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Trip – Remix
your Experience
Der Film zelebriert den Schlüssel
des Kinos: das Eintauchen in eine (Kunst-) Welt durch Klang und Bild. Traditionell
stehen beide Medienelemente in engem Sinnzusammenhang. Geräusche entsprechen
dabei bestimmten Geschehnissen der Bildsequenzen; der Filmmusik fällt im
Mainstream-Kino die Aufgabe zu, die in Handlung, Dialog oder Bildkomposition
evozierte Gefühlsstimmung zu intensivieren. „TRIP“ stellt solche Rezeptionsmuster
in Frage und ruft zu neuen Wahrnehmungsformen auf. Die Tonspur besteht aus einem
74-minütigen Konzeptalbum, das an die progressive Rock-Musik der 1970er-Jahre
anknüpft. Im Stil von ausufernden psychedelischen Klangeskapaden à
la Pink Floyd oder dem barock-ornamentierten Pathos der Gruppe Yes transportieren
die Komponisten Bernt Köhler-Adams und Frank Otto diesen Sound mit orientalischen
Vokalisen, Instrumenten der Ethno-Musik und Anleihen beim Free Jazz ins 21.
Jahrhundert. Den Endpunkt bildet eine Reverenz an die bombastische Spätromantik,
wenn die Instrumentalisten Maurice Ravels „Bolero“ mit den Mitteln der elektronischen
Musik als Groteske interpretieren. Die klanggewaltige Reise offenbart sich im
Kinoraum als dreidimensionales Erlebnis, das die Möglichkeiten des digitalen
Surround-Sounds ausschöpft. Das visuelle Pendant gleicht zunächst
einem Overkill an Bildern. Im Zentrum laufen vier 74-minütige Experimentalfilme
als Splitscreen gleichzeitig ab. Es handelt sich im einzelnen
um „seamusic“ von Frank Schweikert. Hier thematisieren die Sequenzen Ozeane
und die Unterwasserwelt. „track 2“ ist ein Kaleidoskop aus 30 Tagträumen,
die als Miniaturen das rege Leben in der Berliner U-Bahn einfangen. In „playing
planet“ von Eliane Koller und Arian Bethusy-Huc wechseln sich Aufnahmen von
brasilianischen Voodoo-Sessions mit Bildern eines Fallschirmsprungs und politischen
Aufständen ab. „artwork“ zeigt, wie der österreichische Maler und
Musiker Dragan Reiser in einem traumwandlerischen Tanz mit seinen Farbrollen
ein riesiges von Frank Otto gemaltes fantastisches Bodengemälde über
H.C. Andersens Märchen von der kleinen Meerjungfrau freilegt. Diese vier
zentralen Bildelemente ergänzen rechts und links jeweils sechs vertikal
angeordnete kleinere Videofenster, um die Entstehung der vier Hauptfilme zu
dokumentieren.
Der Untertitel „Remix your Experience“
deutet darauf hin, dass „TRIP“ einen starken Angebotscharakter für sich
in Anspruch nimmt. Es obliegt dem Zuschauer, sich auf eine der Geschichten zu
konzentrieren oder die Aufmerksamkeit breit zu streuen, um sich von der Musik
zu einem eigenen Film im Kopf inspirieren zu lassen. Die Gleichzeitigkeit der
heterogenen Elemente wirkt zunächst überwältigend; doch auch
die Kapitulation und das Schließen der Augen ist als Option des „Remixens“
im Programm der Produzenten eingeplant. Die audiovisuelle Massierung entstand
ursprünglich als Installation: „TRIP“ feierte im Rahmen der Expo 2005 in
Aichi/Japan seine Weltpremiere und wurde im Deutschen Pavillon auf vier separaten
Leinwänden aufgeführt. Wie bei einem Happening konnten sich die Besucher
frei bewegen, um sich auch räumlich auf die einzelnen Filme einzulassen.
Die neu erstellte 35mm-Splitscreen-Version bildet sozusagen die Königsdisziplin
der Beschäftigung mit den verschiedenen Versionen. Für Nicht-Initiierte
dürfte sie Ermüdungserscheinungen hervorrufen, da es fast unmöglich
ist, sich bei den 16 zumeist schnell geschnittenen Filmangeboten auf eine Geschichte
einzulassen. Eine zukünftige DVD-Version soll die einzelnen Elemente wieder
auseinander dividieren. So kann auch der Zugang auf die audiovisuelle Bündelung
erleichtert werden. „TRIP“ nimmt in der derzeitigen Kinofilmlandschaft eine
Sonderstellung ein. Da der Film keine visuelle Dramaturgie vorgibt, setzt er
auf die Imaginationskraft der Zuschauer. Der Bruch mit traditionellen Seh- und
Hörgewohnheiten geschieht keineswegs behutsam, sondern überschreitet
geradezu brutal die Grenzen sinnlicher Aufnahmekapazitäten. Die Produzenten
knüpfen nach eigenen Angaben an die MTV-Ästhetik der Pioniere an,
als in den 1980er-Jahren Pop-Ikonen und Avantgardisten den Videoclip als Medium
einer neuen Ausdrucksform entdeckten. Die Kinoversion von „TRIP“ erschließt
angesichts avantgardistischer Vorstöße im Dadaismus, Fluxus oder
der Popart nur bedingt kinematografisches Neuland. Die gleichsam mutige wie
konsequente Umsetzung wirkt im derzeitigen Filmangebot insgesamt angenehm erfrischend.
Frank Mehring
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst 17 (2006)
Trip
- Remix Your Experience
Deutschland
2005
Regie:
Frank Otto, Bernt Köhler-Adams
Drehbuch:
Frank Otto, Bernt Köhler-Adams
Kinostart
(D): 17.08.2006
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