uns, wo wir auch sind. Mit Hilfe einer Reklame, die mehr und mehr unserer Psychologie und unserem Unterbewußtsein Rechnung trägt, verfolgen sie uns. Ich kann das sagen: indem ich die Geschichte von DESERTO ROSSO in eine Welt von Fabriken gelegt habe, bin ich an die Quelle jener Art von Krise zurückgestiegen, die wie ein Fluß tausend Zuflüsse erhält, sich in tausend Arme teilt, um schließlich alles zu überschwemmen und sich überall auszubreiten.

 

Aber ist diese Schönheit der modernen Welt nicht auch die Lösung der psychologischen Schwierigkeiten der Person, zeigt sie nicht ihre Eitelkeit?

 

Man darf das Drama der so veranlagten Menschen nicht unterschätzen. Ohne Drama gibt es auch keine Menschen mehr, vielleicht. Ich glaube auch nicht daran, daß die Schönheit der modernen Welt allein unsere Dramen lösen kann. Ich glaube hingegen, daß wir, sind wir einmal den neuen Techniken dieses Lebens angepaßt, vielleicht neue Lösungen für unsere Probleme finden werden.

Aber warum lassen Sie mich von diesen Dingen sprechen? Ich bin kein Philosoph, und all diese Überlegungen haben nichts zu tun mit der »Erfindung« eines Films.

 

Zum Beispiel, übt die Gegenwart des Roboters im Zimmer des kleinen Jungen einen guten oder einen schlechten Einfluß aus?

 

Meiner Meinung nach einen guten. Weil das Kind, wenn es mit dieser Art von Spielzeugen spielt, sich sehr gut in dem Leben, das es erwartet, anpassen wird. Aber da kommen wir wieder auf unsere Unterhaltung von vorhin zurück. Die Spielzeuge werden von der Industrie produziert, die auf diese Art selbst die Erziehung der Kinder beeinflußt.

Ich bin noch bestürzt von einer Unterhaltung, die ich mit einem Professor für Kybernetik der Universität Mailand, Silvio Ceccato, gehabt habe, den die Amerikaner für eine Art Einstein halten. Er ist ein unwahrscheinlicher Mann, der eine Maschine erfunden hat, die schaut und beschreibt, eine Maschine, die einen Wagen lenken kann, die eine Reportage vom ästhetischen oder ethischen oder journalistischen Standpunkt aus machen kann usw. usw. Und es handelt sich dabei nicht um Fernsehen: es ist ein Elektronengehirn. Dieser Mann, der übrigens eine außerordentliche Luzidität besitzt, sprach im Laufe unserer Unterhaltung kein technisches Wort aus, durch das ich Gefahr gelaufen wäre, ihn nicht zu verstehen. Nun gut, ich bin verrückt geworden. Nach einem Augenblick verstand ich nichts mehr von dem, was er sagte. Er bemühte sich, meine Sprache zu gebrauchen, aber er befand sich in einer anderen Welt. Bei ihm war ein Mädchen von 24-25 Jahren, hübsch, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, seine Sekretärin. Sie, sie verstand ihn ausgezeichnet. In Italien sind es im allgemeinen sehr junge und sehr einfache Mädchen, die nur ein einfaches Diplom haben, welche sich mit der Aufstellung der Programme für Elektronengehirne beschäftigen. Für sie ist es sehr einfach und sehr leicht, eine Überlegung für ein Elektronengehirn anzustellen, während es überhaupt nicht leicht ist, wenigstens für mich.

Ein anderer Wissenschaftler, Robert M. Stewart, hat mich vor sechs Monaten in Rom besucht. Er hat ein chemisches Gehirn erfunden und begab sich nach Neapel auf einen kybernetischen Kongreß, um über seine Entdeckung zu berichten, die eine der außergewöhnlichsten Entdeckungen der Welt ist. Es ist ein ganz kleiner Kasten, der auf Röhren montiert ist; es handelt sich um Zellen, in deren Zusammensetzung Gold gelangt, vermischt mit anderen Substanzen. Sie leben in einer chemischen Flüssigkeit, und sie leben ein autonomes Leben, sie haben Reaktionen: wenn Sie in das Zimmer treten, nehmen die Zellen eine gewisse Form an, und wenn ich eintrete, nehmen sie eine andere Form an usw. In diesem kleinen Kasten sind nur einige Millionen Zellen, aber davon ausgehend kann es einem gelingen, das menschliche Gehirn neu zu schaffen. Dieser Wissenschaftler nährt sie, läßt sie schlafen … Er sprach zu mir von all dem, das sehr klar war, aber so unglaublich, daß ich von einem gewissen Augenblick an nicht mehr zu folgen vermochte.

Hingegen wird das Kind, das von seinem frühesten Alter an mit einem Roboter spielt, sehr gut verstehen, es wird keine Schwierigkeiten haben, wenn es Lust hat, mit einer Rakete ins Weltall zu gehen.

Ich betrachte all dies mit viel Neid, und ich möchte schon in dieser Welt sein. Unglücklicherweise sind wir noch nicht in ihr, und das ist ein Drama für mehrere Generationen wie die meine, die Ihre, jener der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ich glaube, daß es in den kommenden Jahren sehr heftige Umwälzungen geben wird, in der Welt wie im Innern des Individuums. Die heutige Krise kommt von dieser geistigen Verwirrung, von dieser Verwirrung des Gewissens, des Glaubens, der Politik; hier gibt es ebenso viele Symptome kommender Umwälzungen. So habe ich mir gesagt: »Was erzählt man heute im Kino Und ich wollte gerne eine Geschichte erzählen, die auf diesen Beweggründen beruht, von denen ich gesprochen habe.

 

Die Helden dieses Films sind immerhin dieser Mentalität integriert; es sind Ingenieure, sie haben teil an dieser Welt …

 

Nicht alle. Die Person von Richard Harris ist eine beinahe romantische Person, die beabsichtigt, nach Patagonien zu fliehen, und die keine Ahnung davon hat, was man tun muß. Er flieht und glaubt so, das Problem seines Lebens zu lösen. Aber es ist in ihm und nicht außerhalb seiner selbst. Das ist um so wahrer, als es nur des Zusammentreffens mit einer Frau bedarf, um eine Krise in ihm hervorzurufen, und er weiß nicht mehr, ob er abreisen wird oder nicht; diese Geschichte bringt ihn aus der Fassung. Ich möchte auf ein Moment des Films hinweisen, das eine Anklage gegen die alte Welt ist: als diese Frau in einer Krise jemanden braucht, der ihr hilft, findet sie einen Mann, der von ihr und dieser Krise profitiert. Sie findet sich mit den alten Dingen konfrontiert, und es sind die alten Dinge, die sie schütteln und mit sich reißen. Wenn sie jemanden wie ihren Mann getroffen hätte, so hätte dieser anders gehandelt; er hätte zunächst versucht, sie zu pflegen, dann nachher, vielleicht … Während es hier ihre eigene Welt ist, die sie verrät.

 

Wird sie nach Ende des Films eine Person wie ihr Mann werden?

 

Ich glaube, daß sie nach den Anstrengungen, die sie macht, um eine Verbindung mit der Realität zu finden, zuletzt einen Kompromiß findet. Neurotiker haben Krisen, aber auch Augenblicke der Klarheit, die während ihres ganzen Lebens andauern können. Sie findet vielleicht einen Kompromiß, aber die Neurose bleibt in ihr. Ich glaube, die Vorstellung dieser Kontinuität in der Krankheit mit diesem ein wenig verschwommenen Bild gegeben zu haben: sie ist in einer statischen Phase. Was wird aus ihr? Man müßte einen anderen Film machen, um es zu erfahren.

 

Glauben Sie, daß die Selbsterkenntnis dieser neuen Welt Rückwirkungen auf die Ästhetik, auf die Konzeption des Künstlers hat?

 

Ja, ich glaube es. Das ändert die Art zu sehen, zu denken: alles ändert sich. Die Pop-Art zeigt, daß man etwas anderes sucht. Man darf die Pop-Art nicht unterschätzen. Das ist eine »ironische« Bewegung, und diese bewußte Ironie ist sehr wichtig. Die Pop-Art-Maler wissen sehr gut, daß sie Dinge machen, deren ästhetischer Wert noch nicht reif ist – außer Rauschenberg, der mehr Maler als die anderen ist … Wenn auch »la maschine à écrire molle« von Oldenburg sehr schön ist … Ich liebe ihn sehr. Ich glaube, daß es gut ist, daß all das in Erscheinung tritt. Das kann nur den Prozeß der Infragestellung beschleunigen.

 

Aber hat der Wissenschaftler das gleiche Bewußtsein wie wir? Denkt er wie wir hinsichtlich der Welt?

 

Ich habe das Stewart gefragt, den Erfinder des chemischen Gehirns. Er hat mir geantwortet, daß seine so besondere Arbeit ohne jeden Zweifel eine Resonanz auf sein Privatleben ausübt, bis in seine Beziehungen zu seiner Familie.

 

Und soll man die Gefühle bewahren?

 

Welche Frage! Glauben Sie, daß es einfach ist, darauf zu antworten? Alles, was ich zu den Gefühlen sagen kann, ist, daß sie sich ändern müssen. »Müssen«, das ist nicht das, was ich sagen will. Sie ändern sich. Sie haben sich bereits geändert.

 

In den Science-Fiction-Romanen gibt es nie Künstler, Poeten …

 

Ja, das ist seltsam. Vielleicht denken sie, daß man auf die Kunst verzichten kann. Vielleicht sind wir die letzten, die Dinge schaffen, die dem Anschein nach so zwecklos sind wie Kunstwerke.

 

Dieser Text aus Cahiers du Cinema, Nr. 160, November 1964 ist zuerst in deutscher Sprache erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1987.

Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.

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